Romània migratoria (Präsentation)





Schlagwörter: Migration , Sprachkontakt , Sprachwechsel , Substrat , Transkulturation

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1. Die Romania

alle Gebiete, in denen romanische Sprachen gesprochen werden
  • in programmatischer Absicht durch die gleichnamige Zeitschrift geprägt, die seit  1872 von Paul Meyer und Gaston Paris herausgegeben wurde (Link)
  • Gaston Paris in der Einleitung des ersten Bandes mit einem historisch-philologischen Kommentar: 

"On tira de Romanus le nom Romania , formé par analogie d’après Gallia Graecia Britannia, etc. L'avénement de ce nom indique d'une façon frappante le moment où la fusion fut complète entre les peuples si divers soumis par Rome, et où tous, se reconnaissant comme membre d’une seule nation, s'opposèrent en bloc à l'infinie variété des Barbares  qui les entouraient. Ce nom était populaire et n'avait pas droit d’entrée dans le style classique; aussi l'époque où il nous apparaît pour la première fois est-elle évidemment bien postérieure à celle où il dut se former ; les textes qui le donnent l'emploient uniquement par opposition au monde barbare devenu l'objet de toutes les craintes, la menace sans cesse présente à l'esprit.
La Romania avait à peine pris conscience d'elle-même qu'elle allait être ruinée au moins dans son existence matérielle." (Paris 1872, 13)

  • Erstbeleg in den Historiae adversus paganos  (416-418, VII, 43, éd. Havercamp. p. 585) des spätantiken Historikers Paulus Orosius ( *385 - † nach 418)
    • im Mittelalter stark rezipierter Text → religiöse Verhältnisse:
    • christliche Romania vs. heidnische Barbaria
  • Subklassifizierungen erst sehr viel später
  • bis heute (vgl. Kaiser 2014, Kap. 4, 82-83, Gabriel/Meisenburg 2017, Kap. 3.1, 50-53) weit verbreitete Dreiteilung von  Carlo Tagliavini 1959:

(1) die Alte Romania, durch Lateinisch sprechende Römer romanisiert
→ lokale / regionale / nationale romanische Varietäten / Sprachen;

(2) die Neue Romania, durch Romanisch sprechende Europäer (mindestens teilweise) romanisiert
→ historisch sekundäre Varietäten aus (1);

(3) die Verlorene Romania ('Romania submersa'), durch Sprecher anderer Sprachen entromanisiert wurden

  • Dreiteilung nicht hinreichend
    → zahlreiche Personen aus (1) und (2) leben nicht dort, wo ihre romanischen Sprachen entstanden sind, sondern in anderssprachiger,  romanischer oder nicht romanischer Umgebung (vgl. z.B. zu Brasilien Veiga 2021 und wikipedia, zu Portugal Observatorio, zu Rumänien IOM Romania, zu Italien Licata 2022)
  • eine weitere Gruppe unterscheiden:

(4) Migrationsromania

aber:

  • Bezeichnung zwar synchron gerechtfertigt
  • jedoch diachronisch inkonsistent
    → (1) - (2) - (3) unscharf abgegrenzt
    → (1) / (2) / (3) migratorisch geprägt
  • Adjektiv migratoria
    ≠ spezifizierend im Sinne von (4)
    = charakterisierend für die Romania als solche

2. Der migratorische Impact

Migration
Formen der Mobilität mit Verlagerung des alltagsweltlichen Lebensmittelpunktes (i) dauerhaft (z.B. Emigration / Immigration, Nomadismus)
(ii) sich saisonal wiederholend (z.B. Transhumanz; vgl. Beuermann 1967Kahl 2008Krefeld 2020ac)
(iii) befristet (z.B. Expats)

außerdem: aktuelle Formen der Migration aus unterschiedlichen, auch frankophonen und lusophonen afrikanischen Ländern, die nicht unbedingt auf Immigration in bestimmte, feste Zielregionen und -kulturen ausgerichtet sind, und die mehrere Monate oder gar Jahre dauern:

"durante il viaggio può costruirsi una percezione di gruppo e una dinamica identitaria che gioca un ruolo importante anche successivamente" (D'Agostino 2021, 136).

  • unklar, (i) oder (iii)
  • Lebensform sui generis, mit modernen, territorial fest institutionalisierten Flächenstaaten schwer vereinbar

Mobilität und Migration

  • ethnographisch und ethnolinguistisch (vgl. Krefeld 2021e) relevant
  • nicht per se konstitutiv für ganze Ethnien
  • unter spezifischen historischen Bedingungen mit ethnogenetischem und/oder glottogenetischem Potential (vgl. Entstehung des Bairischen und Rumänischen)

2.1. Die Alte Romania

enorme territoriale Expansion des Römischen Reichs

"Es war die Leistung des Augustus, viele Einheiten aus verschiedenen Stämmen oder Völkern in das röm. Heer einzugliedern und somit systematisch ein großes Reservoir an Soldaten und mil. Fähigkeiten zu nutzen. [...] Spätestens im 1. Jh. n.Chr. bestanden die meisten a[uxilia]. vermutlich aus Soldaten, die in Gebieten wie Belgica und Pannonia, später auch aus an den Militärlagern angrenzenden Ländereien rekrutiert worden sind. Damit wurde mit Ausnahme einiger spezialisierter Krieger wie den syr. Bogenschützen der homogene ethnische Charakter der a. nach und nach aufgegeben. Im Jahre 23 n.Chr. waren die a. scheinbar ebenso zahlreich wie die Soldaten der Legionen (Tac. ann. 4,5)." (Campbell 2006)

  • Latein weithin, wahrscheinlich sogar vorwiegend nicht L1 sondern als mehr oder weniger gut beherrschte L2
ausgeprägter typologischer Wandel (Latein → Vulgärlatein / Romanisch) in diesem L2-Ambiente selbstverständlich
  • gleichzeitig Transfer kultureller Techniken

→ keine einseitige Akkulturation der romanisierten Bevölkerung an die Römer, sondern ‘Transkulturation’ (vgl. zu diesem Konzept  Ortiz Fernandez 1940 und Krause 2016

vgl.  exemplarisch gall. cĕrĕvĭsia Bier’ (REW 1830) oder gall. *tōma ‘eine Art Käse’ ( REW 8770)

  • romanische Sprachlandschaft von Anfang als stark fragmentiertes Kontinuum lokaler Varietäten konsolidiert

→ ‘Dialekte’ historisch primär
→ älter als die erst seit dem 16. Jh. entstehenden und in diesem Sinne historisch sekundären Standardvarietäten (‘Französisch’, ‘Italienisch’ usw.) und nochmaligen Dachsprachen

2.2. Die Neue Romania

  • seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert Varietäten der Alten Romania nach Amerika und Afrika (Kolonialismus)
  • als ‘portugiesisch’, ‘spanisch’ oder ‘französisch’ zu identifizieren
    • etwaige Inputvarietäten nicht eindeutig bestimmbar (nur regionale Merkmale)
    • Emergenz neuer Varietäten
      neue Romania

Neue Romania

  • auch alte Merkmale der Inputvarietäten konserviert und unter Umständen revitalisiert
  • z.B. die (appellativischen)  Bergnamen morne und piton auf der französischen Insel La Réunion im Indischen Ozean
  • auch Entwicklung von Kreolsprachen auf der Basis der kolonialen romanischen Varietäten
    • diese Kreolsprachen nicht zur Romania gerechnet (vgl. Kaiser 2014, 26-27)
    • in historisch migrationslinguistischer Perspektive zugehörig
    • zwangsweise Migration, Verschleppung afrikanischer Sklaven
    • kommunikativer Druck die afrikanischen Sprachen aufzugeben
      → Bedingungen für selbstverständlichen Erwerb der Kolonialvarietäten nicht gegeben
      → Kreolisierung

Kreolisierung in der Neuen Romania

2.3. Die Verlorenene Romania

  • Sprachwechsel - hier: vom Romanischen zu anderen Sprachen - migratorisch bedingt
  • Phasen mehr oder weniger langer Zweisprachigkeit
  • z.B. die heute niederländisch- und deutschsprachige Romania Submersa
    • deutliche Kontinuität von Orts- und Gewässernamen über den Sprachwechsel hinaus
    • Gegend, in der zahlreiche lateinisch-frühromanische Wörter in die germanischen Varietäten der Immigranten entlehnt wurden (vgl. Krefeld 2020s)
    • komplexe Transkulturation und womöglich - wie im Falle der Bajuwaren - originäre Ethnogese (vgl. Fehr/Heitmeier 2014 (2012),  Steinacher 2018  und Haberstroh/Heitmeier 2019)

Verlorene Romania (Gallia, Germania, Raetia, teilw. Noricum)

  • auch in der Neuen Romania verlorene Gebiete (z.B. Französische in Nordamerika; in Louisiana, Vermont und Maine (französische Namen!) weitestgehend verschwunden

3. Migratorisch induzierte Komplikationen

3.1. Alte Romania in der Verlorenen

3.1.1. Rumänisch

'Alte Romania':  regionale, wenn nicht lokale Kontinuität (Latein → aktuell gesprochenes Romanisch)

im Einzelnen nicht immer selbstverständlich, z.B. Rumänisch (südosteuropäisches
Istrorumänisch)

Südosteuropäisches Romanisch
(‘Rumänisch’) Karte
Gebiet des Imperium Romanum
Istrorumänisch +
Aromunisch +
Meglenorumänisch +
Dakorumänisch +/- 
  • problematisch: Kontinuität des Rumänischen im ehemals römischen Gebiet Rumäniens (Provinz Dacia, 107 n.Chr. - ca. 270 nChr.)
  • ‘klassisches’ Problem der romanischen Sprachgeschichte (vgl. Lüdtke 2005, 415-437, Windisch 1981, Windisch 2020)
    • beträchtliche römische Infrastruktur (vgl. das  exhaustive kartographische Portal der archäologischen Fundstellen vici.org)

römische Infrastruktur in der Provinz Dacia (seit 107 n. Chr.) (interaktive Originalkarte <https://vici.org/#7/45.40492106270213,22.80488766512357>)

Kontinuität im norddanubischen Gebiet (ehemals Dacia) nach der Aufgabe der Provinz um 270 n.Chr. fraglich

  • bereits von antiken Historiographen behauptet (vgl. die Zusammenstellung der Quellen in Brodersen 2020, 196-200
  • heutige Verbreitung eventuell Ergebnis einer sekundären, ‘neuen’ Romanisierung im Verlauf des Mittelalters
  • kein einziger lateinischer Ortsname der Provinz Dacia erhalten
    • radikaler Gegensatz zu großen Teilen der Verlorenen Romania in Nordwesteuropa (deutliches lateinisch-romanisches Namensubstrat, kontinuierliche Nachnutzung der antiken Infrastruktur)
    • z.B. Ortsname Weil  < lat. villa ‘Landgut’ in Süddeutschland exemplarisch zeigt (vgl. Krefeld 2020s, Link)
  • römische Infrastruktur im norddanubischen Dakien nicht kontinuierlich nachgenutzt wurde.
  • allerdings: keine völlige Entvölkerung des ehemaligen Provinz Dacia nach 271 n.Chr.
  • eindeutige Kontinuität von Hydronymen
    • antike Namen ganz überwiegend vorrömischen Ursprungs fort (antike lateinische und/oder griechische Varianten überliefert):
antik   rumänisch ungarisch deutsch
lat. Pathissus, Tisia (Link > Tisa  Tisza Theiß
lat. Crisia (Link > Criș Körös Kreisch
lat. Maris, griech. Μάρισος (Link) > Mureș Maros Mieresch
lat. Tibiscus, griech. Θίβισις (Link) > Timiș Temes Temesch
lat. Alutus (< ? lat. lutum ‘Lehm’; Link) > Olt Olt Alt
  • Hydronyme: über die kurze Zeit der Zugehörigkeit zum Römischen Reich hinweg tradiert
    → kontinuierliche Nutzung des Raums auch jenseits der Infrastruktur nahelegt
toponomastische Diskontinuität /  hydronomastische Kontinuität im ethnolinguistischen Kontext
  • Horizont der substratalen vorlateinischen  Lexik → ethnographisch spezifisches Profil ohne Parallele im Rest der Romania
  • vorlateinische Typen (häufig mit Entsprechungen im Albanischen) in zwei onomasiologischen Bereichen
    • Domäne PASTORALKULTUR (vgl. dazu Dahmen 2020)
    • frequenten Wortschatz aus der Domäne FAMILIE und GEFÜHL

unvollständige Tabellen auf der Grundlage von Russu 1981a:

vorlateinische Wörter aus der Domäne PASTORALKULTUR
SENN dakorum. baciu
istrorum. bațe
aromun. baciu
meglenorum. baciu
alban. batsë, baç
SCHÄFERHÜTTE dakorum. stână
istrorum.  
aromun. stână
meglenorum.  
alban. stan
MELKPFERCH dakorum. strungă
istrorum.  
aromun. strungă
meglenorum. strungă
alban. shtrungë
PFERCH dakorum. țarc
istrorum.  
aromun. țarcu
meglenorum.  
alban thark
LAMM dakorum. daș
istrorum.  
aromun. daș
meglenorum. daș
alban dash HAMMEL
HORNLOS dakorum. șut
istrorum.  
aromun. șut
meglenorum. șut
alban. shut
(LAB)MAGEN dakorum. rînză
istrorum.  
aromun. rîndză
meglenorum.  
alban. rëndës
SÄUERLICH, GELBLICH dakorum. sarbăd
istrorum.  
aromun. salbit
meglenorum.  
alban. tharbët
KÄSEMADE dakorum. strepede
istrorum.  
aromun. strepede
meglenorum. strepij
alban. shrep 'Wurm'
SCHAFZECKE dakorum. căpușă
istrorum.  
aromun. căpușe
meglenorum. căpușă
alban. këpushë
VLIES dakorum. (Moldau) bască 
istrorum.  
aromun. bască
meglenorum. bască
alban. bashkë
SUMPF, TEICH dakorum. baltă
istrorum.  
aromun. baltă
meglenorum. baltă
alban. baltë
ANHÖHE dakorum. măgură
istrorum.  
aromun. măgură
meglenorum.  
alban. magullë

 

vorlateinische Wörter aus der Domäne FAMILIE / GEFÜHL
SÄUGLING dakorum. prunc
istrorum.  
aromun. pruncu
meglenorum.  
alban.  
KIND dakorum. copil 
istrorum.  
aromun. copil 
meglenorum. cópil 
alban. kopil 
GREIS dakorum. moș
istrorum. moș
aromun. moșu
meglenorum. moș
alban. mo(t)shë
FREUEN dakorum. bucura 
istrorum.  
aromun. bucur(are)
meglenorum. bucur
alban. bukurë  SCHÖN
HERD dakorum. vatră
istrorum. vatră
aromun. vatră
meglenorum. vatră
alban. vatrë
    • auch: Bedeutungswandel lat. familia > rum. femeie ‘Frau’ → zentrale Stellung der Frau in der Familie bei Abwesenheit der Männer (Pastoralkultur)
  • geolinguistische  Übereinstimmung: süd- und norddanubische romanische Idiome und zahlreiche albanische Entsprechungen
    • entweder gemeinsames Substrat beider Sprachgruppen
    • oder Entlehnungen genuin albanischer Elemente ins Romanische/Rumänische bzw. in umgekehrter Richtung aus dem Romanischen/Rumänischen ins Albanische
    • bei den Albanern anscheinend keine großräumige Transhumanz entsprechend der stark ausgeprägten rumänischen Tradition (vgl. Beuermann 1967, Kahl 2008, Lucian 2019, Martonne 1904)
    • historische Rückführung aller Spielarten des südosteuropäischen Romanischen/Rumänischen auf eine Kontinuität nördlich der Donau keine plausible Option

toponomastische Diskontinuität /  hydronomastische Kontinuität im ethnolinguistischen Kontext

Szenario: Akkulturation der lateinisch-romanischen Restbevölkerung (nach 270 n.Chr.) an die Reste der vorrömischen (dakischen) Lebensform
= mobile, nomadische oder transhumante Schafzucht in einem weiten Gebiet sowohl nördlich als auch südlich der Donau

  • gesichterte Furten über die Donau auch für große Herden (zum Beispiel in Hârşova, zwischen Cernavodă und Brăila) gesichert; vgl. Nicolae/Nicolae 2006)
  • vor diesem Hintergrund gar nicht sinnvoll, die Frage nach einer genau lokalsierbaren, ortsfesten Kontinuität in der Geschichte des Rumänischen zu fragen

→ ethno- und glottogenetisches Potential einer mobilen und damit migratorischen Alltagswelt

3.2. Neue Romania in der Alten und teilweise Verlorenen Romania

3.2.1. Iberische Halbinsel

  • die romanischen Varietäten, die heute im Gebiet des ehemaligen Imperium Romanum gesprochen werden, nicht ausnahmslos in direkter räumlicher oder gar lokaler Kontinuität zum ursprünglich ‘importierten’ Latein
  • sehr bekannter Fall: die sekundäre und ‘neue’ Verbreitung der  ‘alten’ romanischen Varietäten aus dem Norden der Iberischen Halbinsel in den Süden
Entstehung des Kastilischen – im Unterschied zu den anderen romanischen Varietäten ganz im Norden der Iberischen Halbinsel (Galizisch, Asturisch-Leonesisch, Aragonesisch und Katalanisch) – im Kontext dieser beginnenden militärischen und demographischen Expansion (vgl. Kabatek/Pusch 2009, 258)
  • Sprachwechsel der teils in den Norden geflüchteten Sprecher des primären, ‘alten’ Romanischen (‘Mozarabisch’) zu den sich nach Süden verbreitenden romanischen Varietäten
  • Expansion der Romania durch Migration
    Beginn der ‘neuen’ Romania inmitten der  ‘alten’ und teils verlorenen.

3.2.2. Sizilien

  • Modifikation der Romania durch Migration, z.B. Ansiedelung  galloitalischer Bevölkerung in Süditalien, vor allem  in Sizilien
    • Kontinuum:
      → weitestgehender Erhalt einer importierten galloitalischen Varietät mit entlehnten sizilianischen Merkmalen (z.B. in San Fratello, AIS 817)
      → einzelne galloitalische Merkmalen sizilianischen Varietäten (z.B. San Michele di Ganzaria, AIS 875), vgl. genauer und mit weiterführender Literatur Krefeld 2023e

3.2.3. Sardinien

  • Sprachlandschaft Sardiniens, exemplarisch eine einzige Karte (AIS 892 LA FINESTRA, FENSTER):

Symbole und Legende Th.K., Originalkarte https://navigais-web.pd.istc.cnr.it?map=892&point=938

vier etymologische Typen:

  1. ennigeɖɖu, enniceddu; Typ aus der antiken Romanisierung; Diminutiv von sard. enna ‘Tür’ < lat. ianua ‘Tür’ (vgl. REW  Link)
  2. ventana, vontana; Entlehnung von span. ventana (aus lat. vĕntus ‘Wind’; vgl. REW 9212, Link), jahrhunderlange Zugehörigkeit der Insel zum Königreich Spanien
  3. balkoni, baχχone usw., eine Entlehnung aus dem Genuesischen bzw. Ligurischen, Germanismus < langobard. balko, palko ‘Balken’ (vgl. REW 907, Link); während der ebenfalls langen Zugehörigkeit des nördlichen Teils der Insel zur Republik Genua (vgl. dazu Krefeld 2023d) entlehnt 
  4. fenesta, fronesta usw. < lat.  fĕnĕstra ‘Fenster’, dem kat. und tosk. finestra entsprechen (vgl. REW 3242, Link)
    • Entlehnungen wegen der Zugehörigkeit großer Teile Sardiniens (vor allem des Südens) zur Republik Pisa (vgl. Krefeld 2019ag) und anschließend zum (weitgehend katalanischsprachigen) Königreich Aragón sehr plausibel
    • Variante fronesta mit typisch sardischer Metathese des [r] aus der letzten in der erste Silbe, evtll aus der antiken Romanisierung (keine toskanischen oder katalanischen Parallelen; vgl. ALDC, II, Karte 240, Link). 
  • über das punktuelle Beispiel hinaus:
    • Dialekt der sardischen Stadt Sassari massiv genuesisch beeinflusst wurde (vgl. Toso 2019c
    • )der Norden Sardiniens (sogenannte Gallura) durch zahlreiche Einwanderer aus Korsika geprägt (ebenfalls jahrhunderlang zur Republik Genua gehörig)
    • katalanische (Alghero) Sprachinsel
    • genuesisch/ligurische Sprachinsel (Carloforte und Calasetta; vgl. Toso 2017a)

3.2.4. Sepharden

  • neue Romania in Europa: auch die Varietäten der spanisch- und portugiesischsprachigen Juden, die 1492 aus Spanien und 1497 aus Portugal vertrieben wurden (Sepharden oder Spaniolen)
  • in zahlreichen Städten in Nord- und Südosteuropas aber auch in Nordafrika und (teils über den niederländischen Umweg) auch in Südamerika an (vgl. allgemein Brenner 2019, 112-136, Bossong 2008b und  Sephiha 1997a
  • deutliche Varianz durch Entlehnungen aus den ganz unterschiedlichen Kontaktsprachen der jeweils neuen Wohngebiete (vgl. den geolinguistischen Überblick in Quintana Rodríguez 2006 sowie Arnold 2006

sephardische Gemeinden im Osmanischen Reich (Zuflucht für viele):

    Quelle https://fr.wikipedia.org/wiki/S%C3%A9farades#/media/Fichier:Jewish_east_mediterranea.svg

3.3. Neue Romania in der Neuen

Die argentinische Provinz Misiones

    • massive Einwanderung sowohl aus Paraguay als auch aus Brasilien
    • Kontaktvarietäten des Spanischen und des Portugiesischen mit Einflüssen ganz anderer Sprachen wie Guaraní und Hunsrücker Dialekt (ausgeprägte Mehrsprachigkeit der Immigranten)

4. Fazit

  • Romania = Produkt vielfältiger und bis heute andauernder Migrationsprozesse
  • sprachliche Dynamik durch die Dreiteilung ‘alte’, ‘neue’ und ‘verlorene’ Romania nicht hinreichend abgebildet
    • explizit historisch und implizit räumlich fundiert
    • inkonsistent
  • klassifikatorische und methodologische Konsequenzen
    • Klassifikation : räumliche Dimension in den Vordergrund

  • Methodologie (hier nicht ausdrücklich thematisiert)
  • Basis der Beschreibung
    ≠ Varietäten und Sprachen (als Systeme)
    = mehrsprachige Kompetenz der involvierten Sprecher*innen
Romania
≠ ‘geographisches’ Mosaik von Varietäten/Sprachen
= alltagsweltliches Miteinander von Personen mit unterschiedlichen und varieiierenden RepertoiresSprachliche Räume = kommunikative Räume (vgl. Krefeld 2004a, 19-36)

  • von den Sprechern in der Kommunikation konstruiert
  • von den Linguisten unter Beachtung  eben dieser Sprecher rekonstruiert

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