Ein Gespräch über Berge und Kultur

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  1. Referenz auf den gesamten Beitrag:
    Elmar Schenkel & Christian Trepte (2021): Ein Gespräch über Berge und Kultur, Version 1 (31.05.2021, 16:33). In: Stephan Lücke & Noemi Piredda & Sebastian Postlep & Elissa Pustka (Hrsgg.) (2021): Linguistik grenzenlos: Berge, Meer, Käse und Salamander 2.0 – Linguistica senza confini: montagna, mare, formaggio e salamandra 2.0, Version 1. In: Korpus im Text, url: http://www.kit.gwi.uni-muenchen.de/?p=75030&v=1
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ES:  Lieber Christian, hier sitzen wir wieder einmal und sprechen lieber über Dinge, als unser gemeinsames Buch zu schreiben. Prokrastinanten, die wir sind!

CT: Das macht übrigens auch mehr Spaß und hilft beim Lesen. Kommen wir nicht über Gespräche doch besser sowohl an die Gegenstände als auch an die Leser heran. Ein Gespräch ist eine Annäherung und legt nicht alles von vornherein fest, wie es oft ein Vorwort macht und wir sollten auch nicht in einer Art Kurzform allein nur die einzelnen Beiträge unseres Bandes vorstellen. Des Weiteren ermöglicht uns ein solches Gespräch auch einen persönlicheren Zugang.

ES: Und wir sehen die Dinge gleich von zwei Perspektiven aus. Wenn ich das Thema unseres Seminars über Berge – gemeinsam zwischen Anglistik und Slawistik – vergleiche mit dem früheren Seminar, das wir über Flüsse gemacht haben, so fällt mir zunächst auf, dass Flüsse vielleicht doch zentraler in der Kultur sind als Berge. Warum ist das wohl so?

CT: Nun, ich denke, dass Flüsse eher Lebensadern sind, an denen sich menschliche Kultur seit Urzeiten angesiedelt hat. Erst dann sind sie auch als wichtige Verkehrs- und Transitwege zu betrachten. Flüsse spenden das lebensnotwenige Wasser, u.a. im alten Mesopotamien, im Tal des Nils und des Jordans, in Mittelasien in den Tälern des Syrdarja und des Amudarja, ja und nicht zu vergessen Afrika mit seinen großen Strömen. Heute zählt Wasser zunehmend zu den wichtigsten und hart umkämpften Ressourcen. Denken wir nur an den fast versiegenden Jordan…. Berge haben dagegen eine andere Dimension, sie streben auf zum Himmel und scheinen auch den Göttern besonders nahe zu sein. Sie gelten als Sitz von Göttern und anderen höheren Wesen, hier scheint der Mensch einen gewissen Einblick in das Göttliche erhalten zu können. Grund genug für Völker (wie die frühen christlichen Anachoreten) wie auch für Individuen (Eremiten und Heilige) die Einsamkeit der Berge in göttlich-spiritueller Nähe zu suchen. Berge können aber auch schützende Wächter sein; sie bilden natürliche Grenzen, wie z.B. der Ural zwischen Europa und Asien. Allerdings kommt diesem Gebirgszug lediglich im geographischen Sinne eine besondere Bedeutung zu. Die Alpen bildeten dagegen eine klimatische und zivilisatorische Grenze, die zunächst als nur sehr schwer zu überwinden galt. Man denke allein nur an Hannibal und seine legendären Elefanten… Gebirge trennen nicht selten auch Reiche voneinander, ihnen kommt aber oft auch eine besondere militärische Bedeutung zu: „Wer die Höhen besitzt, beherrscht die Täler.“ Denken wir an die Kämpfe bei den Thermopylen, die Schlachten im Kaukasus, im Apennin und an die „Alpenfestung“, hinzu kommen die umkämpften Golanhöhen oder die Schlacht um die Bergfestung Tora Bora in Afghanistan…

ES: Berge können etwas Unheimliches, Rätselhaftes, Abweisendes und schwer Überwindbares darstellen.

CT: Aus der Sicht der großen Zivilisationen in Flussebenen (Mesopotamien, Nil) galten die Gebirge als unheimlich, voller Gefahren. Ihre wilden, unzivilisierten Bewohner wurden als gefährlich und barbarisch angesehen: „Dem Babylonier ist das Gebirge unheimlich und böse“. Bei den Sumerern hieß ein gefährliches mythisches Ungeheuer „Kur“, dessen Name gleichbedeutend mit „Berg“ war. Berge sind Schauplätze von Mythen, Sagen und Legenden, zugleich aber auch Zufluchtsorte für Flüchtlinge, Aussätzige, Verstoßene und Verfolgte. Denken wir nur an den Berg Musa Dagh, der auch durch Franz Werfels berühmten Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh (1933) über den Völkermord an den Armeniern bekannt wurde. Ein Hindernis für den Verkehr waren hohe Berge und Gebirgsmassive generell: die Alpen, der Kaukasus, die Pyrenäen, die Rocky Mountains oder die Anden.

ES: Der Anthropologe Jared Diamond hat ja sogar die Theorie aufgestellt (in Guns, Germs and Steel), dass die Bergketten in Mittel- und Südamerika die Ausbreitung bestimmter Pflanzen sowie technischer Errungenschaften verhindert haben, so dass dort, im Gegensatz zu Europa/Asien kein Daten-, Samen- oder Technikfluss möglich war. Das Rad konnte sich nur ausbreiten, weil es große Steppengebiete zwischen Europa und Asien gibt.

CT:  Berge stellten aber auch eine Gefahr und Herausforderung für kühne Bezwinger, Bergsteiger und Sportler dar. Gefürchtet sind bis heute Stein-, Schlamm, Eis- und Schneelawinen. Berge sind des Weiteren häufig Sitz von Wegelagern und Räubern, von hier aus agieren oft aber auch Widerstandskämpfer und Partisanen.

ES: Nicht zu vergessen, der „Alte vom Berge“ im Libanon, der seine Kämpfer mit Haschisch abfüllte und sie dann zu Mordtaten losschickte. So zumindest die Legende über die Haschischinen – die assassins (die Attentäter, Überfallende) wie sie dann auf Französisch wurden – eine Geschichte, die seit der frühen Neuzeit kolportiert wurde. Eine Verbindung von Bergen mit fanatischen Sekten.

CT: Ob sie stimmt oder nicht: Das Heilige ist ja oft gefährlich und nicht selten für „Irdische“ schwer zugänglich. Denken wir an die wagemutigen Bergbesteigungen z.B. im Himalaya, an die „Todeszone“ Mount Everest oder an die Besteigung des höchsten der fünf heiligen Berge in China, des Huashan. Der Südtiroler Reinhold Messner ist durch die Besteigung aller Achttausender bereits

ES: …selbst ein Achttausender geworden! Ein moderner Rübezahl und Berggeist, der Museen in die Berge setzt. Die Reklame spielt gerne mit seinen Gesichtsfurchen, als seien es die Faltungen des Himalaya selbst. Messner ist, mit Roland Barthes zu sprechen, ein Mythos, das heißt er ist selbst zu einem Teil der Natur gemacht worden. Dennoch, er ist auch von einer Aura der Gefahr, der Nähe des Todes umgeben. Warum? Weil er sich in verbotenen Regionen aufgehalten hat. Das Verbotene ist auf griechisch anathema – und zugleich bedeutet es das Sakrale. Die frühen Erscheinungen der Berge in der Literatur und im Mythos scheinen auf diese Doppeldeutigkeit hinzuweisen.

CT: Man nehme allein nur die biblischen Berge, die ja auch in unserem Band vertreten sind. Wie bereits gesagt, scheinen Berggipfel den Göttern näherzustehen. Aber hier ist der Mensch zugleich auch besonders exponiert, der Macht und den Kräften der Natur besonders ausgesetzt. Fast alle bekannten Religionen kennen solche heilige Berge. Beispielsweise der Ararat, der heilige Berg der Armenier, der sich heute nicht mehr auf armenischem Staatsgebiet befindet und trotzdem auch weiterhin das armenische Nationalsymbol bleibt. An seinen Berghängen soll nach der Sintflut Noahs legendäre Arche gestrandet sein… Oder denken wir an Moses und seine steinernen Gesetzestafeln auf dem Berge Sinai, die heiligen majestätischen Berge in Tibet mit dem Weltenberg Kailash, dem „heiligsten Berg der Welt“, oder aber an die Vulkanberge als Hort von Feuergöttern… Aber denken wir auch an die sagenumwobenen Berge in unserer Heimat wie den Bieleboh und Czorneboh in der Oberlausitz mit ihren engen Bezügen auf die slawisch-sorbische Mythologie. Davon zeugen ja bereits ihre slawischen Namen. Der eine, der Weiße Berg, ist Sitz eines guten Gottes, möglicherweise identisch mit dem slawischen Sonnengott Svantevid. Der andere, der Schwarze Berg, ist Sitz eines dunklen, bösen Gottes. Göttererscheinungen gehen oft einher mit Licht, Feuer und Flammen… Seit Menschengedenken faszinieren uns feuerspeiende Berge, Vulkanausbrüche werden bis heute, u.a. bei indigenen Völkern, häufig als Ausdruck des Zorns von Göttern gedeutet. Denken wir in diesem Zusammenhang nur an den Ätna oder Vesuv und die unterschiedlichen mythologischen Bedeutungen und Zuschreibungen.

ES: Ja, als Moses vom Berg Sinai herabstieg, muss er verbrannt ausgesehen haben. Ich glaube, Hollywood hat das gut hingekriegt in der Verfilmung. Bis in die Philosophie hinein haben Vulkane ihre Spuren hinterlassen. Bekanntlich soll sich ja der vorsokratische Philosoph Empedokles hineingestürzt und dabei seine Schuhe hinterlassen haben. Vulkane sind auch in  Literatur und Film immer wieder anzutreffen. Malcolm Lowrys Under the Volcano, Joseph Conrads Victory, in Tolkiens Herr der Ringe, oder der Gold speiende Vulkan in Jules Vernes Der Goldvulkan. Ein Fall für Dagobert Duck. Da fragt man sich unwillkürlich, welche Rolle spielen Berge in Entenhausen und Umgebung. Ein Donaldist könnte uns sicher eine Antwort geben, die gar nicht so sehr abwiche von denen, die wir hier gerade zusammenstellen. Entenhausen ist doch ein getreues Abbild der Mythen dieser Welt.

Um noch einmal auf die Flüsse zu kommen. Sie verbinden horizontal, das heißt sie sorgen für den Kontakt zwischen den Menschen. Die Berge stehen für den vertikalen Bezug von unten nach oben, von den Menschen zu den Göttern. Der Turm von Babel war auch nur ein besonders hoher Berg. Nur war er von Menschen gemacht. Und Gott wollte nicht von diesem Berg berührt werden. Gott muss die Berge kontrollieren, das heißt das Verhältnis von unten und oben. Oben definiert, was unten ist. Was hat es eigentlich mit den Göttern und Bergen in der slawischen Welt auf sich?

CT: Den Bergen kommt bei den slawischen Völkern, die häufig Tieflandbewohner sind, eine besondere Bedeutung zu. Ähnlich wie bei den Iren gelten schon Anhöhen, Hügel und Steilküsten als Berge. In der böhmisch-tschechischen Gründungslegende schaute, so der Chronist Cosmas von Prag, der Urvater der Tschechen, Čech (Tschech) vom Berg Říp (Sankt Georgsberg) über das von Gebirgen umsäumte paradiesisch anmutende böhmische Land. Und so beschloss der tschechische Urvater, ganz von der Schönheit des Landes angetan, hier zu bleiben und Land zu nehmen. Seine slawischen Brüder Lech und Rus zogen dagegen weiter… Eine besondere Bedeutung kommt dem Berg und der Gottheit Triglav (Dreikopf) zu. Triglav (auch Triglaw oder Triglaff) wurde sowohl von den heidnischen Pommeranen (Stettin, Wollin), den Sorben/Wenden, als auch von den Südslawen verehrt. So ist der Triglav (2864 m) mit seinen drei Spitzen der höchste Berg Sloveniens und das Nationalsymbol des Landes. Der Berg gilt des Weiteren auch als der Sitz der höchsten heidnisch-slawischen Gottheit mit drei Köpfen, der eine beherrscht den Himmel, der zweite die Erde und der dritte das unterirdische Reich.

Eine besondere Bedeutung kommt der mythischen Tempelburg der slawischen Ranen (Rugier) von Kap Arkona auf der Insel Rügen zu, in der der vierköpfige (!) Hauptgott Svantevid residierte. Nach der Eroberung der slawischen Burg durch die christlichen Dänen unter König Waldemar I in Jahre 1168, wurde der Burgtempel ebenso wie der „heidnische Götze“ zerstört.

ES: Ich denke auch an den Sitz der Götter in anderen Kulturen, so die Götterberge des Himalaya, der Fujiyama und viele andere. Die Berge reichen in eine andere Welt hinein. Man sieht es auch an den vielen magischen Schutzformeln, den Legenden, die sich um die Berge weben. Zähne der Elfen!

Ich denke, wir sollten auch die künstlichen Berge nicht vergessen, die Wolkenkratzer und Türme. Sie sind Machtsymbole und suggerieren die Nähe zu den Göttern. Auch sprachlich privilegieren wir das Hohe: man „ist auf der Höhe der Zeit“, „das ist zu hoch für mich“, „hohe Tiere“, „Hochzeit“ sind alles Ausdrücke, die zeigen, wie sehr wir metaphorisch die Höhe nutzen. Nietzsches Philosophie hat auch Hochgebirgsformat, denn er will ja mit seinem Zarathustra Prophet der Zukunft sein. Wahrscheinlich war Nietzsche so von der Höhe angezogen, weil er in einem extrem flachen Land geboren wurde, in Röcken bei Lützen. Nichts als flache Felder. Der Eiffelturm ist eine in die Vertikale gewendete Brücke und schon zu einem Mythos geworden. Hokusai malte die 36 oder mehr Ansichten des Fujiyama, Henri Rivière die 36 Ansichten des Eiffelturms. Er war bald wie mancher natürliche Berg von Legenden umgeben. Maupassant hasste ihn und doch nahm er oft sein Mittagessen oben auf dem Turm ein. Warum? Weil, so sagte er, dies der einzige Ort in Paris ist, wo man ihn nicht sehen kann. Kann auch eine Legende sein. Erzählst du uns noch etwas über slawische Berglegenden?

CT: Legendär sind unter anderem die Berge des kleinsten Hochgebirges Europas in der Hohen Tatra. Zu ihnen gehört der Giewont (1895 m), wegen seiner charakteristischen Gestalt auch „der schlafende Ritter“ genannt. Der Legende nach bewacht er nicht nur Zakopane, sondern ganz Polen. In Zeiten höchster Not wird er aufstehen und dem bedrohten Land und seinen Menschen zur Hilfe eilen. Eine Ähnlichkeit zur Legende über Kaiser Barbarossa im Kyffhäuser scheint gegeben. In etwa der Mitte (Nieder)Schlesiens befindet sich der Zobtenberg (Ślęża oder Sobótka), zuweilen auch „schlesischer Olymp“ genannt. Der Chronist Thietmar von Merseburg berichtet bereits, dass dieser Berg wegen seiner „Größe und Bestimmung große Verehrung“ entgegengebracht wurde, eben weil dort „verfluchte heidnische Bräuche stattfanden“. Dazu gehören bis heute die aus heidnischen Zeiten stammenden Bräuche zur Sonnwendfeier (sobótka). Der bekannte tschechische Maler Alfons Mucha gestaltete in seinem Gemäldezyklus „Slawischen Epos“ (Slovanská epopej) u.a. „Die Feier des Svantevid auf Rügen“ (1919). Hinzu kommt sein Gemälde „Im Kloster auf dem Berg Athos“ (1926). Der griechische Berg Athos, den der Künstler 1924 selbst besucht hatte, galt als wichtiges Ziel ost- und südslawischer Pilger.

ES: Vielleicht lebt diese Dämonisierung noch im Christentum fort. Wir wissen ja, wie schwer es Petrarca fiel, als er von seiner Besteigung des Mont Ventoux (ob sie nun wirklich stattgefunden hat oder nicht), schreibt. Da, es soll um 1336 gewesen sein, hat er eine grandiose Sicht über das ganze Land der Provence, er ist sozusagen den Göttern gleich. Doch sobald überkommen ihn Reue und Zweifel und er zitiert den Heiligen Augustinus, der von der Bewunderung von Landschaft abrät. Übrigens ist „Ventoux“ nicht der windreiche Berg, wie es die Volksetymologie weiß, sondern enthält mit der Silbe vent ein altes ligurisch-keltisches Wort für Berg. Pen oder Ben sind damit verwandte britische Bergbezeichnungen –

Yeats’ Ben Bulben  oder der schottische Ben Nevis. Mont Ventoux heißt also Bergberg.

CT: Petrarcas Aufstieg bildet ja den Auftakt zu unseren Bergwandervereinen. Von nun an, wenn der Bann erst einmal gebrochen ist, kann man in die Berge gehen und genießen: „Auf der Oberhofer Höh“ sang der Thüringer Interpret volkstümlicher Musik, Herberth Roth, dessen „Rennsteiglied“ zu einer Hymne über den Thüringer Wald geriet. Oder der Harz mit seinen zahlreichen Legenden und Sagen. So gilt dieses schroffe norddeutsche (Mittel)Gebirge als Rückzugs- und Zufluchtsort überirdischer, teuflischer Wesen, von Berggeistern, Zwergen und Hexen. Nicht zu vergessen die legendäre bis heute ungemein beliebte Walpurgisnacht oder die Sage von der Roßtrappe, dem legendären Sprung der Königstochter Brunhilde mit ihrem Pferd auf der Flucht vor dem Riesen Bodo über das tiefeTal des Bode-Flusses. Bis heute gelten die Tschechen, Slowaken, aber auch die Polen als begeisterte Wanderfreunde. Der enge Bezug zur Natur, vor allem auch zur Bergwelt, stand in einer engen Verbindung zur nationalen Wiedergeburt, zur Nationswerdung, die in die Zeit der Romantik fiel. In diesem Zusammenhang gewannen Berge zunehmend auch an nationaler Bedeutung, um sie entstanden nationale Legenden, über sie wurden patriotische Geschichten erzählt. Ja und bis heute „ruft der Berg“, ruft er immer wieder seine Liebhaber, Bewunderer, Sportler wie Touristen und Bergsteiger zu sich…

ES: Da kommen mir Luis Trenker und Leni Riefenstahl mit ihren Bergfilmen in den Sinn – die ja nicht nur bei den Nazis sehr beliebt waren. Was spiegelt dieses Abarbeiten an den Bergen in den 1920er und 1930er Jahren eigentlich wider? Ist es die Herausforderung, vor der man sich politisch, sozial und psychologisch sah? Ist es die Herausbildung von ‚germanischen’ Tugenden wie Härte, Loyalität, Nibelungentreue? Romantische Verblendung, Nostalgie, in einer Zeit, als die Technisierung und Bürokratisierung immer umfassender wurden? Ich denke auch die Biographie eines Heinrich Harrer, der im Himalaya kletterte und Sieben Jahre in Tibet schrieb, gehört hierher, denn er war ja dem Naziregime treu ergeben.

All das sind letztlich Produkte der Romantik und der Alpenbegeisterung.

Lustigerweise ist aber der erste Alpenverein in einem Land entstanden, das sich nicht unbedingt hoher Berge rühmen kann: Großbritannien. Aber Höhe ist selbstverständlich relativ. Deshalb kann der Ben Nevis in Schottland oder der Snowdon in Wales schon zu einer großen Herausforderung werden. Die Romantik ist jedenfalls nicht ohne die Berge zu denken. Und die Schweiz ist nicht ohne die Romantik zu denken. Conan Doyle lässt seinen Detektiv Sherlock Holmes vor einer großen Alpenkulisse in der Nähe von Interlaken vorübergehend verschwinden. Mary Shelleys Monster zieht durch das Gebirge, William Turner malt wie im Rausch in den Alpen. Percy B. Shelley bedichtet den Mont Blanc

CT: Dem zwischen Frankreich und Italien gelegenen Mont Blanc kommt übrigens auch im polnisch-nationalen Kontext eine besondere Symbolik zu. So wird im patriotischen Drama Kordian des polnischen Romantikers und Nationalschriftstellers Juliusz Słowacki der Mont Blanc zum Ort einer besonderen Wandlung. Hier, in der gesuchten Nähe zu Gott, findet der zentrale Held seine Idee von einem freien, unabhängigen Polen. Hier verkündet er in einem Monolog seine prophetische Auffassung, dass Polen, ganz in Anlehnung an den legendären Schweizer Nationalhelden, Arnold Winkelried, der durch sein Opfer erst den Sieg der Eidgenossen gegen die österreichischen Unterdrücker ermöglichte, „zum Winkelried unter den Völkern“ werde…

ES: Was ist eigentlich deine erste Begegnung mit den Bergen gewesen? Hast du Lieblingsberge?

CT: Berge gehören für mich, sicher auch bedingt durch meine Sozialisation in der DDR und meinen seinerzeit ausgeprägten Mauerkomplex, zu den Sehnsuchtsorten. Von hier aus konnte man in andere Landschaften, Länder und Kulturen hineinschauen, zunächst von den Gipfeln des heimatlichen Erzgebirges aber auch der Sächsischen Schweiz weit hinein ins böhmische Land, später von den Thüringer Gipfeln, den Bergen im Vogtland und der Rhön hinüber ins unerreichbare Westdeutschland, nach Bayern und Hessen hinein…. Dann kamen durch Reisen ins „sozialistische Ausland“ die Karpaten in Rumänien, das Balkangebirge in Bulgarien und der großartige Kaukasus in der Sowjetunion hinzu. Erwähnen möchte ich aber auch eine immer wieder von meinem Großvater erzählte Familiengeschichte vom Königssee und dem majestätischen Schicksalsberg, dem Watzmann in den Berchtesgadener Alpen. Dorthin reiste mein Großvater mit meiner Großmutter und meiner Mutter als Kind vor dem Zweiten Weltkrieg. Die Faszination dieser Berge spielte in den Familiengeschichten eine zentrale Rolle. Nach dem demokratischen Umbruch in der DDR fuhr ich schließlich mit meiner Mutter an diesen Ort der Sehnsucht und des Fernwehs. Wir fuhren über den Königssee nach St. Bartholomä und bestaunten dort das majestätische Watzmann-Massiv im malerischen Hintergrund. Ja, für mich bleiben als weitere Sehnsuchtsberge wahrscheinlich die Anden… Wie ist es bei dir?

ES: Meine erste Begegnung mit Bergen? Ich bin im Flachland aufgewachsen, zu meinem kindlichen Kummer. Die nächsten Berge lagen im Sauerland. Von uns aus sah man zwei Erhöhungen: die Beckumer Berge im Norden und den Haarstrang im Süden. Dazwischen murmelten wir und mussten uns auf Miniberge beschränken. Der wichtigste war daher der Romberg in unserem Dorf, 20-30 m hoch. Dort gab es im Winter ein Schlittengebiet, das Jammertal und die Mergelgrube (heute alles mit Müll zugeschüttet) mit ihrer Todesbahn. Für den Höhenrausch reichte das allemal. Als Pfadfinder verbrachte ich Wochen im Sauerland, das war sehr romantisch. Der Kahle Asten! Über 800m! Mit 14 stieg ich auf das Fahrrad und durchfuhr den Teutoburger Wald. Das Hermannsdenkmal und die Externsteine, damals Pflichtausflüge für die Schulen, kennzeichneten eine Höhe, die auch politisch und symbolisch besetzt war, was wir natürlich nicht merkten. Hermann der Cherusker schaut drohend nicht zu den Römern, sondern nach Westen zu den Franzosen. Als ich in Freiburg lebte, waren die Erhebungen des Schwarzwaldes meine Inspiration: Schauinsland, Bärental, Feldberg. Der Blick zum Kaiserstuhl und in die Vogesen. Von Tübingen aus erkundete ich die Schwäbische Alb mit ihrer alten Geschichte, ihren Höhlen und Figuren. Vulkane waren meine späteren Ziele: Vesuv, Ätna, Stromboli, Vulkane in Japan. Eine besondere Beziehung habe ich zu dem südindischen Berg Arunachala, auf dem ich einst nächtigte. Da flackerten Feuer vor der Höhle eines Swami, da hörte man das Murmeln von Pilgern. Ich denke, wenn wir von Bergen reden, müssen wir auch vom Pilgern reden, von der Annäherung an das Heilige.

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