Glossotope statt Isoglossen. Zum Paradigmenwechsel in der Geolinguistik

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Schlagwörter: kommunikativer Raum , digitale Medien , Geolinguistik , Sprachgrenze

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    Thomas Krefeld (2019): Glossotope statt Isoglossen. Zum Paradigmenwechsel in der Geolinguistik, Version 5 (28.02.2019, 11:33). In: Korpus im Text, Serie A, 13679, url: https://www.kit.gwi.uni-muenchen.de/?p=13679&v=5
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Die Vielfalt und Variabilität der menschlichen Sprachen bildet sich auf ganz selbstverständliche Weise im Raum ab. Daher lag  der Versuch, die Sprachverschiedenheit analog zu anderen räumlichen Parametern wie etwa Besiedlungsverhältnissen, Bodenformationen, Klimazonen usw. kartographisch, in Gestalt von Atlanten darzustellen von vornherein  nahe (vgl. Rabanus 2005, Lameli 2009); er entfaltete sich seit Wenker 18811 zu einer der erfolgreichsten, methodisch kontinuierlich weiterentwickelten  und bis heute verfolgten Forschungslinien.  

1. Geographie und Sprache - die Isoglosse

Als ein grundlegendes Konzept der Sprachkartographie und damit der Sprachgeographie etablierte sich bald die 'Isoglosse'. Mit diesem Ausdruck wird die Linie bezeichnet, die den Rand des Verbreitungsgebiets eines einzelnen sprachlichen Merkmals markiert (vgl. Lang 1982, 65-71, und König 2009, 139). Schon einer der Pioniere der Dialektgeographie, Carl Haag (vgl. Haag 1898 und dazu Schrambke 2009 98 ff. ), hat ein bis heute gültiges Verfahren zur geometrisch exakten Linienführung entwickelt (vgl. dazu Goebl 2005, 503), das im Folgenden kurz umrissen wird:  In Sprachatlanten wird das jeweils erfasste Sprachareal durch ein Netz von Punkten repräsentiert, an denen Daten erhoben wurden. Die Verbreitungsränder müssen also zwischen den Punkten verlaufen, deren Ortsdialekt das jeweilige Merkmal aufweist und denjenigen, wo es fehlt. Das Verfahren besteht nun darin, das fragliche Gebiet lückenlos in Polygone aufzuteilen, so dass jedem Erhebungspunkt ein Polygon entspricht; die Ränder verlaufen dann nicht irgendwo zwischen den Punkten, sondern stets entlang dieser genau bestimmten, in der Graphik blau gezeichneten Polygonlinien. Die unter den Namen Voronoi, Thiessen oder auch Dirichlet bekannte Vorgehensweise lässt sich am Beispiel der folgenden 5 Punkte illustrieren: 

Voronoi-Thiessen-Polygon (https://de.wikipedia.org/wiki/Voronoi-Diagramm#/media/File:Thiessen-Polygon.svg)

  • Der Punkt 0 wird mit den benachbarten Punkten (1-5 ) verbunden (schwarze Linien);
  • daraus ergeben sich Dreiecke; über die Seiten dieser Dreieckslinien werden die Mittelsenkrechten (blaue Linien) gefällt, die sich bei jedem Dreieck in einem Punkt treffen;
  • diese Schnittpunkte werden miteinander verbunden und bilden ein Polygon, in dessen Zentrum der Ausgangspunkt (hier: Punkt 0) liegt;
  • die Polygone, in denen ein Merkmal verbreitet ist, kann man zur Visualisierung farbig unterlegen (hier nur Punkt 0), so dass die Gebiete und ihre Ränder gezeigt werden.

Ein konkretes Beispiel, die Variation des sizilianischen Art. Mask. Sg. lu vs. u (in IL SANGUE 'das Blut'; AIS 88) soll die stark schematisierende und auch idealisierende Wirkung von Isoglossenkarte zeigen;

Variation des sizilianischen Artikels Mask. Sg. lu vs. u in AIS 88 IL SANGUE ‚das Blut‘

Während die Erhebungsorte im Ausschnitt der analytischen Originalkarte den empirisch angemessenen Eindruck einzelner Punkte vermitteln, suggeriert die Isoglossenkarte die Existenz eines zusammenhängenden, kompakten Verbreitungsareals.

 

Variation des sizilianischen Artikels Mask. Sg. lu vs. u in AIS 88 IL SANGUE 'das Blut' auf einer Isoglossenkarte

Das Verfahren der "Parkettierung" (Goebl 2005, 503) der Kartenfläche in Polygone eignet sich in besonderem Maße für die kumulierte Visualisierung mehrerer, auch sehr zahlreicher Merkmale; es ist daher grundlegend geworden für den quantitativen Vergleich, die 'Vermessung' von Dialekten in  der Dialektometrie, die vor allem durch Hans Goebl und Roland Bauer zu einer eigenständigen Subdiziplin elaboriert wurde.

Nicht selten wird der Ausdruck 'Isoglosse' jedoch von seiner geometrisch exakten Fundierung gelöst und auch entsprechend 'großzügig' auf Karten notiert, so etwa in der berühmten Karte von Gerhard Rohlfs 1937 (vgl. die Version auf Polygonbasis in Krefeld 2016).

Unabhängig von der Linienführung beziehen sich Isoglossen immer auf Einzelmerkmale und zeigen daher keine 'Sprachgrenzen'; dieser Schluss ist selbst im Fall von mehreren Isoglossen mit identischem Verlauf ('Isoglossenbündel') nicht ohne weiteres zulässig.

Festzuhalten bleibt jedoch die Entstehung und Verankerung des Konzepts der Isoglosse im Kontext der traditionellen Sprachkartographie; Ziel ist die statische Dokumention von Merkmalen lokaler sprachlicher Systeme ('Dialekte'); Isoglossen sollen gewissermaßen die Tektonik der Sprachlandschaft freilegen.  Damit liegen jedoch auch die Grenzen bereits auf der Hand: dieses Instrument bedient ein  reduktionistisches Raumverständnis, das vollkommen untauglich ist, einen Einblick in die Dynamik und 'Ökologie' der Sprecher- und Sprechlandschaft zu geben.  Isoglossen sind deshalb zwar geeignet zu zeigen, dass sprachliche Formen charakteristisch für einen Ort oder ein Areal sind; doch damit wird die Räumlichkeit gleichzeitig zu einer vollkommen sprachexternen, gewissermaßen zufälligen Dimension. In Wahrheit unterlag jedoch auch das Material, das uns die Atlanten liefern, stets der Selektion der Informanten und ist daher bereits ein Produkt der Sprechervariation  - in vielen Fällen hätte sich der Informant wohl auch anders ausdrücken können.

2. 'Sprach'geographie - und die Sprecher

Gute Atlanten machen daher auch einige grundlegende biographische Angaben über ihre Informanten (vgl. z.B. die 'Aufnahmeprotokolle' zu den AIS-Erhebungen in Jaberg & Jud 1928, 37-139).  Diese für die diatopische Interpretation der Daten wichtigen Informationen werden bei der Extraktion von Isoglossen abgeschnitten. Die Problematik soll an zwei ganz unterschiedlichen Beispielen illustriert werden. 

2.1. Entlehnung in der Sprache oder zweisprachige Kompetenz des Sprechers?

Zunächst ein phonetisches Beispiel aus dem 'sprechenden' ALD-I; dieser Audio-Atlas des Dolomitenladinischen sowie seiner angrenzenden romanischen Mundarten ist als exemplarische Ergänzung der Printversion gedacht und insofern nachgeordnet. Erfasst werden aber immerhin 21 Ortspunkte (von insgesamt 217), die den Kernbereich des Dolomitenladinischen rund um das Sella-Massiv repräsentieren (Val Badia | Abteital, Gherdëina | Grödnertal, Fascia | Fassatal, Fodom | Buchenstein, Anpezo | Cortina d'Ampezzo). Es handelt sich um die Orte, die auf der Grundkarte durch den "limite della Ladinia brissino-tirolese" (gepunktete Linie) abgegrenzt werden:

/var/cache/html/dhlehre/html/wp content/uploads/2016/06/1464849875 ALD ladinia Brissino Tirolese

Die 'ladinia Brissino Tirolese' gemäß Netz des ALD

In den drei Aufnahmenorten des Grödnertals | Gherdëina (Punkte 86, 87, 88) wird für ALD 678: il sacco / i sacchi im Singular ein identischer phonetischer Typ, nämlich l sak notiert:

/var/cache/html/dhlehre/html/wp content/uploads/2016/05/1464721794 ALD 678 il sacco GrodnTal

Der ALD Stimulus 'il sacco - i sacchi' im Grödnertall

Der auditive Eindruck der identisch transkribierten Belege ist jedoch keineswegs identisch, denn in ALD Punkt 86 (Bula) und ALD 87 (Santa Cristina) wird der auslautende Konsonant der Singularform deutlich aspiriert, so dass [-kh] zu notieren wäre - ganz im Unterschied zu Punkt 88 (Sëlva), wo das transkribierte [sak] überzeugt. Es stellt sich nun die Frage, ob man in der Aspiration der beiden talauswärts und damit näher an der romanisch-deutschen Sprachgrenze gelegenen Orte 86 | 87 ein dialektales Merkmal sehen soll, das auf stärkere Germanisierung der Ortsmundarten zurückgeht, denn die Aspiration des /K/ lässt den Einfluss des bairisch-südtirolerischen [kχ] erkennen. Oder ob man es womöglich nicht nur mit zweisprachigen Informanten zu tun hat (die Einwohner des Grödnertals sind ja durchweg zweisprachig), sondern mit solchen Zweisprachigen, bei denen das Bairische dominiert; in diesem Fall wäre es also ein Effekt der individuellen Kompetenz des Sprechers (und nicht der Sprache). 

2.2. Diatopik der Sprache oder Bildungsgrad des Sprechers?

Auf der folgenden Karte (aus Krefeld 2011) auf der Grundlage von AIS 9 und AIS 1536 wird mit Punktsymbolen (und nicht mit Isoglossen) der Gebrauch pleonastischer Konjunktionen in Norditalien festgehalten (quando che, cura che und mentre che anstatt einfachem quando, cura, mentre). Wo die Kennziffern des Erhungspunktes lesbar sind, wurden nur einfache Konjunktionen gegeben. 

Pleonastische Konjunktionen im AIS

Es erhebt sich nun die Frage, ob man hier grundsätzlich auf diatopische Markierung schließen darf oder nicht. Zwar zeichnen sich deutlich areale Häufungen ab, doch der Eindruck ist alles in allem ein wenig diffus. In den drei durch rote Pfeile hervorgehobenen Orten (nur einfache Konjunktionen) waren die Informanten nicht alphabetisiert, wie aus den Aufnahmeprotokollen hervorgeht:

“259 […] Suj. […] geringe Schulbildung; Analphabet“ (Jaberg & Jud 1928, 69);

“367 […] Analphabet“ (Jaberg & Jud 1928, 88);

“427 […] Analphabet. Schriftsprachlich beeinflussbar“ (Jaberg & Jud 1928, 94)

Der varietätenspezifische Status der Daten ist durchaus schwierig; Punkt 427 liegt an der Grenze eines Areals, Punkt 259 liegt in einem diffusen Areal und Punkt 367 ist ganz isoliert. Mit derartigen Befunden kann man grundsätzlich auf zweifach Art umgehen:

  1. Der vom Sprecher jeweils selektierten Variante wird ein Markiertheitswert auf der Ebene der SPRACHE (bzw. ihrer Architektur) zugewiesen, wie 'dialektal' (bzw. 'diatopisch') oder im Hinblick auf die geringe Bildung 'diastratisch'. Letzteres wäre  jedoch im Blick auf die Standardnähe der einfachen Konjunktion widersprüchlich; es handelt sich ja nicht um 'hyperkorrekte', sondern eben um Varianten, die gemessen am Standard 'korrekt' sind.
  2. Man führt die Selektion in allen drei Fällen auf Unsicherheit des Informanten zurück, wie übrigens schon der Hinweis zum Informanten von Punkte 427: "Schriftsprachlich beeinflussbar", andeutet. In jedem Fall ist es hier angemessener von Sprechervariation als von Sprachvariation zu reden. 

Wie schwer sich die traditionelle Dialektologie im Umgang mit Informanten und auch mit der Erfassung ganzer Varietäten aus komplexen Kommunikationsräumen tut, zeigt exemplarisch die Forschungsgeschichte des  Vegliotischen in Dalmatien.

3. Mehrdimensionale Sprachgeographie

Als die Sprachgeographie begann, unterschiedliche Sprecherkategorien in parallelen Datenserien zu erfassen und zu konfrontrieren verlor die Visualisierung der räumlichen Unterschiede durch Isoglossen ihren Sinn. Diese wichtige methodische Neuerung geht auf die 'zweidimensionale' Erfassung älterer, ortsfester und jüngerer, mobiler Informanten im Mittelrheinischen Sprachatlas (MRhSA) zurück (vgl. Bellmann 1986 und Bellmann 1994-2002); der MRhSA konnte so die Verflechtung der räumlichen mit der sozialen Variation darstellen. Als Visualisierungstechnik wurden gegenüberliegende Punktsymbolkarten eingesetzt.

Zusätzliche Dimensionen, nämlich die diagenerationelle, diasexuelle und diaphasische Variation wurden erstmals durch den  Atlas lingüistico diatópico y diastrático del Uruguay (ADDU) von Harald Thun und Adolfo Elizaincín (Thun 2000) systematisch operationalisiert und auf neue Art visualisiert. Es wurden vier Datenserien erhoben, so dass pro Erhebungsort vier Markierungsausprägungen jeder Variable dargestellt werden können:   

Die Visualisierung einiger Markierungstypen auf der Grundlage von vier Datenserien im ADDU

Diesem Modell folgt auch der Atlante sintattico della Calabria (AsiCa; vgl.Krefeld 2017), der jedoch als webbasierter Online-Atlas zusätzlich die Option bietet, jeden Quadranten des Vierfelderschemas interaktiv zu gestalten, so dass  durch Klicken Sprachdaten und/oder Informationen über den Sprecher abgerufen werden können.

Einen neuen Standard setzt jedoch der Atlante linguistico della Sicilia (ALS),  der für seinen sozio-variationellen Teil  in einem reduzierten Erhebungsnetz pro Ort 15 Informanten aufgenommen hat, so dass jeweils drei Generationen, zwei unterschiedliche Bildungsschichten und Kompetenztypen (mit Dialekt bzw. mit [Regionalital.] als L 1) aufgenommen wurde. 

4. Vom geographischen zum kommunikativen Raum

Die Prägung des Sprechers durch die genannten (Alter, Bildung, Geschlecht usw.) und womöglich noch weitere außersprachliche Parameter steht außer Frage; allerdings gibt es auch keine totale Determination. Jeder Informanten und ganz allgemein jeder Sprecher selektiert nicht nur aus dem Reservoir an Varianten, das ihre Sprachen/Varietäten bereitstellen; der Sprecher produziert auch neue Varianten, d.h. Innovationen und von vornherein sind Innovationen und selektierte Varianten nicht immer scharf zu unterscheiden. Hier gibt erst eine eventuelle Vermehrung der Informanten Aufschluss.

Es ist daher nur konsequent  die linguistischen Modellierung der Variation und damit der sprachlichen Dynamik einerseits systematisch an der Instanz des Sprechers auszurichten und dabei andererseits stets die räumliche Konditionierung zu Grunde zu legen, die im Fall von Innovation und Variantenselektion stets möglich und im Fall der Variantenverbreitung notwendigerweise gegeben ist.

Vor dem Hintergrund dieser methdodologischen Entwicklungen kann der komplexe Zusammenhang von Sprache und Raum also keineswegs mehr auf die Festlegung statischer Isoglossen im geographischen Raum reduziert werden. Der Raum, in dem gesprochen wird, ist aus sprachwissenschaftlicher Sicht eigentlich gar nicht geographisch zu erfassen; er muss vielmehr als ein sozialer Raum verstanden werden, der durch Kommunikation überhaupt erst entsteht. Roman Jakobson 1979 hat die grundlegenden Instanzen der Kommunikation in einem sehr bekannt gewordenen Modell formuliert: 

"konstitutive Faktoren in jedem Sprechereignis, in jedem verbalen Kommunikationsakt" (Jakobson 1979, 88)

Die einfachste, unvermittelte Konstellation, sozusagen die Ursituation des Sprechens, setzt bereits Räumlichkeit, nämlich Nähe, face to face, voraus. Die Kommunikationspartner, die  hier mit der Sender- und Empfängerrolle identifiziert werden, benötigen nun einen gemeinsamen Code. Die Kommunikation ist außerdem in eine Umgebung eingebettet, die einer  weiteren Differenzierung bedarf. Ihre Staffelung - oder in wissenssoziologischer Ausdrucksweise: die "räumliche Aufschichtung der Lebenswelt" (vgl. dazu (Schütz & Luckmann 1979-1984), 63-68), lässt sich in unterschiedlicher Granulierung beschreiben; wenn man nach der Rolle fragt, die Sprachen und Varietäten darin spielen, ist es sinnvoll, die Staffelung aus zwei entgegengesetzten Perspektiven abzuleiten: einerseits, bottom up, aus den Sprachen/Varietäten über die der Sprecher verfügt und andererseits, top down, aus den Sprachen/Varietäten, die durch die Umgebung gefordert werden. In jedem Fall verfügbar sind dem Sprecher (S) die Sprachen/Varietäten, die er mit seiner Sozialisation erworben hat; sie stehen mindestens potentiell immer für den Aufbau und Erhalt eines kommunikativen Nahbereichs (N) zur Verfügung. Fast immer gefordert wird dagegen in modernen Gesellschaften die Sprache des staatlichen Territoriums (T)2, denn sie regelt die Kommunikation in und mit allen Institutionen. Dazu gehört auch das Bildungssystem, so dass die Staatssprache gleichzeitig Alphabetisierungssprache ist und daher bei zahlreichen Einwohnern einen zentralen Faktor der Sozialisation darstellt. Da die Territorialsprache jedoch im Fall von Dialekt- oder Minderheitssprachgebieten nicht unbedingt der dominanten Sprache der lokalen oder regionalen Umgebung entspricht, ist es angebracht zwischen Nahbereich und Territorium eine weitere,  areale Zone anzusetzen, die man in Anspielung auf den Terminus 'Areallinguistik' als Areal (A) bezeichnen kann. Damit ergeben sich vier Instanzen des kommunikativen Raums, die jeweils mit spezifischen Sprachen/Varietäten verknüpft sind:

Instanzen des kommunikativen Raums

Es ist nun selbstverständlich, das unter identischen arealen und territorialen Bedingungen an ein und demselben Ort ganz verschiedene Sprecher mit- und auch nebeneinander leben, wie es die folgende Graphik ganz schematisch zeigt.

Kommunkationsraum mit unterschiedlichen Sprechertypen: Typ 1: z.B. zweisprachiger Migrant | Typ 2: z.B. Dialektsprecher | Typ 3: z.B. Einheimischer ohne Dialektkenntnisse | Typ 4: z.B. einsprachiger Migrant | Typ 5: z.B. Sprecher mit Migrationshintergrund | Typ 6: z.B. Einheimischer mit Kenntnissen einer Migrantensprache

Gerade die Kommunikation zwischen Sprechern mit unterschiedlichen, sich nur teilweise überschneidenden Repertoires ist nun für die Entstehung und vor allem für die Verbreitung sprachlicher Varianten, d.h. eben für die Dynamik der sprachlichen Variation, von besonderer Bedeutung, da die sie den Rahmen für den Austausch zwischen unterschiedlichen Kodes liefert.

Kommunikation zwischen Sprechern mit unterschiedlichen Repertoires

Das gegenseitige Kommunikationsverhalten wird durch ganz unterschiedliche Faktoren bestimmt, die alle vor Hintergrund der Tatsache gesehen werden müssen, dass nicht nur die kommunizierte Information (bestenfalls) verstanden wird, sondern dass auch die Art und Weise des Ausdrucks wahrgenommen und gewissermaßen nach Auffälligkeiten gefiltert wird. Sprecher bemerken alle möglichen Besonderheiten ihrer Gesprächspartner, seien sie phonetischer, lexikalischer morpho-syntakischer oder pragmatischer Art. Diese Auffälligkeiten rufen bestimmten Assoziationen hervor oder sind - wenn schon bekannt - fest mit solchen metasprachlichen Assoziationen verknüpft: 'so spricht jemand aus ...', 'wer so spricht, ist ungebildet', 'das ist ein italienischer Akzent', 'so ein Angeber' usw.

Dieses variantenbezogene Wissen der Sprecher lässt sich durch Tests ermitteln und muss ermittelt werden, denn die perzeptive Auffälligkeit in der Kommunikation zwischen Sprechern ist die objektsprachliche Basis der variations- bzw. varietätenlinguistischen Markiertheit (vgl. die programmatische Einleitung in Krefeld & Pustka 2010 sowie vor allem zur räumlichen Perzeption die wichtige Arbeit von Christoph Purschke 2011). Nur auf der Grundlage von sprachlichen Produktionsdaten ('Äußerungen') ist eine verlässlich Zuweisung von Markiertheitswerten (diatopisch, diastratisch, diaphasisch, diamesisch, diagenerationell, diasexuell) unmöglich; vielmehr ist eine systematische Ergänzung der Produktiondaten durch Perzeptionsdaten erforderlich. Hier besteht ein erheblicher Forschungsbedarf, da die vor allem durch Eugenio Coseriu begründete und durch Wulf Oesterreicher und Peter Koch verfestigte und vor allem in der Romanistik sehr stark rezipierte Tradition der Varietätenlinguistik (vgl.  Koch & Oesterreicher 1990 sich so gut wie ausschließlich auf Sprachproduktion bezieht.

Die Sprecherperzeption ist jedoch nicht nur für die (Re-)Fundierung der Variations- und Varietätenlinguistik wertvoll; ihre eigentlich elementare Bedeutung liegt darin, dass sie direkten Einfluss auf die Sprachproduktion nimmt, wie bislang wohl am besten in der Phonetik untersucht wurde  (vgl. (Babel & McGuire & Walters & Nicholls 2014)).  Diese oft unbewusste Anpassung an die Kommunikationspartner, die so genannte  'Akkommodation' (vgl. Giles 2008) ist gewiss ein starker Motor für die Verbreitung sprachlicher Varianten im Raum. 

4.1. Kleinste Einheiten des Kommunikativen Raums - Glossotope

Mit den skizzierten Bedingungen komplexer kommunikativer Räume ist das traditionelle Konzept des (Erhebungs-)Punkts nicht mehr vereinbar. Zur Grundeinheit muss der einzelne Sprecher mit seinem spezifischen Repertoire, seinen Routinen und der damit praktizierten Ausgestaltung seiner mehr oder weniger individuellen sprachlichen Lebenswelt erhoben werden. Um diese minimale Einheit des kommunikativen Raum terminologisch zu fassen, wurde der Ausdruck 'Glossotop' geprägt (vgl. Krefeld 2002, 159 und Krefeld 2004, 25).  Die konstruktive Grundidee impliziert keineswegs völlige Freiheit des einzelnen Sprechers, der selbstverständlich durch seine geographische und soziale Herkunft geprägt ist; allerdings ist es nicht weniger wichtig, die Unvorhersehbarkeit weiterer, nicht selten auch starker sprachlicher Einflüsse auf den Aufbau und die Veränderung seiner sprachlichen Kompetenz in angemessener Weise zu berücksichtigen. Nur so ist es möglich die Kommunikation von Sprechern, die am selben Ort in sehr unterschiedliche Glossotope eingebunden sind, realistisch zu modellieren: Geschwister leben mit Partnern unterschiedlicher L1, die wiederum Geschwister mit Partner unterschiedlicher L1 haben usw. usw. (vgl. die Fallstudie zu Friaulern in Bayern von Luca Melchior 2009). Unvorhersehbar ist in dergleichen - normalen - Verhältnissen übrigens auch, welche mehrsprachig fundierten WIR-Horizonte sich dabei ausbilden: das positiv identitätsstiftende Potential der Zwei- und Mehrsprachigkeit darf nicht unterschätzt werden; in der traditionellen Sprachgeographie ist sie (s.o.) vollkommen vernachlässigt worden.

4.2. Glottoskopie 2.0: Die Online-Kartierung komplexer Kommunikationsräume

Tatsächlich weiß man so gut wie nichts über räumliche Strukturen in der Kommunikation von Repräsentanten der in Abb. (9) gezeigten (und noch anderer) Sprechertypen, so dass der Versuch ihrer glossotopischen Kartierung, oder besser gesagt: einer 'Glottoskopie'3  verlockend erscheint. Ein entsprechendes Projekt müsste eine maximale Vermehrung gestatten und vor allem die aus der Alltagskommunikation nicht mehr wegzudenkende mediale Räumlichkeit einbeziehen. Die flächendecken Durchsetzung der Neuen Medien beruht ja nicht zuletzt auf der Möglichkeit, sich in der spontanen und informellen Kommunikation von der Bindung an die Face-to-Face-Nähe befreien zu können. 

Der konsequente Einsatz von Webtechnologie erlaubt folgende Vorgehensweise:

  • Die Datenerhebung erfolgt virtuell, per Smartphone-App oder anderen Computer, in geo- und chronoreferenzierter Weise und wird auf einer virtuellen und interaktiven Karte dargestellt.
  • Die Informanten werden aus einem sich selbst erweiterndes strukturierten, aber offenen Netzwerk von mindestens zweisprachigen Sprechern gewonnen; als 'zweisprachig' gelten auch Dialektsprecher mit Standardkompetenz.
  • Jeder Netzwerkteilnehmer nennt bei der Registrierung sein Sprach- und Dialektrepertoire, sein Geschlecht und sein Alter angeben.
  • Die Erweiterung des Netzwerkes erfolgt ausschließlich über bereits registrierte Teilnehmer, die jeweils Personen aufnehmen, mit denen sie über solche soziale Relationen verbunden sind, die den Instanzen des kommunikativen Raums entsprechen.
kommunikationsräumliche Instanz soziale Relation Sprachen/Dialekte
Nahbereich Familie/Partner  ♥, Freunde  
Areal Verkäufer/Kunden/Ärzte/Patienten ⊕, Unbekannte ohne offizielle Funktion ⊗   |  
Territorium Vertreter staatlicher Institutionen (Gemeinde, Schule) 
  •  Alle Netzwerkteilnehmer werden zu nicht vorhersehbaren Zeiten gefragt, in welcher Sprache sie im Moment der Anfrage mit Personen der genannten Kategorien gerade kommunizieren oder vor kurzem kommuniziert haben. Die Zeiten werden so gewählt, dass sie in prototypische Arbeits- bzw. Freizeit fallen. Das Ergebnis einer solchen Abfrage könnte etwa in der Weise der folgenden Abb. (11) visualisiert werden, wobei die Symbole die sozialen Relationen des jeweiligen Kommunikationspartners und die  Farbe der Symbole eine spezielle Sprache/Varietät bezeichnet; der Bindestrich ('-') steht für face to face, eine längere gestrichelte Linie für mediale Kommunikation. Das Netzwerk  ist bewusst sehr klein gehalten ist. Es handelt sich um ein sogenanntes 'mockup', d.h. um eine von Hand gefertigte, nicht virtuell aus einem funktionierenden System erzeugt Darstellung; das Layout und die geplante Funktionalität wurden durch das gut erprobte Online-Erhebungstool des Projekts VerbaAlpina inspiriert, so dass die Realisierbarkeit außer Frage steht.
 

Mockup: Kommunikative Aktivität des Netzwerks bei einer Abfrage in prototypischer Arbeitszeit (gelbe Kreise = abgefragte Netzwerker, Symbole = Sprecherkategorien, Farben = Sprachen)

Mockup: Kommunikative Aktivität des Netzwerks bei einer Abfrage in prototypischer Freizeit (Legende s. Abb. 12)

Alle zusammenkommenden Informationen können dann nach den unterschiedlichen Kategorien gefiltern und gesamthaft dargestellt, so dass man einen einen synthetischen Überblick über das Glossotop eines jeden Netzwerkteilnehmers sowie über die eventuelle Mehrsprachigkeit in den jeweiligen sozialen Segmenten erhält. Die Darstellung ist statisch-numerisch oder als symbolische Visualisierungen möglich:  

Hypothetische Visualisierung eines Glossotops

Ganz nebenbei wird es so auch möglich, die nicht selten äußerst weiträumigen Netzwerke von Familien abzubilden; aus 'klassischen' Emigrationsregionen, wie etwa Süditalien, sind häufig Familien entstanden, deren Angehörige in Südamerika, den USA, Deutschland (bzw. andere EU-Staaten) und Australien leben und so jeweils in ganz unterschiedliche Sprachkontaktszenarien eingebunden sind. Man darf davon ausgehen, dass in diesen (gänzlich unerforschten) Fällen medial aufrecht erhaltene Kommunikationsräume funktionieren, in denen  Sprecher identischer Inputvarietäten (z.B. Neapolitanisch) diverse Färbungen annehmen und sich womöglich sekundäre Migrationsvarietäten stabilisieren. 

Mockup: migrationsinduzierter Kommunikationsraum (mit Neapel als familienbiographischem Kern)

Die Aggregation beliebig vieler, vernetzter Glossotope gibt also Einblick in das Funktionieren komplexer und dynamischer kommunikativer Räume; denn, frei nach Leibniz 2006, 69, ist der kommunikative Raum das, was sich aus den individuellen Glossotopen ergibt, wenn man sie zusammennimmt4. Konvergenzen oder Divergenzen im Verhalten der erfassten Sprecher und etwaige Zusammenhänge mit den jeweiligen Sprachen/Varietäten und vor allem Mehrsprachigkeiten werden klar hervortreten.  

Andere linguistisch relevante Informationen treten aus den nackten Verwendungsdaten allerdings nicht hervor. So wäre es wichtig zu wissen,

  1. ob die sich abzeichnenden Konstellationen von manchen Sprechern als als positiv oder als konfliktuell erlebt werden,
  2. ob sich womöglich im mehrsprachigen Kontext spezifische Varietäten herausbilden oder bereits herausgebildet haben5 und
  3. ob es spezifische soziale Formationen gibt, also spezifische WIR-Horizonte, die sich gerade nicht auf einzelne Sprachgemeinschaften, sondern auf mehrsprachige Sprechergemeinschaften, d.h. auf die Vernetzung ihrer spezifische Glossotope abbilden lassen.

Um diese Fragen beantworten zu können, müssten in jedem Falle Perzeptions- und im Falle von 2. auch Produktionsdaten erhoben werden. 

Eine ganz andere Frage, nämlich die nach dem Namen der zuständigen Disziplin, verdient einen kurzen Epilog.

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Wenker, Georg (1881): Sprach-Atlas von Nord-und Mitteldeutschland: Auf Grund von systematisch mit Hülfe der Volksschullehrer gesammelten Material aus circa 30 000 Orten. Straßburg: Trübner.
Diese Entwicklung ist auch vor dem Hintergrund des kartographischen Fortschritts zu sehen; eine Rolle spielten zweifellos die Durchsetzung der Lithographie, aber auch die Entwicklung der thematischen Karten, insbesondere der ethnographischen Kartographie in Deutschland und vor allem in der Habsburger Monarchie; vgl. die Ethnographische Karte der österreichischen Monarchie von Heinrich Berghaus (1845) und später die gleichnamige Karte von Karl von Czörnig (1855).
Genauer müsste von einer der Territorialsprachen des jeweiligen Staats die Rede sein, denn auch mehrsprachige Staaten regeln den offiziellen Sprachgebrauch durch explizites Sprachenrecht oder impliziten Usus.
Aus euphonischen Gründen wird hier nicht Glossoskopie gesagt, obwohl das besser zu Glossotop passen würde. - Glottotop wäre andererseits auch ein wenig unglücklich.
«Raum ist kurzum das, was sich aus den Orten ergibt, wenn man sie zusammennimmt.» (Leibniz 2006, 69)
Zur Emergenz von Varietäten vgl. Lenz 2010.