Scritte Murali – Analyse der Kommunikationsstrategien am Beispiel des urbanen Raum Roms

Ansicht ändern:

Schlagwörter: kommunikativer Raum , Graffiti , Rom


1. Vorwort

Die vorliegende Arbeit spiegelt in gewisser Weise, sowohl was die formale Struktur als auch den inhaltlichen Aufbau betrifft, die Genese der Forschungsarbeit wider, d.h. mit zunehmender Beschäftigung mit dem Forschungsmaterial, ergaben sich mehr und mehr Erkenntnisse und Beobachtungen, wie auch Hindernisse, führten oft zum nächsten Schritt in der Analyse des Untersuchungsgegenstandes. So schien es mir zu Beginn kaum möglich, das gesammelte Material – die Erfassung der Scritte Murali an sich war bereits von vielen, meist praktischen Hindernissen bedingt – systematisch zu greifen und zu untersuchen. Ein Blick auf das Sprachmaterial mag recht schnell den Eindruck erwecken, dass nur schwerlich Ordnung in die Vielfalt der Texte gebracht werden kann, was nicht zuletzt am Wesen der Scritte Murali liegt, nämlich das augenscheinliche Fehlen von regulierenden und normierenden Instanzen. Begonnen bei der Bezeichnung und der Definition des Untersuchungsgegenstandes – sind es scritte murali, Graffiti, Protest- und Parolengraffiti, Symbolgraffiti, Geschmiere? – schien der Zugriff auch methodisch verborgen und fraglich, ob eine systematische Erfassung überhaupt möglich sei. Letztlich war einer der zentralen Motivationsfaktoren, das Projekt fortzuführen, die – bis dahin noch nicht wissenschaftlich begründete – Überzeugung, dass scritte murali zweifelsfrei nach strukturierten Mustern und (unausgesprochenen) Normen erstellt und verstanden werden und innerhalb bestimmter gesellschaftlicher und sprachlicher Gemeinschaften, wie auch für Einzelpersonen, von zentraler Bedeutung in der Alltagskommunikation sind und dabei nicht nur das visuelle, sondern auch sozio-kulturelle Stadtbild Roms prägen.

Von Beginn an war eine zentrale Fragestellung, ob und welche Bedeutung die Ortsabhängigkeit oder Ortsgebundenheit innerhalb der Kommunikationsabläufe spielt. Je mehr ich mich mit dem Untersuchungsgegenstand auseinandersetzte, desto deutlicher wurde, welch große und wesentliche Rolle die Standorte der scritte murali tragen und dies nicht nur für die Einzeltexte gilt, sondern auch für Textgruppen, die auf ‘irgendeine’ Weise miteinander verbunden waren, was nach recht kurzer Zeit zweifelsfrei erkennbar wurde. Ziel der Arbeit ist es, die kommunikative Realität des Sprachmaterials möglichst in ihrer Gesamtheit systematisch zu erfassen, die einzelnen Kommunikationsfaktoren zu beschreiben und die Funktionalität der Texte abzuleiten. Dazu muss zunächst der Untersuchungsgegenstand abgegrenzt und textlinguistische Beobachtungen vorangestellt  sowie ein geeignetes Analysemodell erstellt werden, um danach die grundlegenden Kommunikationsparameter, etwa die Textproduzenten1 und -rezipienten, die kontextuellen und situativen Umstände, die kodalen Eigenschaften oder die Inhalte der Texte, systematisch zu erfassen und ihre (Teil-) Funktionen zu beschreiben. Als besonders bedeutungsvoll für die Kommunikationsprozesse wurden dabei die Ortsabhängigkeit und Ortsgebundenheit der Texte im öffentlichen Raum begriffen, weshalb die Schwerpunktsetzung bei der Fragestellung dieser Arbeit auf dem Faktor Ort und seinem funktionalen Beitrag liegt. Konkret ausformuliert lassen sich die Fragestellungen folgendermaßen festhalten:

  • Wie ist das Sprachmaterial zu definieren und welche textlinguistischen Parameter lassen sich festhalten?
  • Wie lässt sich das gesammelte Sprachmaterial systematisch erfassen und für die Analyse der Kommunikationsprozesse aufbereiten? Welche Attribute, wesentliche Bedingungen und Faktoren sind für den Kommunikationsprozess relevant?
  • Welche Funktionalitäten lassen sich für Einzeltexte und Textgruppen ableiten? Welche Teilfunktionen übernehmen dabei die einzelnen Faktoren (Teilnehmer, Ort/Zeit, Materialität und Medialität, Kode, Inhalt) innerhalb der Gesamtbotschaft? Welche grundlegenden Gesamtfunktionen lassen sich für Textgruppen erkennen? Welche Bedeutung kommt der Ortsabhängigkeit bzw. Ortsgebundenheit der Texte zu?

Offensichtlich kann der Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht alle kommunikativen Aspekte der Scritte Murali fassen und es wird auch nicht der Anspruch erhoben, eine vollumfassende Analyse dieser Kommunikationsform zu präsentieren. Im Laufe der Arbeit wird das Konzept der Prototypen von entscheidender Bedeutung für den Zugang zum Forschungsgegenstand sein und Prototypikalität ist auf gewisse Weise das Leitmotiv für die Arbeit bzw. die Ergebnisse und zwar dahingehend, dass weniger der Versuch unternommen wurde Einzeltexte (oder -exemplare) erschöpfend zu analysieren, sondern vielmehr die Texte in ihren (proto)typischen Verwendungsweisen zu begreifen und dies anhand ihrer (proto)typischen Aspekte und Attribute. Dies soll jedoch nicht (oder nur bis zu einem gewissen Maß) bedeuten, dass die hier dargestellten Beobachtungen und Ergebnisse für scritte murali verallgemeinert werden können, nicht zuletzt, weil die Ergebnisse – auch aus prototypischer Perspektive – für andere Untersuchungsgebiete aufgrund der Ortsabhängigkeit als elementarer Kommunikationsfaktor völlig anders ausfallen können. Neben dem Grundton der Prototypikalität spielen visuelle Reize eine Schlüsselrolle und dies nicht nur in Bezug auf die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Thematik, sondern auch in Bezug auf den formalen Aufbau der Arbeit. Dies bedeutet, dass eine Vielzahl von Bildern des Sprachmaterials gezeigt und auch weitere visuelle Hilfen (etwa interaktive Karten) den Fließtext unterstützen suchen. Dies liegt auch darin begründet, dass sich im Rahmen dieser Arbeit nicht alle qualitative Feinheiten ausgiebig behandeln lassen, diese Details gleichzeitig jedoch Grundlage für die dargestellten Erkenntnisse dienen. Eine geeignete Form, die Gedankengänge, Typisierungsabläufe und Überlegungen wiederzugeben, schien mir daher die Präsentation des Sprachmaterials in Form der fotographischen Abbildungen. Eine geeignete Form der visuellen Darstellung in Bezug auf die Ortsabhängigkeit scheint mir außerdem die Nutzung von interaktiven Karten, welche das Durchsuchen der Datensätzen erlaubt und die Lokalisierung der Texte im Untersuchungsgebiet ermöglicht. Generell lebt die Arbeit von visuellen Aspekten und ist daher von Beginn an als Forschungsarbeit im Onlineformat konzipiert worden, da bspw. eine Darstellung der Ergebnisse auf statischen Karten der Ortspezifität das Gewicht nehmen bzw. die Lesbarkeit der Arbeit stark beeinträchtigen würde.

Ein (positiver) Nebeneffekt der gewählten Publikationsform ist, dass eine vergleichsweise hohe Menge an annotiertem Sprachmaterial und somit für weitere Forschungsarbeiten – auch zu Einzelaspekten – zugänglich gemacht werden kann. Aus diesem Grund werden auch Datensätze gezeigt werden, die nicht oder nur zu einem geringen Ausmaß in die Ausführungen einfließen. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Datensätze nicht analysiert wurden oder grundlos erstellt worden sind, da für die Analyse schließlich alle hier erfassten Attribute und Attributsklassen interpretiert werden sollten und dies für manche Bereiche zu Befunden führte, bei anderen dagegen nicht. Nachdem die Datensätze dann bereits erstellt worden waren, können sie hier in geeigneter, d.h. interaktiver, Form gezeigt werden und der weiteren Erforschung als Datenmaterial dienen.

Ganz ähnlich verhält es sich hinsichtlich der Methodik, welche in dieser Form bisher noch nicht angewendet wurde, zumindest nach meinem Kenntnisstand. Es wurde etwa speziell für diese Arbeit das Tool GIAnT für die Annotation von graphischen Bildern entwickelt (siehe Kapitel ), ohne welches die Digitalisierung der Texte und somit die korpusbasierte Analyse nicht vorstellbar gewesen wäre. Auch die Verwendung einer Graphdatenbank (Neo4J), die sich zwingend aus der Beschaffenheit des Sprachmaterials ergab, ist eines der ersten Beispiele für die Nutzung von neuen und innovativen Mitteln im Rahmen der Linguistik. Die Nutzung von interaktiven Karten ist offensichtlich weitaus verbreiteter, aber auch hier hoffe ich, Forschende durch die Verwendung in dieser Arbeit zur Nutzung der hier verwendeten Open Source Tools motivieren zu können, da sie ein erhebliches Potential (nicht nur) für die Erforschung von georeferenzierten Sprachformen bieten.

Abschließend möchte ich noch kurz den Aufbau der Arbeit skizzieren. Das einleitende Kapitel widmet sich zunächst dem Untersuchungsgegenstand Scritte Murali und gibt, nach einem kurzen Abriß zur Begriffsetymologie sowie zur geschichtlichen Verwendung des Begriffes Graffiti, eine Definition des Untersuchungsgegenstandes. Die theoretischen Grundlagen für die Analyse der Kommunikationsfunktionen werden in Kapitel anhand der Basiskategorien von Jakobson (1979) in einem Arbeitsmodell dargestellt, bevor in Kapitel das Analysemodell und die Rahmenbedingungen der Prototypikalität beschrieben werden. Die theoretischen Vorarbeiten sind damit abgeschlossen und der empirische Teil der Forschungsarbeit beginnt. Kapitel umfasst die Ausführungen zur Feldforschung (DEFAULT) mit den Daten zu den Erhebungsgebieten und den zeitlichen Angaben sowie einer quellenmethodischen Eingrenzung. Eine ausführliche Beschreibung zur Kompilierung des Korpus findet sich in Kapitel . Die Ergebnisse der Digitalisierung und die resultierenden Eckdaten des Korpus mit einer Übersicht der relevanten Attributsklassen werden in Kapitel gegeben. Kapitel zeigt die umfassende Auswertung der Korpusdaten – einmal für die scritte murali als übergeordnete Kategorie (DEFAULT) sowie für die einzelnen Domänen (DEFAULT bis DEFAULT). Kapitel bildet das letzte Kapitel der Empirie und fasst die aus den Ergebnissen der Genre-Prototypen abgeleiteten Funktionalitäten der domänenspezifischen scritte murali zusammen. Alle Informationen zu den verwendeten Programmen und den jeweiligen Lizenzen, zur Nutzung der interaktiven Karten sowie ein Abkürzungsverzeichnis finden sich im Anhang.

2. Untersuchungsgegenstand scritte murali

Die Entscheidung, den in dieser Arbeit im Zentrum stehenden Untersuchungsgegenstand als scritte murali und nicht Graffiti3 zu bezeichnen, mag auf den ersten Blick trivial erscheinen. Stellt man sich die Frage, was genau Graffiti sind, so wird bereits beim Versuch einer vorwissenschaftlichen Eingrenzung des Begriffs klar, dass es sich dabei offensichtlich um einen Sammelbegriff für eine Vielzahl von, in irgendeiner Art und Weise zusammenhängenden, Ausprägungen handelt muss. Nachfolgend soll erläutert werden, warum ich mich bewusst dafür entschieden habe, die italienische Form scritte murali zu verwenden, wobei die Ausführungen auch explizit dazu dienen, an den komplexen Gegenstand scritte murali4 heranzuführen. Der Titel der Forschungsarbeit – die Strategien innerhalb dieser Kommunikationsform zu erfassen und analysieren – setzt bereits einige fundamentale Thesen voraus, die nicht nur von Autor und Lesern eine klar vorgezeichnete Perspektive fordern, sondern außerdem Auswirkungen auf die methodische Vorgehensweise bei der Erfassung und Analyse des Untersuchungsgegenstandes nach sich ziehen. Die Bezeichnung als Kommunikationsform und die Verwendung des Begriffes Strategien implizieren, dass ganz bestimmte Faktoren (bspw. Teilnehmer, Art des Mediums usw.) von variabel gewichteter Bedeutung sind und dass diese Faktoren anscheinend bewusst eingesetzt werden, um welche Art von Effekt auch immer zu bewirken. Wie sich zeigen wird, muss aufgrund der Komplexität des Gegenstandes immer wieder von ganz grundlegenden Fragestellungen ausgegangen werden, um das Phänomen Scritte Murali wissenschaftlich zu fassen und analysieren. Bestimmte Ausführungen mögen dem Leser stellenweise pedantisch erscheinen, jedoch ist es wahrscheinlich, dass die umgangssprachliche und v. a. wissenschaftliche Verwendungsweisen (und vielleicht noch wichtiger, die dazugehörigen Konzepte) des Begriffs, zu unzutreffenden Annahmen führen werden. Eine Unterordnung des Begriffs scritte murali unter das Hyponym Graffiti ist daher ebenso unerlässlich, wie eine klare Skizzierung der Ko-Hyponyme zu den Scritte Murali. An dieser Stelle möchte ich jedoch darauf hinweisen, dass, obwohl ich darum bemüht bin, den Gegenstand möglichst genau zu bestimmen und kategorisieren, es nicht mein Ziel ist, ihn um jeden Preis bestehenden Typologien zu zuordnen. Um von Einzelfällen (die auf den ersten Blick völlig ungeordnet und nicht klassifizierbar erscheinen mögen) zu generalisierenden Aussagen zu gelangen, werde ich auf fundamentale Theorien zurückgreifen, ohne dabei die empirische Vielfalt des (Sprach-)Materials in vermeintlich geordnete, aber zunehmend unübersichtliche, Klassifikationen und Typologien zu pressen. Auch steht eine erschöpfende (Neu-) Definition von Graffiti nicht im Vordergrund – dazu später mehr (s. u. DEFAULT).

Konsultiert man wissenschaftliche Literatur, die sich mit Graffiti beschäftigen,5 sind v. a. aus methodologischer Sicht bestimmte Ansätze beobachtbar. Zunächst, dass der Begriff Graffiti in verschiedensten Wissenschaftsbereichen verwendet wird, wobei der Gegenstand Graffiti logischerweise jeweils unter völlig anderen Gesichtspunkten analysiert wird. Die Forschungsbereiche, die ‘etwas’ untersuchen, was man als Graffiti bezeichnen kann, beginnen bei der Archäologie und erstrecken sich von der Altertums- und Mittelalter-Forschung, über Kulturwissenschaften, Literaturwissenschaft, Psychologie, bis hin zur Sozialpädagogik und Soziologie, wobei das Phänomen auch aus kunstwissenschaftlicher oder juristischer Sicht betrachtet und diskutiert wird. Bei einer solchen Breite an wissenschaftlichen Zugängen, mit ihren jeweils eigenen methodologischen und wissenschaftstheoretischen Vorgehensweisen und Grundlagen, ist es verwunderlich, dass die Problematik der Definition6 selten expliziert wird und häufig bestimmtes Wissen und Perspektiven vorausgesetzt werden, ohne darauf hinzuweisen. Ein möglicher Grund mag genau in der Verwendungspraxis innerhalb recht heterogener Forschungsfelder und einer gleichzeitigen umgangssprachlichen Bezeichnung für ein allgemein bekanntes, aber eben nicht klar fassbares Phänomen, liegen. Eben diese Problematik bei der Erfassung des Phänomens deutet Detlef Hofmann an, wenn er bemerkt:

Die ordnende Sorgfalt der Archäologen des vorigen Jahrhunderts haben wir weit hinter uns gelassen, wir bezeichnen jede inoffizielle Wandbeschriftung und -bebilderung als Graffito, egal ob es sich um das gekrazte [sic] Herz von Hans-Jürgen und Elsa handelt oder um ein Strichmännchen des Sprayers von Zürich. Natürlich ist uns mit der Ausweitung des Begriffs auch eine Möglichkeit zur Differenzierung verloren gegangen.(Herv. SL; Hofmann 1985, 21)

Hofmann spricht hier neben der Folge der Begriffserweiterung von einer „ordnende[n] Sorgfalt der Archäologen“, die tatsächlich bedeutend ist und auf die ich weiter unten zurückkommen möchte.

Auch in der Einleitung des von Beuthan und Smolarski herausgegebenen Sammelbandes Was ist Graffiti? (2011, 5-9) wird auf die unterschiedlichen Definitionsansätze und verschiedenen wissenschaftlichen Zugänge verwiesen sowie das Fehlen einer (wissenschaftlich-) philosophischen Auseinandersetzung mit der Thematik beklagt. Smolarski spricht der Vielzahl an Forschungszugängen (begonnen bei Annäherungsversuchen über die prähistorische Höhlenmalerei) ihre Berechtigung zu, bemerkt aber zu Recht, dass diese „für sich allein genommen, jenseits einer interdisziplinären Auseinandersetzung, wohl wenig Aussagekraft haben werden“ (2011, 6). Am Beispiel des Graffiti-Readers von Norbert Siegl (Leiter des Instituts für Graffitiforschung in Wien) bringt es Smolarski auf den Punkt, wobei ich seine Feststellung über den Reader hinaus auf den Großteil der Arbeiten ausweiten möchte: „Die Untersuchung setzt schon einen Begriff von Graffiti voraus, diskutiert diesen folglich nicht, kurz: Es fehlt an kategorialem Unterscheidungswissen, es fehlt an einer Grundlage“ (2011, 5).

Ebenfalls auffällig in der Verwendung des Begriffs in der Literatur ist, dass selbst wenn auf das terminologische Problem hingewiesen wird, entweder eine deutliche Definition ausbleibt oder eine recht oberflächliche Beschreibung erfolgt. Wird eine Definition gegeben, lassen sich v. a. zwei große Ansätze erkennen: einerseits wird eine semasiologische Sichtweise eingenommen und versucht über die etymologische Entstehungsgeschichte zu erklären, was Graffiti eigentlich bezeichnet, andererseits wird die Praktik des ‘Etwas an die Wand Schreibens’ als Ausgangspunkt gesetzt, um über eine chronologische Betrachtung des Phänomens bis hin zum aktuellen Status zu einer Definition zu kommen. Allgemein führen beide Wege oft zu teils sehr weit, teils sehr eng gefassten Definitionen. Besonders in (kürzeren) Aufsätzen kommt es häufig zu knappen Beschreibungen, die bestimmtes Wissen bzw. grundlegende Differenzierungen innerhalb der Praktik und/oder Entstehungsgeschichte als bekannt voraussetzen, wobei maximal marginal auf die m. M. n. weitreichenden Folgen für die Methodik und damit die gesamte Analyse hingewiesen wird.7 Eine explizite Gegenüberstellung verschiedener Graffiti-Erscheinungen und Definitionsweisen dagegen treten selten auf. Zu nennen wären hier die Diskussionen bspw. bei  Northoff 2005, Lohmann 2017, Langner 2001, Klee 2010, Skrotzki 1999 oder Volland 2010. Wenn Lohmann und Langner – beide im Bereich der Archäologie tätig – eine Abgrenzung von antiken Inschriften zum aktuellen Phänomen Graffiti anstreben und Gemeinsamkeiten wie Unterschiede ansprechen, so geben Klee und Volland zumindest eine mehr oder weniger klare Abgrenzung der Unterkategorie  „Wort-, Symbol- oder Parolen-Graffiti“ bzw. „Parolen- oder Protestgraffiti“ von Graffiti allgemein (vgl. Klee 2010, 109-110 und Volland 2010, 91-92). Lohmann und Langner kommen nicht umhin den schlechten Ruf der Graffiti zu diskutieren, welcher aufgrund der aktuellen Ausprägungen des Phänomens dem Begriff anhaftet (vgl. Lohmann 2017, Kapitel 1; Langner 2001, 20). Allgemein scheint die Tatsache, dass Graffiti gemeinhin als subversiv und Akt des Vandalismus angesehen und daher negativ rezipiert werden und/oder wurden, bei der Definition eine relativ große Rolle zu spielen. Dies zeigt sich besonders darin, dass viele Wissenschaftler und Autoren auf diesen Kontrast Kunst vs. Verbrechen eingehen – wie dies oft auch bei amerikanischen Autoren geschieht („aesthetic pratice“ vs. „criminal activities“, bspw. bei Halsey/Young 2006, 275) – womit das Phänomen Graffiti nicht selten auf den Teilaspekt des Rechtsproblems reduziert wird. Bei juristischen oder soziologischen Betrachtungen mag dieser Faktor (einer) der zentralste(n) sein, bei interdisziplinären oder – wie im Fall der vorliegenden Arbeit – linguistisch-zentrierten, kann dieser Faktor jedoch nur ein – und dann eher peripherer – Teilaspekt sein.

Northoff stellt in seiner Arbeit Graffiti – Die Sprache an den Wänden (2005) verschiedene Definitionsansätze aus der deutschen Graffitiforschung der letzten 40 Jahre der Definition von Karl Zangenmeister aus dem Jahr 1871 gegenüber. Die gesammelten Definitionen stammen dabei von Autoren, die in unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen tätig sind: bspw. vom Sozialpädagogen Axel Thiel (von Northoff auch als der Graffiti-Experte bezeichnet, da er über 30 Jahre die Kunst der Graffiti erforschte und den Begriff Graffitiforschung einführte; vgl. 2005, 118), dem im Bereich der Volkskunde forschenden Peter Kreuzer (Autor des Graffiti-Lexikons von 1986) oder von Beat Suter (Literaturwissenschaft). Die Definition von Zangenmeister wird von Northoff als „älteste umfassende“ beschrieben (2005, 117) und enthält „bereits alle jene Merkmale der inoffiziellen Wandbotschaften […], die in so vielen späteren Definitionen teils repetitiv, teils in anderen Worten wiederkehren: Anonymität, Einfachheit; an fremden Wänden und ohne öffentlichen Auftrag verfertigt“ (Herv. SL; 2005, 121). Northoff selber liefert einen „Definitionsversuch: WortGraffiti“, der sehr weit gefasst ist und relativ ungeordnet verschiedenste Faktoren zusammenzubringen scheint (vgl. Northoff 2005, 124-128).8  

Was sind nun aber Graffiti und warum empfiehlt es sich, neben einer eindeutigen Abgrenzung des zu untersuchenden Gegenstandes, möglicherweise auf eine andere Terminologie auszuweichen? Warum werden Ausformungen, wie sie in den Abbildungen 1 – 5 zu sehen sind, mit dem Begriff Graffiti bezeichnet? Was haben die Praktiken gemeinsam? Worin liegen die Unterschiede?

Felsmalerei in Lascaux

Felsmalerei in Lascaux
(Prof saxx 2006)
(Lizenz: CC BY SA)

Street-Art "Papa gioca a tris", Rom, (???)

Street-Art „Papa gioca a tris“,
Rom
(Gaetani/Perilli 2016)

Liebesgraffito, Rom (ScriMuRo)<span class="note" id="note-intext2" data-number="2"><a href="#note2"><sup>2</sup></a></span>

Liebesgraffito, Rom
(ScriMuRo)9

Politisches Graffiti (ScriMuRo)

Politisches Graffiti (ScriMuRo)

Graffito zweier Gladiatoren, Pompeji

Graffito zweier Gladiatoren, Pompeji
(Mediatus 2010)
(Lizenz: CC BY SA)

Zur Klärung dieser Fragen möchte ich bei zwei zentralen Faktoren ansetzen, um einen ersten Überblick zu schaffen und anschließend eine grundlegende Definition zu geben. Dazu werde ich einerseits die Etymologie bzw. Verwendungsgeschichte des Begriffs Graffiti zusammenfassen, um die Bedeutungserweiterung und ihre Folgen darzustellen. Andererseits ist es naheliegend von einer Praktik ‘Etwas an Wände malen’ auszugehen, das dies, wie oben angedeutet, anscheinend hinreichend ist, um verschiedenste Ausprägungsformen mit lediglich einem Begriff zu bezeichnen. Dabei werde ich diskutieren, ob es tatsächlich eine und wenn ja, welche, Konstante gibt, die eine Ausweitung des Begriffs auf die verschiedenen Denotate rechtfertigt. Um jeglichen Illusionen, wie die Antworten auf die eben gestellten Fragen ausfallen werden, zuvor zu kommen, möchte ich die Thesen von Ralf Beuthan (2011, 121-139) voranstellen und sie als Rahmen für meine Überlegungen nehmen. Ohne im Detail auf die gewinnbringenden Überlegungen von Beuthan einzugehen, möchte ich mich direkt seinen beiden Thesen anschließen. Er formuliert eine methodologische und eine wesenstheoretische These, wobei die wesenstheoretische hier von größerer Bedeutung ist. Die methodologische These bezieht sich auf den Faktor der Illegalität von (modernen) Graffiti und dem Problem, dass dieser Faktor zum Zentrum der Definitionsfrage gemacht wird. Beuthans These folgt zu Recht der Annahme, dass „die vieldiskutierte Illegalität des Graffiti nur ein Indiz und nicht schon die Sache ist“ (2011, 123). Allerdings spielt die Illegalität bei bspw. antiken Graffiti eine weitaus geringere Rolle, als dies bei den heutigen Graffiti der Fall ist: „Denn sie [die Graffiti] mögen inoffiziell – d. h. ohne explizite Genehmigung Anderer gemacht –, dabei aber nicht zwangsläufig illegal gewesen sein; sie waren keine Ausdrucksform des Protests, sondern selbstverständlicher Teil der urbanen Landschaft“ (Lohmann 2017, 4). Damit verliert diese These in Bezug auf eine mögliche Definition für Graffiti allgemein an Gewicht. Die zweite These zum Wesen von Graffiti jedoch muss m. A. n. als Grundlage aller Herangehensweisen an das Phänomen Graffiti gelten, erst recht, wenn man Subkategorien oder Teilaspekte davon untersuchen möchte und motiviert gleichzeitig dazu, auf den Begriff Graffiti zu verzichten.

Meine wesenstheoretische These ist, dass der Ausdruck ‘Graffiti’ gar kein Wesen beinhaltet. Die frühen Wandkritzeleien z. B. in Ephesus und die großflächigen geometrischen Figuren z. B. von ‘Chintz’ in Dortmund mögen eine Verbindung erkennen lassen – einen gemeinsamen Wesenskern haben sie nicht. […] Der Gedanke, der den Rahmen für meine weiteren Überlegung bildet, ist folgender: (i) Ich gehe davon aus, dass es kein Wesen des Graffiti gibt; (ii) ich gehe ferner davon aus, dass es auch keine allgemeinen Merkmale bzw. bestimmte Elemente gibt (bzw. geben muss), die in jedem Fall vorliegen müssen, damit man jeweils von Graffiti sprechen kann, (iii) Dies impliziert jedoch nicht, dass es keine wiedererkennbare und aussagekräftige Merkmale gibt, sondern nur, dass sie nicht in jedem Fall anzutreffen sein müssen, (iv) Zur Bestimmung dessen, was Graffiti ist, sind also sehr wohl allgemeinere Merkmale herauszuarbeiten, aber nicht mit dem Anspruch, dass sie für alle Fälle gelten müssen, (v) Der entscheidende und durchaus schwierige Punkt ist der, ob es noch ein Argument geben kann, bei den verschiedenen, historisch, ästhetisch und funktional divergierenden Fällen überhaupt noch jedes Mal von ‘Graffiti’ sinnvoll sprechen zu können.(Herv. SL; Beuthan 2011, 123-124)

Der Schlüssel, um diese internen Verbindungen zu fassen und gleichzeitig den Divergenzen die nötige Beachtung zu schenken, ist das Konzept der Familienähnlichkeiten von Ludwig Wittgenstein. Danach lässt sich Beuthans These derart zusammenfassen, dass Graffiti keinen zu definierenden Wesenskern oder allgemeingültige Merkmale hat, und die verschiedenen Ausprägungsformen dennoch im Sinne der Familienähnlichkeiten über Merkmalsgruppen miteinander verknüpft oder ‘verwandt’ sind (vgl. Beuthan 2011, 124).

2.1. Etymologie des Begriffs und die Frage nach einer geschichtlichen Konstante

2.1.1. Antike und Moderne Graffiti

Der Begriff Graffiti wurde im 18. Jhd. geprägt, um die in jener Zeit massenweise neu entdeckten Inschriftengattungen in den Vesuvstädten und Rom zu benennen. Bis dahin wurde das Phänomen bzw. dieselben Inschriften, welche (vermutlich) ein fester Bestandteil des antiken Stadtlebens im Römischen Reich waren, zwar mehr oder weniger ausführlich von zeitgenössischen Autoren kommentiert und erwähnt, jedoch ohne eine übergreifende Bezeichnung dafür zu haben (vgl. Lohmann 2017, Kapitel 1; Hinz 2011, 12). Damals wurden diese inoffiziellen Wandschriften mit dem Neologismus graffiti benannt, abgeleitet aus dem Italienischen sgraffiare oder graffiare. Erst ca. 200 Jahre später wurde der Begriff analog für das v. a. von den USA ausgehende Phänomen der subkulturellen Wandmalereien verwendet und ab diesem Moment war es unumgänglich, dass bei Verwendung desselben, ungewünschte Assoziationen und Konnotationen mitverstanden wurden. Im Bereich der Altertumsforschung bezeichnet der Terminus ein relativ klar definiertes Phänomen und zwar inoffizielle Inschriften auf (Innen- und Außen-) Wänden, welche in eine Oberfläche geritzt oder manchmal mit Kohle oder Kreide aufgetragen wurden und sich klar von den sog. dipinti, also gemalte, teils offiziell in Auftrag gegebene Wahlaufrufe oder Ankündigungen, unterscheiden (vgl. Lohmann 2017, 3-4; Northoff 2005, 52-53).

Graffiti leitet sich vom altgriechischen Verb γράφειν (graphein) ab, was so viel bedeutet wie ritzen oder einritzen, wobei die Bedeutung jedoch auch auf malen und schreiben erweitert werden kann (Hinz 2011, 9; etimo.it). Eingeritzt wurden in der Antike die Bild- und Buchstabendarstellungen mithilfe eines Schreibgerätes in ein hartes oder weiches Objekt oder Masse (Stein, Ton, Wachstafel usw.), wobei das Schreibgerät von harten Metallstiften, über Meißel und Hammer, bis hin zu Griffeln reichen konnte. Grapheion mit der Bedeutung Griffel ist als graphium ins Lateinische entlehnt worden und von dort hat es über das althochdeutsche auch Eingang in die deutsche Sprache (vgl. dt. Griffel). Eine Bedeutung Schreiben für das Verb lat. graphiare taucht zwar in einem mittellateinischen Glossar auf, jedoch war dies nicht das geläufige Wort für die Schreibtätigkeit, sondern scribere, und es ist zu vermuten, dass das Wort im Zuge des Humanismus über die griechischer Literatur in den Wortschatz einiger Schriftgelehrter ins Mittellatein gelangt ist, wobei die ursprüngliche Bedeutung ritzen bereits verloren gegangen war. Giorgio Vasari, ein italienischer Künstler und Schriftsteller (1511-1574), bezeichnet in der Einleitung seiner Viten eine Ritz- bzw. Kratzputztechnik mit dem Wort sgraffito

Sgraffito-Haus in Weitra
(Mühlstein 2005)
(Lizenz: CC BY SA)

Hierbei wurde auf einen dunklen Untergrund eine weiße Mörtelschicht aufgetragen, in welche, solange noch nicht ausgehärtet, Ornamente und andere Zierformen oder bildliche Darstellungen eingekratzt wurden. Es wurden also sowohl die Erstellungstechnik als auch das daraus resultierende Produkt durch ein von graphein abgeleitetes Wort benannt. Wie oben bereits erwähnt, findet der Begriff dann im 19. Jhd. Eingang in die Archäologie und die Altertumsforschung (bspw. Epigraphik). Zentrale Merkmale für die Denotate sind hierbei die Herstellungstechnik (als etwas Eingeritztes) sowie der inoffizielle Charakter des Produktes (vgl. Hinz 2011, 9-13). Ab dem 20. Jhd. wird der Begriff Graffiti drastisch erweitert und bezeichnet von nun an auch ein ähnliches Phänomen der Moderne.

Moderne Graffiti, also das, was die breite Bevölkerung heute allgemein als Graffiti bezeichnen würde,10 entstehen Ende der 1960er Jahre in den USA, genauer in New York, und sind seit Ende des 20. Jhs. weltweit in urbanen Räumen und in diversen Erscheinungsformen verbreitet. Offensichtlich ist es schwierig die genaue Entstehung zu rekonstruieren, jedoch besteht unter den Graffiti-Experten relativer Konsens darüber, dass die auffälligen Sprühbilder und sog. Tags (sowie alle Zwischenstufen und Abwandlungen) aus den damals noch Hits genannten Ruf- oder Spitznamen von JULIO 204, THOR 191 und v. a. TAKI 183 entstanden sind.

Interview mit Taki 183 in der New York Times von 1971

Interview mit Taki 183 in der New York Times von 1971
(Lizenz: CC BY SA)

Letzterer, ein in der 183. Straße in den Washington Heights wohnender Sohn griechischer Einwanderer namens Demetrius, begann auf seinen Fahrten als Bote durch Manhattan sein Kürzel oder seine Signatur TAKI 183 an verschiedensten Orten, die er passierte, anzubringen. 1971 gibt Demetrius sogar ein Interview in der New York Times und es finden sich in der Folgezeit unzählige Nachahmer, die ihr Pseudonym möglichst häufig in ‘ihrem’ Territorium anbringen.11 Das anfänglich Interesse der Öffentlichkeit an dem Phänomen schlug schnell in eine städteübergreifende Ablehnung (v. a. von Seiten der offiziellen Stellen) um und kurz darauf wurden erste Anti-Graffiti-Programme ins Leben gerufen, um dem Problem Herr zu werden, was jedoch aufgrund der schieren Masse an täglich neu entstehenden Tags unmöglich war. Schon bald reichte das Anbringen einfacher Tags nicht mehr aus und es wurden immer neue Wege gesucht (und gefunden), um sich in bestimmten Kreisen einen Namen zu machen, um sog. fame zu erlangen: die Anbringungsorte wurden immer ausgefallener und künstlerisch-ästhetische Elemente wurden zunehmend wichtig, um den eigenen Namen möglichst auffällig erscheinen zu lassen. Die Techniken wurden ausgefeilter, verschiedene Designs entstanden und es dauerte nicht lange bis die Tagger die Spraydose entdeckten, um ihre Pseudonyme auf jedweder Oberfläche in verschiedensten Farben anzubringen. In den folgenden Jahren entwickelte sich das Phänomen Graffiti, neben der Musik (Rap und Deejaying) und dem Breakdance, zu einer der drei Teilrichtungen der sich schnell verbreitenden und ebenfalls neu entstandenen Hip Hop-Kultur und fand so den Weg nach Europa. Dort verbreitete sich die Subkultur ebenfalls rasend schnell und v. a. in Großstädten wie Berlin, München, Amsterdam, Rom, Zürich oder Barcelona waren die bunten Sprühbilder bald überall zu finden, wobei sie sich unabhängig von den amerikanischen Vorbildern entwickelten.12

Zusammenfassend lassen sich heute innerhalb dieser Art von Graffiti – Skrotzki nennt sie auch American Graffiti (1999) – verschiedene Grundformen bzw. Techniken unterscheiden: Tags – „einfarbige, graphisch gestaltete Signaturen“ (Skrotzki 1999, 31), Throw-Ups – ein- oder zweifarbige, größere Flächen bedeckende und schnell erstellte Schriftbilder, und schließlich Pieces – laut Skrotzki „die Krönung der American Graffiti“ (1999, 33), aufwendig erstellte und großformatige Wandbilder, in deren Zentrum der Name des Produzenten steht, wobei auch bspw. figürliche Elemente (sog. Characters) bei der Ausarbeitung gesprüht werden und Größe, Platzierung13, Originalität und technische Ausarbeitung innerhalb der Sprüher-Szene von großer Bedeutung sind (vgl. Skrotzki 1999, 31-35).

Beispiel für ein <strong>Tag</strong> (???)

Beispiel für ein Tag (Klysner 2010)
(Lizenz: CC BY SA)

Beispiel für ein <strong>Throw-Up</strong> (???)

Beispiel für ein Throw-Up (Patricia 2008)
(Lizenz: CC BY SA)

Beispiel für ein <strong>Piece</strong> (???)

Beispiel für ein Piece (Monj C 2016)
(Lizenz: CC BY SA)

Diese Form (Piece) wird auch als Style-Writing bezeichnet und die konkreten Ausformungen können trotz des unikalen Charakters der Pieces wiederum gruppiert werden (bspw. bauchige Buchstaben als Bubble Style oder Wild Style). Die Technik des American Graffiti entwickelte sich weiter und neue mehr oder weniger verwandte Techniken entstanden. Nicht zuletzt dank einzelner, in der Öffentlichkeit respektierter und geschätzter, Künstler, änderte sich auch die gesellschaftliche Perzeption zumindest gegenüber einige der neu entstandenen Formen.

Mural von Keith Haring erstellt 1984 in Melbourne, Australien (???)

Mural von Keith Haring
 erstellt 1984 in Melbourne, Australien
 (Canley 2014)
(Lizenz: CC BY SA)

Als einer der Begründer der sog. Graffiti-Art gilt Keith Haring, der v. a. in den 1980er Jahren Wände in der ganzen Welt bemalte und dank seinen Kunstwerken nicht nur weltweit bekannt wurde, sondern die Vorstellung über die polarisierenden Graffiti in der Gesellschaft hin zum Positiven verschob (vgl. Lohmann 2017, 23).

Mit der Graffiti-Art stark verwandt ist Street-Art, wobei eine genaue Definition wie auch Kategorisierung des Phänomens noch aussteht und die Grenzen zwischen Graffiti und Street-Art bzw. das Verhältnis zwischen beiden Phänomenen nicht immer trennscharf sind. Auch ist nicht ganz klar, ob Street-Art ein Hyperonym oder Hyponym zu Graffiti ist und welche anderen Formen zu Street-Art zu rechnen sind (so z. B. die Stencils, s. u.) (vgl. dazu die Diskussion bei Müller Philipp-Sohn 2011, 77-91). Sicherlich ist American Graffiti und Street-Art gemein, dass die Aerosoldose bei einem Großteil der Produkte als Erstellungswerkzeug verwendet wird und es sich bei beiden (normalerweise) um ein ubiquitäres Phänomen handelt. Einen deutlichen Unterschied stellen einige Formen dar, die oftmals unter dem Sammelbegriff Street-Art fallen und nicht zu Graffiti gerechnet werden: Sticker, Installationen oder Plastiken. Laut Müller Philipp-Sohn divergiert Street-Art von Graffiti besonders dadurch, dass bei ersterer das „Bild“ („Icon“) das zentrale Element ist, bei letzteren dagegen das „geschriebene Wort“14, wodurch Street-Art „global verständlich“ wird und potentiell ein breiteres Publikum erreichen kann (Müller Philipp-Sohn 2011, 77-78). Die häufigere Verwendung von Ikonen und die breitere Palette an technischen Mittel zur Gestaltung von (öffentlichen) Räumen sind jedoch nicht allein Unterscheidungsmerkmale, sondern (auch hier besonders) wichtig ist der, wie Beuthan es nennt, „Einschuss an Reflexivität“ (2011, 138). Die (Kunst-) Werke der Street-Art verweisen „z. B. [auf] ihre urbane, kommunikative und soziale Umwelt […] mit allen dabei zur Verfügung stehenden Mitteln“, im Gegensatz zu den Graffiti (i. S. v. Style-Writing), die in naiverer Manier „nur um den Ausdruck“ (gemeint ist die Gestaltung) bemüht sind und ihnen der „Witz“ (gemeint ist das zur Reflektion anregende, bei Street-Art zentrale Moment) fehlt (Beuthan 2011, 138-139). Der aktuell bekannteste Street-Art Künstler, der es regelmäßig schafft durch seine Werke (meist gesprühte Stencils oder Murals) nicht nur auf sich aufmerksam zu machen, sondern v. a. die Betrachter zum Nachdenken zu bringen, ist Bansky. Ein wahrer Meister, der durch seine ‘witzreichen’ Werke soziale und politische Missstände kritisiert und eben jene Reflexionen hervorruft. Seine, wie auch jene der vielen anderen teils international bekannten Künstler,  Bilder werden tausendfach in den neuen Medien (Twitter, Instagram, Facebook usw.) geteilt.

Street-Art von Banksy in Betlehem, Israel (???)

Street-Art von Banksy in Betlehem, Israel
(Ryszawa 2008)
(Lizenz: CC BY SA)

In meinen Augen ist Street-Art, was die Definition betrifft, ebenso schwammig wie Graffiti und lediglich als Sammelbegriff zu verwenden, da auch hier nicht klar ist, nach welchen Kriterien unterschieden wird.

Eine weitere Untergruppe der Graffiti sind die sog. ‘Schlichten Formen’. Die potentiell aus Schrift und Bild bestehenden Graffiti beschreibt Lohmann als jene Formen, die „mit spontan verfügbaren Schreibmaterialien, v. a. Blei-, Filzstiften oder Textmarkern z. B. in öffentlichen Toiletten oder in der unmittelbaren Nähe von Touristenattraktionen angebracht werden“, also Erinnerungs- und Toilettengraffiti (2017, 28). Skrotzki geht weiter und unterscheidet die American Graffiti, bei denen die äußere Form (der Style) wichtig ist, von den Formen, bei denen die Form sekundär und der zu vermittelnde Inhalt wichtig ist. Diese schlichten Graffiti bezeichnet er an anderer Stelle als Protest– oder Parolengraffiti (vgl. 1999, 7-9). Weitere Beispiele für schlichte Graffiti wären Namens- und Grußgraffiti, Kindergraffiti, Gefängnisgraffiti oder zusammenfassend Wort-, Symbol- oder Parolengraffiti (vgl. Klee 2010, 109). Ausschlaggebend ist die im Vergleich zu American Graffiti einfachere Ausarbeitung. Eine (heute) sehr verbreitete Form, die meiner Ansicht nach nicht so einfach zugeordnet werden kann, sind die sog. Poichoirs oder Stencils, wobei Motive anhand einer Schablone, die als Negativ oder Positiv fungieren kann, mit Sprühfarbe angebracht werden.

Zwei Stencils, Rom

Zwei Stencils, Rom
(ScriMuRo)

Diese in Paris in den 1980er Jahren von Blek Le Rat erfundene Form unterscheidet sich neben der Verwendung von Schablonen insofern von den Pieces, als letztere stets Unikate sind, Stencils dagegen meist in höherer Zahl gesprüht werden (vgl. Skrotzki 1999, 35-36; Lohmann 2017, 22). v. a. aber werden bei den Stencils selten die Pseudonyme der Produzenten (wie das bei den Tags und Pieces der Fall ist) verschriftlicht, sondern die Inhalte variieren. Aufgrund der oft schlichteren Form (meist mono- oder bi-koloriert), könnte man sie den schlichten Formen zuordnet, obwohl die Technik auch häufig im Bereich der Street-Art verwendet wird und hier anspruchsvolle Ausarbeitungen zu finden sind. Die Funde im Rahmen meiner Feldforschung zeigen, dass Stencils besonders im Bereich der Protest- und Parolengraffiti verwendet werden.

Ich möchte an dieser Stelle kurz auf etwaige Gemeinsamkeiten und Unterschiede der antiken und modernen Graffiti eingehen, die sich laut Lohmann sowohl in „Form, Technik, und Verbreitung“ unterscheiden (2017, 19). Ein erster Punkt ist die Frage der Illegalität, die ich weiter oben bereits angesprochen habe. Es ist eine Tatsache, dass das Erstellen von Graffiti heutzutage, bis auf wenige Ausnahmen wie Auftragsarbeiten oder auf dafür bestimmten Flächen, eine Beschädigung fremden Eigentums ist und daher ein Rechtsproblem darstellt.15 Außerdem hat diese strafrechtliche Seite sicherlich Anteil an der allgemeinen negativen Perzeption von modernen Graffiti als ‘Geschmiere’ gehabt. Neben einer größeren Akzeptanz der breiten Masse (dazu gleich mehr) gegenüber den heutigen Formen, kann man auch davon ausgehen, dass unter bestimmten Umständen oder in bestimmten Räumen Graffiti zumindest von einem nicht unbedeutendem Teil der Bevölkerung toleriert werden.16 Weicht man illegal etwas auf und ersetzt es durch das neutralere ungefragt, wie dies bspw. bei Schrage und Siegl in ihrer sehr breit gefassten Definition17 geschieht, so lässt sich dieses Attribut auch auf antike Graffiti (und darüber hinaus) ausweiten und ist damit den beiden Formen gemeinsam. Wie oben erwähnt, wird ab dem 18. Jahrhundert zwischen graffiti und dipinti unterschieden (vgl. Lohmann 2017, 3-15, Northoff 2005, 52-53), wobei dipinti „Auftragsarbeiten gegen Bezahlung“ (also nicht ungefragt) sind und in diesem Sinne mit den Monumentalinschriften gleichzusetzen sind (vgl. Lohmann 2017, 15). In welchem Ausmaß Graffiti Teil der römischen Gesellschaft waren, ist bei Langner nachzulesen:

Das Beschreiben von Wänden war allerorts ganz üblich, wie die antiken Quellen belegen, und die meisten Römer hatten schnell einen Nagel oder gar einen stilus zur Hand. Den Unterschied muß man sich klar vor Augen halten, was in der Forschung bislang kaum der Fall war. […] [In] der Antike finden sich Graffiti überall, allerdings nur selten in Toiletten oder versteckten Ecken. Ebensowenig mußte man sich eines Vergehens schuldig fühlen, das als Sachbeschädigung strafrechtliche Folgen hätte.(Herv. im Orig.; 2001, 20)

Fraglich ist, ob die Behauptung, dass Graffiti in den antiken Städten ‘überall’ zu finden waren, ausreicht, um antike von modernen Graffiti zu differenzieren. Die Frage ist, was bedeutet ‘überall’ und ob sich in heutigen Städten nicht auch ‘überall’ (wenn man Fläche und Einwohnerzahl berücksichtigt) zu finden sind und wenn nicht, warum nicht? Eine der Fragestellungen dieser Arbeit ist die räumliche Verteilung der Scritte Murali in Rom und es wird sich zeigen, dass es normalerweise nicht an den Produzenten liegt, dass es Orte gibt, an denen nur wenige Scritte zu finden sind (American Graffiti nicht mit eingerechnet). Eine weitere Gemeinsamkeit sind die verschriftlichten Inhalte der Graffiti, auch wenn sich die thematische Bandbreite heute stark erweitert hat. Sowohl zu Zeiten des Römischen Reiches als auch heute wurden und werden Anwesenheitsnachlasse und Grüße, Sexuelles und Erotisches, Fäkales und Beleidigungen, aber auch Liebesbotschaften verarbeitet (vgl. Lohmann 2017, 28). Laut Northoff wurden die erotischen und sexuellen Inhalte „mehrheitlich in jener heute noch typischen Sprache, die viele Menschen Graffiti als etwas Schmutziges empfinden lässt“ angebracht (2005, 54), Liebesgraffiti in dagegen oft in gebundener Form, angelehnt an zeitgenössische Dichter wie z. B. Ovid, wobei sich sicherlich eine gewisse Ungeschicktheit erkennen lässt (2005, 72). Aber eben auch Namens- und Erinnerungsgraffiti, Poetisches und Nachdenkliches, Informationen im Sinne von heutigen Nachrichtenbörsen oder Anzeigen, Beschreibungen und Bekanntmachungen zu Gladiatoren oder Wahlaufrufe sind in Pompeji zu finden (vgl. Northoff 2005, 62 und 97-107 und Lohmann 2017, 5).18  Weiterhin gemeinsam ist der alten und neuen Form des Phänomens, dass sich Erstellungstechniken wie die Trägerflächen, in ihrer Essenz nicht verändert, sondern maximal (v. a. aufgrund der Erfindung neuer Schreibgeräte und potentieller Träger) erweitert haben (vgl. Northoff 2005, 111), was aus dieser Perspektive konträr zu Lohnmanns Aussage, dass sich die Formen „technisch“ klar unterscheiden (s. o.), steht. Auch lassen sich die strukturellen Merkmale der Graffiti aus der römischen Zeit, wie sie Lohmann formuliert, ohne Probleme auf die moderne Form übertragen (wodurch der proklamierte Unterschied zwischen den Formen immer geringer ausfällt):

Graffiti werden in der Forschung üblicherweise als privat, inoffiziell und informell bezeichnet: privat, weil sie persönliche Gedanken, Anliegen und Nachrichten enthielten; inoffiziell, weil sie nicht im Auftrag oder mit Genehmigung Anderer angefertigt wurden; informell, weil sie keinen inhaltlichen und formalen Vorschriften folgten.(Herv. SL; 2017, 14)

Unterschiede zu finden, ist weitaus schwieriger. Lohmann und Langner heben hervor, dass antike Graffiti zwar ungefragt aber (vermutlich) nicht illegal waren und sich daraus einer der (Haupt-) Gründe ergibt, die Formen klar voneinander zu differenzieren (s. o.). Der Aspekt ‘legal-illegal’ stellt jedoch ein zu marginales Element dar, um eine so deutliche Unterscheidung zu rechtfertigen. Lohmann nennt als weiteres Unterscheidungsmerkmal die Spontaneität der Produzenten, die „entsprechend ihrem künstlerischen Anspruch“ und der damit verbundenen Vorarbeit und Planung heute stark eingeschränkt sei, wogegen „antike Graffitischreiber umgekehrt wohl meist spontan dort schrieben, wo sie sich eben gerade aufhielten“, was wiederum eine unterschiedliche Motivation und Intention impliziere (vgl. 2017, 25). Das trifft jedoch lediglich auf einen Teil der heutigen Formen zu und ist daher nur teilweise als Argument zu werten. Auch die aus der unterschiedlichen technischen Ausführung resultierende Form ist ein zu diskutierender Punkt. Die Schrift in den antiken Graffiti ist heute „zunächst schwer lesbar“, die Kursive waren jedoch eine „gängige Form von Schreibschrift“, so Lohmann (2017, 27). Style-Writing sei heute auch (für jemanden der sich in der Szene nicht auskennt) schwer zu entziffern, allerdings sei dies von den Produzenten so gewollt, da genau dies ein „eigens entwickeltes Alleinstellungsmerkmal“ sei (Lohmann 2017, 27). Übersehen wird hierbei jedoch, dass sich auch dieses Kriterium nur auf einen ganz bestimmten Teil der aktuellen Graffiti (nämlich die Tags, Throw-Ups und Pieces) anwenden lässt – viele Kategorien der schlichten Formen, werden ebenfalls in heute ‘normalen’ Schriftformen und spontan erstellt. Also auch hier lassen sich weniger Unterschiede feststellen, als dies von einigen Autoren suggeriert wird.

Ein klarer Unterschied – der durch die empirischen Arbeiten im Bereich der Archäologie im Verbund mit den Ergebnissen dieser Arbeit zu Scritte Murali aus dem 21. Jhd. belegt werden kann – ist, dass interessanterweise in den pompejanischen Inschriften der thematische Bereich der Politik nicht zu finden ist, was im klaren Unterschied zu den heutigen Graffiti steht. Während in Pompeji Wahlempfehlungen zu finden sind, so kommt es an den Wänden so gut wie nie zu politischen Protesten, wie dies in Rom sehr wohl der Fall war, wo bspw. Nero-Statuen mit Graffiti kommentiert wurden (vgl. Northoff 2005, 101 und Lohmann 2017, 28).

Der Blick auf den geschichtlichen Verlauf der Begriffsverwendung von Graffiti und die Bedeutungserweiterung hat v. a. eines gezeigt: er kann nichts anderes sein, als ein komplexer Sammelbegriff, der eine Vielzahl von völlig unterschiedlichen Ausprägungen beschreibt, wobei selbst Untergruppen oft nur schwer zu fassen sind. Gleichzeitig ist eindeutig eine gewisse ‘Verwandtschaft’ auf verschiedenen Ebenen zwischen all den Formen erkennbar. Verschiedenste Konstituenten der Formen werden als gemeinsamer Knotenpunkt verwendet, um die Bezeichnung als Graffiti für die jeweilige Form zu rechtfertigen. Solche binominalen Bezeichnungen verweisen indirekt auf ein Kategorisierungsverfahren: Ein Teil des Ausdrucks gibt den Typus der übergeordneten Kategorie ‘Graffiti’ an (also z. B. Graffiti in denen Namen verschriftlicht werden), wodurch Laien wie Wissenschaftler schon einiges an Informationen ableiten können. Gleichzeitig werden jedoch unterschiedliche Grundlagen für die Kategorisierung impliziert: Erstellungstechnik (Schmauchgraffiti, Stencils), äußere Form (Style-Writing), Trägerflächen (Whole-Train), inhaltlich-thematische Aspekte (Liebesgraffiti, Namensgraffiti), Intention(en) seitens der Produzenten (Erinnerungs-, Protestgraffiti) usw.. Die verbindenden Ebenen werden in den wissenschaftlichen Arbeiten vermischt und heterogen verwendet, wobei oft nicht einmal explizit auf die Problematik der Terminologie hingewiesen wird. Es entstehen teils widersprüchliche Aussagen, aber v. a. wird oft übersehen, dass es (vermutlich) nicht möglich ist, eine allgemeingültige, umfassende Definition zu geben. Um mindestens Untergruppen bilden zu können, muss der Wissenschaftler darlegen, welche Sichtweise er einnehmen möchte und sich von unklaren Definitionen distanzieren. Das methodologische und analytische Vorgehen hängt stark von diesem ersten Schritt ab.

Als wäre es noch nicht verwirrend genug, beschränkt sich der Begriff Graffiti leider nicht auf die bisher beschriebenen Formen. In vielen Arbeiten zu Graffiti (aus unterschiedlichsten Perspektiven) wird dem Phänomen ein Ursprung in der prähistorischen Zeit zugeschrieben und neben den zwei großen Blöcken (20./21. Jhd. und Römisches Reich) scheinen Graffiti ‘immer schon’ ein Teil der Menschheit gewesen zu sein. Dabei ist der Grundgedanke – oder zumindest hat es dies zum Anschein -, dass es sich bei Graffiti um eine Praktik handelt, die eventuell sogar zu den ureigenen Bedürfnissen der Menschen gehört. Nachfolgend werde ich die Verwendung des Begriffs aus Sicht des Ursprungs und über verschiedene Epochen hinweg knapp zusammenfassen und auch hier versuchen, verbindende Elemente zu extrahieren.

2.1.2. Zur Diskussion des Ursprungs und Begriffsverwendung

Laut dem Volkswissenschaftler Peter Kreuzer hat es „Graffiti schon immer gegeben, im Mittelalter, im Altertum, in vorgeschichtlicher Zeit“ (1986, 8). Unter dem Eintrag ‘Geschichte der Graffiti’ in seinem Graffiti-Lexikon (1986) knüpft er die Geschichte der Graffiti an die „Zeiteinteilung der Historiker. Die gliedern in 1. vorgeschichtliche (= prähistorische), 2. geschichtliche (= historische) Zeit. So gibt es auch 1. vorgeschichtliche = prähistorische und 2. geschichtliche = historische Graffiti(Herv. SL; Kreuzer 1986, 107) und sodann antike, mittelalterliche, neuzeitliche und gegenwärtige Graffiti. Prähistorische Graffiti konstituieren sich dabei aus „Graffiti-Zeichen“19, „Symbolen“20 und „Bilder-Graffiti“21, „Schrift-Graffiti“22 treten dagegen erst ab der historischen Zeit auf (vgl. 1986, 107). Die prähistorischen Graffiti wurden in Höhlen (Kreuzer verweist dabei auf die sog. ‘Höhlen-’ und ‘Höhlenbären-Graffiti’), auf Felswänden (Petroglyphen), – platten, -brocken und Steinen angebracht, welche in der ganzen Welt zu finden sind und sowohl gemalt als auch gekratzt wurden (vgl. Kreuzer 1986, 428). Kreuzer nennt einige Fundorte von „altsteinzeitlichen Graffiti“, welche auf ca. 40 000 – 30 000 v. Chr. datiert sind (u. a. Höhlen in Solutré, Front-de-Gaume oder Lascaux in Frankreich sowie Morella la Valla, Cueva de la Arafin oder Las Batuecas in Spanien), aber auch jüngeren Abbildungen, wie den Sahara-Graffiti, die sich in Algerien am und im Atlasgebirge befinden und ungefähr in der Zeit zwischen 10 000 und 1500 v. Chr. entstanden. Interessanterweise sprechen die von Kreuzer zitierten Kley und Graupner nicht von Graffiti, sondern von „naturalistischen Bilder“, „Felsbildern“, „Bildergeschichten“, „Felsmalereien“ und „Steingravuren“ und auch Kreuzer selber erklärt nicht, warum er diese Funde (sowohl in den Höhlen als auch in Afrika) als Graffiti einer prähistorischen Zeit bezeichnet (vgl. 1986, 429-431). Unter Höhlenbilder versteht er von Menschen der ausgehenden Altsteinzeit (120 000 bis 10 000 v. Chr.) an Höhlenwände gemalte, gesprühte oder gekratzte Bilder, ohne dabei den Begriff Graffiti zu verwenden (vgl. 1986, 152). Höhlenbären spielen für Kreuzer in der Geschichte der Graffiti insofern eine wichtige Rolle, als die Steinzeitmenschen diesen Tieren „das Graffiti-Zeichnen abgeschaut haben“, womit er sich auf die Technik (Etwas-in-Wände-kratzen) bezieht und dabei auf Aussagen von Prähistorikern verweist (vgl. 1986, 151). Der zitierte Forscher Károly Földes-Papp selbst spricht nicht von Graffiti, sondern von einer „erste[n] Anregung zur zeichnerischen Tätigkeit an der Höhlenwand“ (1975, 8), zumindest in der deutschen Fassung des zitierten Werkes Vom Felsbild zum Alphabet. Die Geschichte der Schrift von ihren frühesten Vorstufen bis zur modernen lateinischen Schreibschrift (1975) – der Titel der italienischen Version dagegen lautet interessanterweise Dai graffiti all’alfabeto. La storia della scrittura (1985).

Eine explizite Gleichsetzung Wandbild – Graffiti geschieht schließlich bei der Erläuterung zur Höhle in Lascaux, in der die Wandbilder als „sehr frühe Graffiti“ beschrieben werden (Kreuzer 1986, 197-198). Die vormals erwähnten Petroglyphen bezeichnet der Autor ebenfalls als „vorgeschichtliche Feld-Graffiti“, welche sog. Sinnschriften trugen, einer Vorstufe der Sprachschriften (vgl. Kreuzer 1986, 262).

Der Autor setzt also die Phänomene Wand-/Felsbild, Kunstwerk und Graffiti gleich, gibt jedoch zu keinem Moment an, wie er zu dieser Gleichung kommt. Für ihn begann das Phänomen Graffiti in prähistorischer Zeit, vermutlich, weil für den Autor (zumindest bis zu einem gewissen Grad) die Technik oder allgemein die Praktik, Wände mit Zeichen (im weitesten Sinne des Wortes) zu versehen, ausschlaggebend ist.

Auch Beat Suter sieht in den prähistorischen Wandmalereien die Wiege der Graffiti, die er „als in Mauern eingeritzte Zeichen und Inschriften“ versteht (1994, 9) und sich bei der Begründung wohl auf das Lexikon von Kreuzer bezieht. In den Ausführungen variabel, sprechen sich u. a. auch Boese (2003) und Skrotzki (1999) für die These aus, dass Graffiti bereits in der Prähistorie existierten. Skrotzki argumentiert dabei, dass beide Formen – prähistorische Höhlenmalerei und American Graffiti – „benutzen die Wand als Medium, […] wollen eine Botschaft transportieren, und beiden liegt eine durchdachte Farbgebung zugrunde“ und daher sind moderne Graffiti die Fortsetzung der „Beschriftung und Bemalung der Wände seit der Steinzeit“ (1999, 13). Richtig bemerkt der Autor, dass die Entwicklung innerhalb einer solchen Praktik eine wichtige Rolle spielt, bei den drei Argumenten – beide nutzen die Wand, wollen etwas kommunizieren und die bewusste Farbwahl – fehlt es m. A. nach jedoch an Erläuterungen. Bis zu welchem Grad sind die Wände einer europäischen Großstadt gleichzusetzen mit den Höhlenwänden der Steinzeit?23 Eine ‘Botschaft transportieren’ ist sicherlich für beide Formen gültig, aber bis zu welchem Grad wären die funktionellen Faktoren um diese Botschaft für beide Formen gleich, würde man beide Formen nach einem wissenschaftstheoretischen Kommunikationsmodell analysieren? Das Argument der Farbgebung scheint dabei das stabilste. Allerdings scheint es mir gewagt, die Tatsache, dass sich bei Höhlenmalereien und American Graffiti eine bewusste Farbwahl erkennen lässt, als Begründung für eine so direkte Verbindung zwischen den Jahrtausende auseinanderliegenden Phänomenen zu nehmen. Diese drei Argumente, wie sie hier stehen, beschreiben eher ‘Wandmalerei’, zu welcher man eventuell bestimmte Formen (man denke bspw. an Werke der Street-Art, die besonders bildliche Abbildungen zeigen) der Graffiti rechnen kann. Der Autor nennt als Beispiele für prähistorische Graffiti die Höhlenmalereien in Lascaux (Frankreich) und Altamira (Spanien) sowie die „Bilderfelsen“ im schwedischen Tanum aus der Bronzezeit (1999, 13-14).

Kritik an der frühen Ursprungsthese findet man bei Hofmann (1985) und Northoff (2005), der sich teilweise auf Hofmann bezieht. Detlef Hofmann weist einen Zusammenhang zwischen Höhlenmalereien und zeitgenössischen Graffiti entschieden zurück, erkennt jedoch eine Verbindung zwischen Inschriften aus dem alten Ägypten bzw. der Römischen Antike und den heutigen Mauerschriften (vgl. 1985, 17-38).

Um eine solche Behauptung [gemeint ist eine Gleichsetzung von Höhlenmalerei und modernen Graffiti] auch nur mit dem Anflug eines Beweises umgeben zu können, muß so lange abstrahiert werden, bis die Nahezu-Identität übrig bleibt. Wer Höhlenritzung und Klozeichnung zu fast Gleichem erklärt, muß von den gesellschaftlichen Zusammenhängen genau so absehen wie von der formalen Ordnung der gesamten Wand. Die Behauptung, daß Höhlenritzung und Klozeichnung fast gleich seien, ist genau so banal oder tiefsinnig, wie die Behauptung, Sexualität habe schon immer im Leben des Menschen eine Rolle gespielt.(Hofmann 1985, 18)

Die Zurückweisung der prähistorischen These stützt Hofmann auf folgende Punkte: Einerseits gab es (bis zum Erscheinen des Artikels) schlicht zu wenig „wissenschaftlich profunde Sammlungen von Graffiti“ (1985, 18). Andererseits sieht er für zeitgenössische (also moderne) Graffiti zwei Voraussetzungen, wodurch sie sich grundlegend von älteren, insbesondere von prähistorischen, Graffiti-Formen differenzieren:

Die erste ist die Entstehung der bürgerlichen Öffentlichkeit. Elemente der neuen Gesellschaftsordnung bilden sich mit dem frühen Finanz- und Handelskapitalismus, der seit dem 13. Jahrhundert von den oberitalienischen Städten ausgeht. Von der alten Herrschaftsordnung können diese Elemente jedoch mühelos integriert werden. […] Die zweite Voraussetzung für unsere zeitgenössischen Graffiti ist die Industrialisierung der Reproduktion, die Fotografie.(1985, 18)

Dadurch, dass sich Graffiti-Produzenten Wände aneignen, deren Besitzer sie nicht sind, und dies unter der Prämisse, vom Recht der freien Meinungsäußerung Gebrauch zu machen und zwar außerhalb der Medien, die unter der Kontrolle anderer steht, treten sie in ein besonderes Verhältnis zur „zentrale[n] Kategorie des Bürgertums: den Besitz“ (Hofmann 1985, 19). Trotz der Verschriftlichung diverser Thematiken, haben Graffiti, so Hofmann, eine Gemeinsamkeit: die Spannung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit – „Ein Stück Privatheit wird veröffentlicht“ (1985, 19). Überdies sind Graffiti für Hofmann ein „Zeichen fortgeschrittener Alphabetisierung“, was den prähistorischen „Bild-Graffiti“ und Zeichnungen, wie sie oben beschrieben wurden, offensichtlich konträr gegenübersteht (1985, 19). In Bezug auf Namensinschriften in Ägypten negiert er eine anthropologische Konstante der Menschheit, sondern verweist anhand mehrerer (historischer) Beispiele auf die besondere Struktur der damaligen Großreiche, welche seiner Einsicht nach von einer „komplexen Infrastruktur“ und einem „hohen Mobilitätsgrad“ geprägt waren und in denen sich bspw. Söldner der Öffentlichkeit mitteilen wollten (1985, 20). Hofmann verweist dabei auf einen wichtigen Aspekt – die Kommunikationsabsichten, bei ihm am Beispiel der Graffiti und den sog. dipinti in Pompeji, die für ihn Texte sind, „die nicht den festgelegten Weg der Meinungsäußerung benutzen“ (1985, 22)

Northoff sieht die vorgeschichtliche These ebenfalls kritisch und geht von einem Beginn der (verbalen) Graffiti in der Römischen Antike aus, wobei er seine These auf den Vergleich aktueller Graffiti und jener aus Pompeji stützt (vgl. 2005, 43-123). Northoff unterstreicht die Bedeutung des Trägermediums (= Wand), das den entscheidenden Unterschied ausmacht, „da vor der Erfindung von Tontafel, Papyrus, Papier etc. keinem Menschen ein anderes Trägermedium für die Hinterlassung von Malereien, Zeichnungen oder Zeichen offen stand, als natürliche oder von Menschenhand erschaffene Wände bzw. Flächen“ und sich daher „[e]rst mit den für die Allgemeinheit zu teuren und nur den Oberen zugänglichen ersten papierartigen und Papier- Unterlagen […] eine eindeutig inoffizielle Beschriftungs- Form der Wände entwickelt haben [konnte]“ (2005, 123). Sicherlich müssen diese Faktoren berücksichtigt werden und trägt man den extremen Entwicklungen in den kulturellen und gesellschaftlichen Strukturen allein der letzten 2000 Jahren Rechnung, so wird deutlich, dass es umso schwieriger ist, ein Phänomen, welches dem Anschein nach gesellschaftlich bedingt ist, für die letzten 100 000 Jahre zu generalisieren.

Nimmt man den Aspekt der Motivation seitens der Produzenten, um eine Konstante zwischen prähistorischen Malereien und späteren Graffiti zu finden, so sprechen einige Indizien dafür, dass die Motivation der Höhlenmalereien eher in rituellen Gründen lag. So wurden z. B. Tierbilder gemalt, um bestimmte Jagdzauber heraufzubeschwören, wobei bestimmte Tänze aufgeführt wurden und die Zeichnungen mit Pfeil und Speer ‘gejagt’ wurden (solche Szenen wurden teilweise auch auf den Wänden dargestellt) (vgl. Kreuzer 1986, 152 und besonders Földes-Papp 1975, Kapitel I). Der ungarische Forscher Földes-Papp betont in seinem viel rezipierten Werk Vom Felsbild zum Alphabet, dass „die Magie den Hauptimpuls dieser Kunstausübungen bildete“ (1975, 10 und allgemein Kapitel I.2.). Aufgrund der großen Gefahren durch Naturkatastrophen, Seuchen und den vorzeitlichen Tieren, lebte der Mensch in der Altsteinzeit in ständiger Angst. In diesem relativ schutzlosen Zustand, versuchten die Ur- und Frühmenschen durch Magie die überlebenswichtigen Bereiche ihrer Existenz zu beeinflussen:

Die Jagdmagie sollte in wunderbarer Fernwirkung den Jägern Mut zum Kampf einflößen, ihn vor Gefahr schützen und die Beute garantieren. Die Totenmagie sollte den erfolgreichen Jäger vor der Rache des erlegten Tieres bewahren.(Földes-Papp 1975, 13)

Der Forscher beschreibt dabei zwei wichtige Faktoren, welche die ‘prähistorische These’ noch fraglicher erscheinen lässt. Erstens der Fundort – die magischen Felsbilder sind tief in den Höhlen versteckt (bis zu 700 Meter, wie bspw. in der berühmten Tuc d’Audoubert Höhle). Diese Tatsache ist für Földes-Papp ein unmittelbarer Beweis für die Verwendung der Felsbilder aus magisch-ritueller Motivation (vgl. Földes-Papp 1975, 13-17). Antike (wie auch moderne) Graffiti jedoch befinden sich im öffentlichen oder mindestens halb-öffentlichen24 Raum. Der Begriff Öffentlichkeit lässt sich nur schwer bzw. nur stark abstrahiert auf die Altsteinzeit übertragen – auf die Antike oder sogar das Alte Ägypten jedoch relativ problemlos. Zweitens wurden nicht nur die Rituale selber von Einzelpersonen (Magiern) durchgeführt, sondern – aufgrund der zentralen Bedeutung für das Leben der eiszeitlichen Menschen – wurden auch die Bilder, die selber Teil der Magie waren, von den „allerbesten Künstler[n]“ angefertigt (Földes-Papp 1975, 23). Dies impliziert jedoch, dass nur ein ganz bestimmter – wenn man so will ‘ausgewählter’ – Teil der sozialen Struktur als Produzent aktiv wurde, was offensichtlich im klaren Kontrast zur (potentiellen) Produzentenmenge in der Antike steht. Die sozialen und alltäglichen Umstände sind für die Höhlenmalereien mehr als sinnstiftend, wie Földes-Papp zusammenfasst:

Warum haben aber die hervorragenden Künstler der Eiszeit keine echte Bilderschrift zustande gebracht, obwohl sie technisch vollkommen über die zeichnerischen Mittel verfügten? Weil sie, ganz von der Magie gefangen, noch kein Interesse daran haben konnten. Die Jäger und Sammler der Eiszeit waren immer nur während einer Jahreszeit seßhaft. Ihr Interesse kreiste in dem engen Bereich des bloßen Überlebens, so daß in ihnen kein Bedürfnis nach Mitteilung schriftlicher oder darstellerischer Art entstehen konnte – außer den magischen Aufzeichnungen und den spielerischen Ornamentierungen. Der harte Nahrungserwerb ließ dem eiszeitlichen Jäger keine Zeit für Muße und nicht genügend Kraft für andere Interessen als die Befriedigung seiner Triebe, der auch die Magie diente. […] Die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnisse der Eiszeit schlossen das Bedürfnis nach einer Schrift im Sinne alltäglicher Mitteilungen oder überhaupt der Kommunikation mit dem Mitmenschen völlig aus; einzig eine magisch beschaffene Zeichen- und Gemäldeschrift konnte entstehen.(Herv. SL; 1975, 27)

Entscheidend ist hier im letzten Satz, dass „Kommunikation mit de[n] Mitmenschen“ in Form von „alltäglichen Mitteilungen“ nicht der Motivationsgrund für die Höhlenmalerein sein konnte. Das gerade das sowohl bei antiken als auch modernen Graffiti der Fall ist, muss nicht weiter erklärt werden. Eine solche Verwendung von Wänden für rituelle Handlungsabsichten, hat also mit den Intentionen der antiken Graffiti der Römerzeit und den heutigen Graffiti als Kulturphänomen recht wenig gemein. So wird zunächst davon Abstand genommen, antike wie aktuelle Graffiti und Felsmalereien als ein Phänomen zu sehen.

Eine Form, die immer wieder in der Diskussion um den Beginn der Graffiti genannt wird, sind die Namens- oder Erinnerungsgraffiti aus dem alten Ägypten. Der Ägyptologe Friedhelm Hoffmann spricht in seiner Arbeit Ägypten Kultur und Lebenswelt in griechisch-Römischer Zeit (2000) explizit von „Graffiti“, wobei er den Leser gleichzeitig in einer Fußnote bittet, sich von „negativen Assoziationen“ zu befreien, die „man mit modernen Graffiti“ verbindet (2000, 226):

Ägypten ist zu Recht ‘das klassische Land der Graffiti’ genannt worden.[…] In der Ägyptologie benutzt man den Terminus ‘Graffiti’ im weiteren Sinne und versteht darunter nicht nur eingeritzte sekundäre Inschriften sondern auch mit Farbe oder Tinte geschriebene (eigtl. ‘Dipinti’).(Hoffmann 2000, 226)

Bereits ab dem Alten Reich (ca. 2700 – 2200 v. Chr.) entstanden zahlreiche Schriften auf „Tempelwänden und -dächern, in Gräbern, an Felsen, Statuen usw.“ (Hoffmann 2000, 226), wobei die Bedingung der ‘Öffentlichkeit’ teilweise erfüllt wäre. Jedoch handelt es sich bei solch frühen Schriften oft um Gebete, die spezifischen Formularen folgen (vgl. Hoffmann 2000, 227), und sind somit mit Blick auf die Motivation eher den magisch-rituellen Bildern ähnlich (s. o.).

Ein konstantes Element, dass in „menschlichen Niederbringungen an wie immer gearteten ‘Wänden’“ seit der Vorzeit bis heute immer wieder zu finden ist, sind die Zeichnungen (Northoff 2005, 109). Die zahlreichen Inschriften im (Mittleren und Alten) Reich der Ägypter markieren dabei einen Bruch, da hier erstmals Schriftzeichen verwendet werden (vgl. Northoff 2005, 109).

Interessanter sind die zahlreichen Namensinschriften (zum Teil datiert), die bis in das Römische Reich reichen und v. a. von der hohen Mobilität innerhalb des Reiches zeugen. Neben Soldaten aus Söldnerheeren, haben sich auch allgemein Reisende an den verschiedensten Orten verewigt – mit ihrem Namen oder längeren Inschriften z. B. in Form von Reiseberichten (diese Inschriften wären dann eher als Erinnerungsgraffiti zu bezeichnen). Auch Bauberichte oder Abrechnungen aus Kornkammern sind heute noch zu finden und geben Einblicke in die damaligen Lebensumstände. Festzuhalten ist dabei, dass es zum einen die Vernetzung des Reiches und die Mobilität der Einwohner erlaubte, zu reisen und die Reisenden anscheinend den Drang verspürten, dies der Nachwelt bzw. Öffentlichkeit mitzuteilen, und zum anderen, dass diese Reisenden fähig waren zu schreiben (vgl. Hofmann 1985, 20, Hoffmann 2000, 227-233).25 Northoff bemerkt jedoch, dass selbst von den vielen (Namens-)Inschriften im Alten Reich der Ägypter nur wenige „mit einiger Sicherheit als Graffiti identifiziert werden“ können, da das Anbringen religiös motiviert war (ein jenseitiges Weiterleben sollte damit erreicht werden) (2005, 111).

Ob die (Gebets- und religiösen Namens-)Inschriften aus dem Alten Ägypten nun tatsächlich als die ersten Zeugnisse der Praktik Graffiti gelten können, ist an dieser Stelle nicht zu beantworten. Solange die Diskussion zu alt-ägyptischen Inschriften nicht abgeschlossen ist, wird im Rahmen dieser Arbeit davon ausgegangen, dass man erst ab dem Römischen Reich mit Sicherheit von einer „volkskundlich relevante[n] Äußerungsform“ bzw. Kulturphänomen (das man als Graffiti bezeichnet) sprechen kann (Northoff 2005, 111). Seitdem wurden unzählige Inschriften in Felsen, Wände, Torbögen oder sonstige Oberflächen geritzt oder aufgetragen. Aufgrund der Vergänglichkeit von Graffiti, müssen sich die Graffitiforscher – Graffitiforschung gibt es seit ca. 200 Jahren – allerdings mit den erhaltenen Inschriften zufrieden geben. Zeitgleich mit dem historischen Ende des Römischen Reiches (ca. 400-900 n. Chr.), entstanden lesbare Graffiti in der spätklassischen Phase der Maya-Kultur. Northoff erklärt dies dadurch, dass wenn es „Schriftlichkeit als einigermaßen im Volk verbreiteten Teil der Kultur gab“, es auch seit jeher zu inoffiziellen Schriften (also Graffiti) gekommen ist und dies ungeachtet von interkulturellen Kontakten (2005, 115). Außer den vielen Zeichnungen in den Maya-Tempeln, wurden auch Graffiti in Form von hieroglyphischer Schrift gefunden (Webster 1963, 38 und 47).

Wikinger Inschrift in der Hagia Sofia, Istanbul

Wikinger Inschrift in der Hagia Sofia, Istanbul 
(Egil 2007)
(Lizenz: CC BY SA)

Auf einer Ballustrade in der Hagia Sofia im heutigen Istanbul sowie auf den Orkney-Inseln26 wurden u. a. Namensinschriften von Wikingern aus dem 10. und 11. Jhd. gefunden.

Besonders interessant ist der sog. Inscription Rock oder El Morro, einer massiven Felsformation, wo neben zwei Anasazi Dörfern (eines davon aus dem Jahr 1275 n. Chr.) auf der Spitze der Formation, Graffiti gefunden wurden, die über mehrere Jahrhunderte an der gleichen Stelle angebracht wurden. Neben prähistorischen Wandmalereien und Ornaments- und Tierzeichnungen aus der Zeit zwischen 450 und 1300 n. Chr., wurden (Namens-/Erinnerungs-) Graffiti, die seit dem 17. Jhd. erstellt wurden gefunden. Siedler, Soldaten, Pioniere, Reisende und Eroberer hinterließen ihre Namen auf den Felsen (vgl. Hofmann 1985, 20).

Namens- oder Erinnerungsgraffiti aus dem 18. und 19. Jhd. sind aber auch bspw. aus der Klosterschule Bebenhausen bekannt, und v. a. Ritzungen in Gefängniszellen waren immer wieder Gegenstand von Untersuchungen unterschiedlicher Art. Dabei wurden Gefängnis- und Namensgraffiti nicht nur von weltberühmten Künstlern, wie z. B. von dem Amerikaner Herman Melville während seiner Europareisen 1849 und 1856/57, kommentiert, sondern auch erstellt (bspw. im Straßburger Münster von Goethe und Herder) (vgl. hierzu Northoff 2005, 31-32). Die Liste der hinterlassenen Schriften ließe sich noch lange fortführen: das (Gauner-) Zinken, das seit dem 16. Jhd. dokumentiert ist, die Schriften von Soldaten auf ihren Feldzügen, wie z. B. die Soldaten von Napoleon, die Namensgraffiti von Lord Byron und dem Italiener Giovanni Battista Belzoni aus dem 19. Jahrhundert, die vielen Kindergraffiti in Paris im 19. und zu Beginn des 20. Jhs. oder die von Mao Zedong 1915 verfasste Schmähschrift im Waschraum seiner Universität in Changsha.

Inschrift von Juan de Oñate (1605) auf dem Inscription Rock, New Mexico

Inschrift von Juan de Oñate (1605)
auf dem Inscription Rock, New Mexico
(Anderson 2014)
(Lizenz: CC BY SA)

Namensinschrift von G. Belzoni in einer Pyramide in Khafre

Namensinschrift von G. Belzoni
in einer Pyramide in Khafre
(Bodsworth 2007)
(Lizenz: CC BY SA)

Um eine Zugehörigkeit all dieser Inschriften zu einer ‘Familie’ Graffiti feststellen zu können, lautet die Frage, ob es eine (anthropologische) Konstante über die Jahrhunderte gibt. Northoff zieht eine solche Konstante aus dem Vergleich der pompejanischen/römischen Graffiti mit dem heutigen Phänomen. Er kommt zu dem Schluss, dass Graffiti sowohl in der Antike als auch heute (vgl. dazu Northoff 2005, 43-116 und insbesondere 109-115)

  • erstens durch die Verwendung von Schrift definiert sind,
  • zweitens ihre Produzenten „in offener oder verdeckter Form“ ihre Motive für das Schreiben vermitteln,
  • drittens sich nicht in ihrer Essenz verändert haben, was die Auftragungstechniken und -flächen betrifft (s. o.),
  • viertens ihre Produzenten und Produzentinnen anonym sind,
  • fünftens eine ihrer verschriftlichten Hauptthematiken ‘Sexuelles’ (oder allgemein ‘Geschlechterbeziehung’) ist, wobei sich heute die Thematiken vervielfacht haben (Politik, Protest usw.),
  • und sechstens als ubiquitäres Phänomen zu sehen sind, durch welches sich Produzenten immer schon durch inoffizielle Schriftmitteilungen ausgedrückt haben.

Nicht alle Faktoren lassen sich auf die genannten Beispiele der anderen Jahrhunderte übertragen. So scheinen in den Graffiti aus Pompeji v. a. Namens- oder Erinnerungsgraffiti zu dominieren. Ein zweiter Faktor, der sich nicht generalisieren lässt, ist der Standort der Trägerflächen. Northoff nennt es ein „ubiquitäres“ Phänomen (s. o.), was insgesamt sicherlich auf Graffiti zutrifft, bei genauerem Blick zeigt sich die Ortswahl für bestimmte Zeitepochen relativ begrenzt (Kirchen, Burgen, Kerker oder z. B. der Inscription Rock). Dies kann jedoch auch daran liegen, das eines der den Graffiti inhärenten Charakteristika eben die Vergänglichkeit ist, d. h., nur bestimmte Graffiti aus dem Mittelalter sind der Nachzeit erhalten geblieben. Zentrale Punkte der oben genannten Thesen jedoch lassen sich sehr wohl über die Jahrhunderte anwenden und scheinen somit eine Konstante und letztlich ein bildender Faktor des Phänomens zu sein. Sicherlich sind antike Inschriften aus beiden Städten seit ihrer Entdeckung von großem Wert für die Wissenschaften gewesen, da sie tiefe Einblicke in die Lebenswelt der Bürger des Römischen Reiches gaben. Besonders interessant ist dabei der Einblick in den Alltag des ‘normalen’ Bürgers, seine Sicht- und Handlungsweisen, Meinungen, Vorlieben usw., welche weder aus den Gebäudeüberresten, noch aus den schriftlichen Werken der großen Künstler und Autoren jener Zeit so einfach abzulesen sind, wie aus den Graffitis – praktisch Zeugnisse aus erster Hand.

Betrachtet man die Verwendung und Erweiterung des Begriffs Graffiti über die letzten 200 Jahre und die diversen Argumente aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, Familienähnlichkeiten unter den konkreten Realisierungen über die Jahrtausende hinweg zu erkennen, so lassen sich mehrere Aspekte zusammenfassen Diese spielen anscheinend schon rein intuitiv eine Rolle und sind auch für die Analyse in dieser Arbeit von grundlegender Bedeutung:

  • Trägermedium: Der Versuch Wände (egal welcher Art) als verbindendes Element zu fixieren ist plausibel, stößt dabei jedoch auf seine Grenzen, wie man in den kritischen Argumenten von Northoff sehen kann (s. o.). Meiner Ansicht nach, ist in Bezug auf das Trägermedium jedoch ein anderer Aspekt, der auch teilweise genannt wird, zentral und zwar der Standort der Trägerfläche, d. h., dass sie sich in der ‘Öffentlichkeit’ befinden muss. Die Materialität (Wand, Felsen, Baum, Fenster usw.) ist also von gerigerem Interesse, als der Standort.
  • Technische Verfahren: Das Repertoire an Werkzeugen hat sich im Laufe der Jahrhunderte natürlich erweitert. Das ursprüngliche ist das abtragende Verfahren, d. h., die Oberfläche wird durch Kratzen (it. sgraffiare), Wischen, Ritzen usw. präpariert, und ist bis heute in verschiedenen Formen verbreitet. Man denke an die ‘Wasch mich’ Schriftzüge auf schmutzigen Fahrzeugen, die unzähligen Kindernamen auf schneebedeckten Autos oder v. a. an das sog. Scratching, bei dem mithilfe harter Gegenstände Schriften oder Bilder in glasähnliche Oberfläche geritzt werden. Zu diesem Verfahren sind dann im Laufe der Zeit das verdrängende Verfahren (z. B. Handabdrücke auf dem Walk-of-Fame in Los Angeles) und v. a. das am häufigsten eingesetzte, auftragende Verfahren dazu gekommen. Hierbei werden Substanzen aufgetragen bzw. der Trägerfläche hinzugefügt.
  • Schrift: Die Verwendung von Schrift ist ein weiteres Argument, muss allerdings lediglich als hinreichender und nicht notwendiger Aspekt gesehen werden. Schrift-Bild Kombinationen sowie reine Bild-Zeichen können in bestimmten Fällen ebenfalls zu typischerweise schriftbasierten Graffiti-Kategorien gezählt werden. Im Bereich der Street-Art kann es z. B. zur exklusiven Verwendung von ikonischen Bildern kommen. Ausschlaggebend ist hier, dass es weniger um das Vorhandensein von Schrift (i. S. menschlicher Sprachsymbole) oder Bildgraphischen Zeichen (z. B. Ikone) geht, sondern darum was kommuniziert werden soll, also ob bspw. ein (tiefere) Reflektion durch das Abgebildete seitens des Betrachters erreicht werden soll.

Diese drei Aspekte sind jedoch für eine Kategorisierung insgesamt als peripher anzusehen (ausser dem Standort der Graffiti) und reichen alleine nicht aus, um eine Familienzugehörigkeit zu erklären. Bedeutender sind die Aspekte der Öffentlichkeit und der Kommunikationsgehalt.

  • Öffentlichkeit (bzw. Halb-Öffentlichkeit): Wie oben erwähnt, ist der Standort des Trägers ein zentraler Aspekt. Mit Öffentlichkeit sind Räume gemeint, die potentiell jeder Person offen stehen oder mindestens von einem solchen Punkt aus zu sehen sind (dies könnte man als halb-öffentlich bezeichnen). In der Öffentlichkeit sollen dann private Inhalte (Meinungen, Vorstellungen, Haltungen usw.) vermittelt werden. Diese Inhalte müssen nicht zwangsläufig an die Öffentlichkeit, sondern in der Öffentlichkeit kommuniziert werden – Öffentlichkeit bezieht sich primär also auf eine räumliche und nicht soziale Dimension.
  • Kommunikationsgehalt: Dies ist m. A. nach der zentralste Punkt. Alle anderen, oben genannten Aspekte sind letztendlich Teil eines Kommunikationsprozesses, innerhalb dessen sie variabel gestaltet werden können und sich dennoch meistens um ein relativ begrenztes Repertoire anordnen. Aus dieser Perspektive lassen sich Formen wie die American Graffiti von Formen wie Parolengraffiti am deutlichsten abgrenzen, trotz den Gemeinsamkeiten auf anderen Ebenen (wie Technik oder Träger). Aspekte wie die Anonymität auf Produzentenseite oder intendierte(r) Empfänger laufen hier zusammen. Nimmt man die Kommunikationsabsicht (mit all ihren Faktoren), so lässt sich das kaum fassbare Phänomen Graffiti relativ deutlich subkategorisieren (wobei die Grenzen nie ganz trennscharf zu fixieren sein werden). Gruppierungen nach Aspekten wie Träger oder Technik enden in viel zu heterogenen und schwammigen Kategorien.

Die Betrachtungen in diesem Kapitel erfolgten aus mehreren Gründen. Zunächst sollten sie zu einer Sensibilisierung in Bezug auf die Terminologie für das Konstrukt Graffiti dienen, wobei es nicht Ziel war auf eine neue Definition hinzuarbeiten, da dies – wie dargestellt wurde – m. A. nach nicht möglich ist. Dann sollten die Ausführungen an den Untersuchungsgegenstand heranführen, auch um methodische Vorgehensweisen besser erklären zu können. Außerdem sollte nun klar sein, warum es vorzuziehen ist, nicht von Graffiti zu sprechen, sondern einen alternativen Begriff zu verwenden. Zuletzt kann bereits aus der Diskussion zu den verschiedenen Definitionsansätzen eine erste wissenschaftstheoretische Grundlage für eine genaue Analyse abgeleitet werden. Was ich als Scritte Murali bezeichne und welche der oben beschriebenen Formen von Graffiti darin zu verorten sind, werde ich im nächsten Kapitel erläutern.

2.2. Scritte Murali – Eine Definition

Wie man in den vorherigen Gegenüberstellungen sehen konnte, kann es sich bei dem Alltagsbegriff Graffiti lediglich um einen Sammelbegriff für eine Vielzahl an teils unterschiedlichsten Ausprägungen handeln, wobei all diese Formen im Sinne der Familienähnlichkeit von Wittgenstein mehr oder minder miteinander verwandt sind. Vorrangiges Ziel der Arbeit ist es, ein Phänomen, das umgangssprachlich als Graffiti bezeichnet wird/werden könnte, als Kommunikationsform mit ihren konstitutiven Parametern zu erfassen. Aufgrund der Undefinierbarkeit und konnotativen ‘Vorbelastung’ von Graffiti, ist der Begriff m. E. n. nicht für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung geeignet und ich sehe daher die Notwendigkeit, einen alternativen Begriff – nämlich Scritte Murali – zu verwenden. Scritte Murali fasst dabei eine Reihe der oben beschriebenen Graffiti-Untergruppen zusammen. Um das Phänomen zu analysieren, möchte ich in diesem Kapitel beginnen einige mögliche Abgrenzungsparameter zu sammeln. Zunächst aber noch ein kurzer Blick auf die Terminologie in der italienischen Fachliteratur.

Sucht man nach dem Begriff murale bspw. bei Garzanti oder Treccani, so erhält man u. a. folgende Bedeutungen27:

1. di, da muro: scritte, manifesti murali(Garzanti: murale)

Bzw. bei Treccani:

murale1 agg. [dal lat. muralis, der. di murus ‘muro’]. – 1. Eseguito, effettuato su muri: iscrizioniscritte m.; pittura m., effettuata sul muro con la tecnica dell’affresco o con altra qualsiasi tecnica.(Treccani: murale)

Bemerkenswerterweise wird in keiner der beiden Beschreibungen direkt Bezug auf den Begriff Graffiti (bzw. ital. graffito oder graffitismo) genommen, welcher bei Garzanti noch relativ knapp beschrieben wird:

graffito

  1. -i

  2. scritta stilizzata o tag o disegno tracciato con una bomboletta spray o con l’aerografo su muri, convogli ferroviari e metropolitani ecc.

  3. tecnica di incisione eseguita con una punta su una superficie dura, per lo più mettendo allo scoperto un sottostante strato di colore diverso: disegno a graffito | la figura o l’insieme di figure incise con questa tecnica: graffiti preistorici

  4. (spec. pl.) segni caratteristici di un costume, di una cultura, di modi di vita propri del passato(Garzanti: graffito)

Bei Treccani dagegen schon etwas ausführlicher, wobei neben der Definition ebenfalls auf die Entstehungsgeschichte und die usi d’oggi eingegangen wird. Letztendlich wird bei beiden Einträgen zunächst auf die (Erstellungs-) Technik eingegangen, wie es auch bei den Beschreibungen zu murale der Fall ist, und danach die Entstehungsgeschichte bzw. die Bedeutung von graffiti für die Geschichte hervorgehoben. So liest man bei Treccani, dass

Sin dagli albori della civiltà l’uomo ha lasciato impronta di sé negli ambienti in cui è vissuto: dalle prime tracce del paleolitico superiore a oggi la messe di graffiti, siano essi semplici scritture o articolate elaborazioni grafiche di pregevole fattura artistica, è una costante di ogni forma di organizzazione sociale.(Treccani: graffito)

Anschließend wird die Wichtigkeit dieser Schriften für die Erforschung älterer Sprachstufen im italophonen Gebiet hervorgehoben („i graffiti sono preziosi testimoni di fatti linguistici propri del parlato“, Treccani: graffito), wie bspw. die Graffiti der catacomba di Commodilla in Rom – eines der ältesten Zeugnisse für das volgare. Zuletzt wird auf die klaffenden Unterschiede zwischen den kostbaren Schriftzeugnissen, welche die Bewohner von Pompei oder Rom vor langer Zeit auf den Wänden hinterlassen hatten, und den graffiti attuali hingewiesen. Zu letzteren werden in der Beschreibung Begriffe wie hip-hop, scritte murali spontanee, affetti, fede calcistica o politica, tratti locali, errori d’ortografia usw. gemischt und es lassen sich alle Aspekte, wie ich sie oben diskutiert wurden wieder erkennen. Die recht knappen Teileinträge zu scritte murali dagegen, lassen bereits darauf schließen, dass es sich dabei (aufgrund bestimmter Faktoren) um ein den Graffiti verwandtes Phänomen handelt, und doch nicht das Gleiche ist.

Pietro Maturi ordnet den Begriff Graffiti, ohne weiter auf die Definition einzugehen, unter die scritture esposte und stellt ihn dabei neben Begriffe insegne, gadgets, pubblicità, striscie televisive, striscioni/manifesti/tazebao28 politici und necrologi (vgl. Maturi 2006, 244).

Simone Pallotta spricht von „scritte politiche, […] calcistiche e d’amore“ und grenzt diese von den tags ab, wobei all diese Bezeichnungen als „scritte in giro“ zusammengefasst werden können (Pallotta 2008, 37). Nicola Guerra, ein italienischer Dozent an der Universität Turku, Finnland, verwendet dagegen in seinen Artikeln über die Scritte Murali meist den Begriff graffitismo (vgl. Guerra 2012, Guerra 2012b, Guerra 2013, Guerra 2013b, Guerra 2013c). Er weist darauf hin, dass es keine übereinstimmende Definition gibt und definiert weiterhin das fenomeno graffitismo als

una manifestazione sociale, culturale ed artistica che consiste nell’esprimere la propria creatività e nel comunicare tramite interventi di scrittura e pittura su superfici urbane, e nella quale l’elemento semantico ha il sopravento su quello semiotico, distinguendolo così il graffitismo dal fenomeno murales.(Guerra 2012c, 1)

Hervorzuheben sind bei Guerras Definition die Aspekte der „superfici urbane“ sowie die Unterscheidung zwischen semantischen und semiotischen Kernelementen. Antonella Stefinlongo (1998) bezeichnet die Wort-Graffiti in ihren interessanten Forschungsarbeiten als scritte murali und scritte spontanee esposte, wobei scritte esposte eventuell ausdrucksstärker ist, da der Begriff (esposte) die Bedeutung des öffentlichen Raumes stärker akzentuiert als murali.29 Träger, öffentlicher Raum, Materialien, Inhalte und Zeichensysteme scheinen also Ein- bzw. Abgrenzungskriterien der Scritte Murali gegenüber verwandten Schrift- und Bildformen zu sein. Es sollen nun Abgrenzungsparameter gesammelt und ihre Gewichtung diskutiert werden, um von diesen Überlegungen ausgehend eine erste Definition von Scritte Murali zu geben.

2.2.1. Abgrenzungsparameter

Ganz so komplex wie das berühmte Beispiel zu den Spielen von Ludwig Wittgenstein, gestaltet sich das Gebilde Scritte Murali glücklicherweise nicht. Trotzdem möchte ich auf der Suche nach den für eine Definition ausschlaggebenden Parametern den Anweisungen Wittgensteins folgen:

Sag nicht: ‘Es muß ihnen etwas gemeinsam sein, sonst hießen sie nicht ‘Spiele’ – sondern schau, ob ihnen allen etwas gemeinsam ist. […] [D]u wirst Ähnlichkeiten, Verwandtschaften, sehen, und zwar eine ganze Reihe.(Wittgenstein 1953/77, zit. nach Kleiber 1998, 116).

So schauen wir uns Scritte Murali an und versuchen die Ähnlichkeiten und Verwandtschaften aufzudecken, um die Scritte dadurch von anderen Formen abzugrenzen. Ähnlich ist all diesen Formen zunächst die Erstellungstechnik. Nach den oben beschriebenen Prinzipien werden Oberflächen präpariert, um ‘Zeichen’ sichtbar zu machen. Dies geschieht durch abtragende (ritzen, kratzen usw.), verdrängende (Handabdrücke usw.) und v. a. auftragende Verfahren (bspw. das Auftragen von Farbe anhand von Sprühdosen oder Filzstifte, aber auch das Anbringen von Stickern). Ein weiteres Merkmal, ist der (Stand-) Ort der Scritte Murali. Dieser muss sich im öffentlichen Raum befinden – was genau das bedeutet, werde ich gleich genauer erläutern. Der bereits erwähnte Dreisatz von Lohmann, ließe sich ebenfalls auf Scritte Murali übertragen: sie sind privat (sie transportieren also persönlich Gedanken, Anliegen oder Nachrichten der Produzenten), inoffiziell (d. h., sie werden nicht im Sinne eines Auftrages durch Andere erstellt) und informell (da sie nicht inhaltlichen oder formalen Vorschriften folgen) (vgl. Lohmann 2017, 14). Durch diese drei Merkmale grenzen sich Scritte Murali bspw. von Werbeplakaten, Klingel- oder Straßenschildern ab. Für eine Abgrenzung von Scritte Murali gegenüber American Graffiti spielt v. a. die Form eine wichtige Rolle, d. h. die Verwendung von Schrift und Bild. American Graffiti und Scritte Murali unterscheiden sich grob dadurch, dass bei den Scritte die äußere Form sekundär ist, bei American Graffiti dagegen liegt der Fokus primär auf der Gestaltung (dem Style). Zusätzlich lassen sich American Graffiti überspitzt als ‘inhaltsleer’ bezeichnen. Sie werden, in Bezug auf die verwendeten Kombinationen schriftsprachlicher Zeichen, mit äußerst geringer Varianz erstellt. Um fame zu erlangen, erstellt der Produzent also möglichst viele Schrift-Bilder seines Pseudonyms (in Form von Tags, Throw-Ups und Pieces), wobei er sein Pseudonym (oder das seiner Crew) offensichtlich nicht ständig ändern kann, da sonst der Wiedererkennungswert und damit der fame gemindert werden würde. American Graffiti sind „Denkmäler der eigenen Existenz“ (Alber 1997, 530). Scritte Murali hingegen weisen eine signifikant höhere Varianz auf, was die Kombination der Sprachzeichen betrifft und somit die zu vermittelnden Inhalte. Dieser Unterschied verweist bereits auf eines der grundlegendsten Merkmale von Scritte Murali (nicht nur in Abgrenzung zu anderen Formen von Graffiti): die Kommunikationsfunktion. Sicherlich soll auch etwas durch American Graffiti kommuniziert werden, jedoch weniger durch den semantischen Inhalt, sondern durch die Aktion, also das Erstellen Graffiti an sich (vgl. dazu die Diskussion von Volland 2010). Das Pseudonym an sich trägt selbst bei einem ‘geschickt’ gewählten Namen, ein relativ geringes Maß an semantischem Gehalt. Skrotzki geht von den Produzenten aus und differenziert dabei zwischen den Writern, die Pieces erstellen und als Künstler zu sehen sind, die keine „konkreten Inhalte“ übermitteln wollen, und den „Parolenschreibern“, denen es weniger um künstlerische Aspekte geht, als um das Mitteilen bestimmter Inhalte auf „öffentlichen Flächen“ (Skrotzki 1999, 9). Jakob Dittmar ordnet die Graffitiformen in seinem Aufsatz Graffiti als En-Passant-Medien im städtischen Raum in einem Kontinuum ‘dekorativ’ (als Ornamente oder Verzierungen) – ‘diskursiv’ (hier dienen Graffiti als Übermittler von Kommunikationsinhalten) an (vgl. Dittmar 2013, 64). Er verweist jedoch auch auf Mischformen, da „ein Graffiti in seinen Proportionen und Formen sehr harmonisch und dekorativ sein kann, zugleich aber in seinem Inhalt auf politische Missstände hinweisen und ein Aufruf zu bewahrendem oder revolutionärem Handeln, also ausgesprochen diskursiv sein kann“ (Dittmar 2013, 64). Ein gutes Beispiel für eine solche optisch ansprechende Form, wären die Stencils, die eine serielle Anbringung und aufgrund ihrer Beschaffenheit eine hohe Detailgenauigkeit (bei der Kombination von Schrift- und Bild-Elementen) erlauben und dadurch einen kampagnenartigen Charakter erzeugen (vgl. Dittmar 2013, 62-67). Deutlich wird auch hier, dass der Fokus vorrangig auf der kommunikativen und weniger auf einer expressionistischen Funktion liegt.

Stencil, San Lorenzo, Rom

Stencil, San Lorenzo, Rom (ScriMuRo)

Beuthan schreibt (American) Graffiti eine politische Botschaft per se zu und dies gerade wegen ihrer Bedeutungsleere, „weil die bestehende und als zu überwindende begriffene politische Ordnung auf einer mediale [sic] Funktion beruht, die hier sabotiert wird“ (2011, 131). Außerdem sieht er einen entscheidenden Punkt in der Bildhaftigkeit30 der American Graffiti, die seiner Meinung nach nicht den Regeln schriftbasierter Diskurse folgt, sondern den Ordnungen, die die Bildlichkeit regeln. American Graffiti besitzen also eine spärliche Semantik, die, aus ihrem Kontext (der Writer-Szene) genommen, meistens „witzlos“ sind, wobei Beuthan die bildliche Qualität dieser Graffiti ohnehin nicht in der Semantik sieht: auf Ebene der Bildhaftigkeit verschiebt sich die Darstellungsfunktion hin zur Ausdrucksfunktion des Bildes, d. h., es ist ausschlaggebend,  wie ein Bild realisiert wird, nicht was (der Inhalt) verschriftlicht wird. Das, was in American Graffiti gezeigt wird oder werden soll, geht also nicht in schrift-sprachlichen Zeichen auf (vgl. Beuthan 2011, 131-134). Einen geeigneten theoretischen Rahmen, um Scritte Murali von American Graffiti in dieser Hinsicht abgrenzen zu können, finden wir in grundlegenden Modellen der Semiotik. Möglich wäre eine Betrachtung unter dem Aspekt der drei Dimensionen von Charles Morris (1988). Morris unterscheidet (vereinfacht gesagt) die Dimensionen Syntax (die Beschaffenheit der Form betreffend), Semantik (die inhaltlichen Aspekte betreffend) und Pragmatik (die Funktion betreffend), in denen semiotische Systeme funktionieren müssen (vgl. Morris 1988, zusammenfassend Nöth 2000, 88-94). Betrachtet man aus dieser triadischen Sichtweise nun American Graffiti31, so lassen sich bestimmte Graffitiformen – eben Scritte Murali – davon abgrenzen. Stöckl beschreibt innerhalb der syntaktischen Dimension (u. a.) die Aspekte des Sinneskanales (wie werden die Zeichen verarbeitet?), der Semiotisierung (wie wird ein Zeichenkörper als solcher anerkannt und semantisch aufgeladen?) und der internen Struktur (wie sind die Zeichenmodalitäten organisiert?) (vgl. Stöckl 2016, 10-12). Graffiti ganz allgemein – egal ob Scritte Murali, Street Art oder American Graffiti – sind visuelle Phänomene; eine Differenzierung ist in Bezug auf den Sinneskanal also nicht möglich. Bezüglich der Semiotisierung, also der Prozess, wie „ein Rezipient ein beliebiges materielles Phänomen als Zeichenkörper anerkennt und ihm einen bestimmten Inhalt oder Sinn zuschreibt“ (Stöckl 2016, 10), interessieren uns hier die Grade der Semiotisierung von Bild und (schriftlicher) Sprache, da American Graffiti zwar Schriftsprache zeigen, als Ganzes gesehen jedoch dazu tendieren, Bilder darzustellen. Sprache zeichnet sich durch einen hohen Grad an Semiotisierung aus, d. h., es muss relativ viel (semiotisches) Wissen über diese Zeichenmodalität und ihre Ressourcen abgerufen werden. Bilder dagegen orientieren sich zwar an systemimmanenten Regeln, weisen jedoch ein geringeres Maß an Semiotisierung auf als Sprache. Problematisch ist, dass sowohl American Graffiti als auch Scritte Murali, Schrift-Sprache zeigen. Entscheidend ist die Varianz innerhalb des Lexikons und die Komplexität auf grammatikalischer Ebene, womit die internen Strukturen als dritte syntaktische Instanz angesprochen sind. In American Graffiti werden die Möglichkeiten Einheiten aus einem großen Lexikon über grammatikalische Regeln zu (größeren) Syntagmen zu verknüpfen nur minimal ausgeschöpft.32 Eben diese Kombinationsmöglichkeiten machen jedoch gerade die „semantisch-kommunikative Stärke“ von Sprache aus (Stöckl 2016, 11). Mit anderen Worten: die doppelte Artikulation, wie sie Martinet beschreibt (vgl. Nöth 2000, 334), spielt für American Graffiti eine weitaus geringere Rolle, als bei Scritte Murali. Dafür spielen Parameter wie Vorwissen, Kontext und Seherfahrung (vgl. Stöckl 2016, 11) innerhalb einer bestimmten Szene (die der Writer und Sprayer) eine überordnete Rolle, um das ‘Bild’ zu verstehen. Die Unterschiede sind also v. a. auf Mikroebene der internen Strukturen zu suchen, wodurch im Bereich der formalen Aspekte keine klaren Grenzen ziehen lassen. Geeigneter sind die Bereiche der Semantik und der Pragmatik. Betrachtet man die Art und Weise, wie American Graffiti Bedeutung generieren, so sind zunächst im Bereich der Wirkungsmechanismen, wie sie Charles S. Peirce für die Interpretanten beschrieben hat (vgl. Nöth 2000, 65), Unterschiede beobachtbar: Sprache tendiert v. a. zu einer logischen Wirkungsweise, d. h. kurz gesagt, dass sie zu einer „Veränderung im Denken und Verhalten“ des Interpreten führt (bzw. führen kann), Bilder dagegen lösen (potentiell) logische und energetische (im Sinne von „körperlichen oder geistigen Anstrengungen“; vgl. Stöckl 2016, 12) Wirkungen aus. Gemeinsam ist m. A. n. den Formen ein emotionaler Wirkungsmechanismus, da es sich bei (modernen) Graffiti um eine ‘illegale’ Aktion handelt, welche bei einem Großteil der Bevölkerung bestimmte Gefühle auslösen kann. Eine klare Unterscheidung ist allerdings auch hier nicht möglich. Deutlicher wird der Unterschied, wenn man sich die Frage stellt, welche medialen Merkmale der Graffiti (und damit der American Graffiti und Scritte Murali) für das Verstehen relevant sind. Bekannterweise unterscheidet Peirce u. a. nach Quali-, Sin- und Legizeichen, „according as the sign itself is a mere quality [Qualizeichen], is an actual existent [Sinzeichen], or is a general law [Legizeichen]“ (Peirce 1994, 2.243)33. Für Sprache an sich, ist die konkrete graphische Realisierung eher nebensächlich, sondern vordergründig ist das ‘richtige’ Erkennen des types (also die „gesetzmäßige Verbindung von Form und Inhalt“; Stöckl 2016, 13) –  dadurch wird Sprache zu einem Legizeichen. Bei bspw. Bildern oder Musik spielt dagegen Singularität (also Sinzeichen) und die Qualität (Qualizeichen oder tone) eine wesentliche Rolle (vgl. Stöckl 2016, 13; Nöth 2000, 65). Bei American Graffiti steht das Merkmal der Qualität, der tone – wie wurde das Piece oder Tag erschaffen, bzw. wie ist es konkret ausgeformt? – eine entscheidende Rolle, bei Scritte Murali dagegen (eher) eine untergeordnete. Auf der anderen Seite sind die types und deren Deutung bei American Graffiti als peripher zu betrachten, bei den Scritte Murali dagegen als dominant. Ganz zentral bei der Differenzierung ist das Ausdruckspotenzial, d. h., „welche Bedeutungen oder Aussagen sich gut, schwer oder gar nicht kommunizieren lassen“34 (Stöckl 2016, 14). American Graffiti beinhalten schriftliche Sprache, die ihrerseits ein beinahe uneingeschränktes Ausdruckspotenzial besitzt, was sich durch die internen Strukturen – doppelte Artikulation, die mögliche Verwendung von grammatikalischen Kategorien (Modus, Tempus, Kasus), das potentiell unbegrenzte Lexikon oder das Ausdrücken von illokutionären und allgemein Sprechakten – erklärt (vgl. Stöckl 2016, 14). Bei American Graffiti sind jedoch genau diese Aspekte stark eingeschränkt (s. o.). Durch die hauptsächliche Verwendung von (isolierten) Pseudonymen, können durch American Graffiti nur äußerst schwer „Verneinungen, logische Verknüpfungen von Sachverhalten, Modalität (Wirklichkeitsbezug und Sprechereinstellung), deiktische Verweise oder direkte und explizite Sprechakte […]“ ausgedrückt werden, wodurch sie weniger Sprache entsprechen als vielmehr Bildern, die sich eignen, um „konnotative Bedeutungen“ und „emotionale Anmutungen“ zu transportieren (vgl. Stöckl 2016, 14). Das Pseudonym eines Graffiti Writers ist ein Eigenname, ein Nomen Proprium, das ein Individuum bezeichnet. „Eigennamen erreichen ihren Zweck – die Identifizierung eines Gegenstands durch Rekurs auf eine spezifische Kenntnis – in einem Zug, ohne Syntax“ (Hoffmann 1999, 216), d. h., sie sind aus funktionaler Sicht autonom und müssen nicht syntaktisch integriert werden (vgl. Hoffmann 1999, 232). Aus Sicht von kausalen Eigennamentheorien, ist es entscheidend, dass das Nomen Proprium nach der Einführung (in einer geteilten Wahrnehmungssituation) mit seinem Bezug in einer referentiellen Kette weitergegeben wird. Dies geschieht im Idealfall durch den Produzenten (den Writer), wodurch einer bestimmten Szene klar ist, dass sich dieses Pseudonym auf ein konkretes Individuum (oder – im Falle von Crew-Namen – auf mehrere konkrete Individuen) bezieht, welches normalerweise aus verschiedenen Gründen anonym ist. Das Problem ist, dass Eigennamen semantisch gesehen keine Bedeutung haben bzw. die Extension ihre Bedeutung ist. Sie fungieren als „lautlichen ‘Etiketten‘, die an Dingen ‘haften’“, keine Bedeutung haben und auf etwas verweisen (Hoffmann 1999, 213).35 Dadurch stehen sie „außerhalb des Lexikons einer Sprache“ und kontrastieren mit den „prädikativen Wortfeldern, […] die als Lexikon mit Sinnrelationen und Wortfeldern dargestellt werden können“ (Hoffmann 1999, 219). Zugang zu Wissen über die Eigenschaften des Namenträgers erfolgt normalerweise durch Kenntnis des Trägers – durch die Anonymität der Writer erfolgt die Weitergabe spezifischer Informationen (bspw. über Fähigkeiten und charakterliche Eigenschaften) über die materiell-technische Ausarbeitung sowie die quantitative Verteilung der Pieces und Tags im Raum. Trotz der Verwendung von Sprache, schränkt diese semantische Leere das Ausdruckspotenzial enorm ein. Selbst die Verwendung eines Lemmas aus den prädikativen Wortfeldern als Pseudonym (also ein „witzreicher“ Name), bricht diese semantische Limitation nur minimal auf.

Eine klare Differenzierung wird vollends möglich, wenn man funktionale Aspekte miteinbezieht, d. h. auf pragmatischer Ebene. Hartmut Stöckl rückt hierbei perzeptive und  kognitive Aspekte sowie die Kommunikationsfunktionen und –aufgaben ins Zentrum (vgl. 2016, 15-18). Bezüglich der Perzeption und Kognition ist Sprache als relativ zeitaufwändige Modalität zu sehen, da die arbiträren und konventionellen Zeichen umkodiert werden müssen. Betrachtet man American Graffiti konkret aus dieser Perspektive, so kann man feststellen, dass es v. a. zeitaufwändig ist, den Style (also die äußerliche Form) zu entschlüsseln, was szenefernen Betrachtern schwer fallen kann. Die Umkodierung der Sprache an sich (also des aus Buchstaben bestehenden Pseudonyms) geschieht dagegen vergleichsweise schnell, da die Varianz der types und token stark begrenzt sind. Bei Scritte Murali dagegen ist die Anzahl der types und token, ihre Varianz und strukturellen Kombinationen weitaus größer und bedürfen daher mehr Zeit bei der Entschlüsselung. Die Form zu ‘verstehen’ stellt dagegen normalerweise kein größeres Problem dar.

Um die Kommunikationsfunktionen zu analysieren, bietet es sich an, auf die Modelle von Bühler bzw. Jakobson zurückzugreifen. Nach Bühler lassen sich Bild (also American Graffiti, aber auch Graffiti und somit Scritte Murali als Ganzes gesehen) und Schrift eine dominante Darstellungsfunktion zuordnen36 (vgl. Stöckl 2016, 17), wobei sich (wie bei Beuthan geschehen, s. o.) bei den American Graffiti die primäre Funktion von der Darstellung zugunsten des (produzentenseitigen) expressiven Ausdrucks verschiebt. Spätestens durch das Modell von Jakobson, der das Bühlersche Modell (u. a.) um die ‘poetische Funktion’ – auf die das ganze Modell von Jakobson hinzielt – erweitert (vgl. dazu Auer 2013, 33-40 und speziell 39), wird es möglich, das Unterscheidungskriterium theoretisch zu fassen. Die poetische Funktion beschreibt (grundlegend) die Möglichkeit der Selbstreferenz von Sprache, d. h., die Funktion der Sprache bezieht sich auf ihre Form, wenn sie dominant poetisch ist37 (vgl. Auer 2013, 39, Stöckl 2016, 17). Die Kommunikationsfunktion von American Graffiti entspricht eben jener (dominant) poetischen, was Stöckl auch als „Ästhetisierung von Kommunikation“ bezeichnet (vgl. Stöckl 2013), d. h., für das Verständnis der Botschaft auf Empfängerseite ist die Form der Botschaft – und Form bezieht sich hier nicht auf die paradigmatischen und syntagmatischen Achsen der Sprache, sondern auf die visuell-stilistische Gestaltung der Zeichen – ausschlaggebend. Die Funktionen der Scritte Murali sind weitaus schwieriger zu bestimmen (eine Analyse der Scritte nach ihren Kommunikationsfunktionen erfolgt im Laufe dieser Arbeit), jedoch ist eine dominant poetische Funktion bis auf wenige Grenzfälle auszuschließen. Ist bei einer Scritta die poetische Funktion auffällig dominant (oder im Vergleich dominanter), so zeigt sich dies bspw. in der Projektion der paradigmatischen auf die syntagmatische Achse der Sprache, wie dies z. B. bei binominalen Ausdrücken, Assonanzen oder Dreier-Listen der Fall sein kann (vgl. Auer 2013, 39), oder es ist klar erkennbar, dass andere Funktionen (v. a. die referentielle) ebenso stark gewichtet werden müssen, wie die poetische (häufig Stencils oder sog. Murales, siehe Abb. 18-20).

Stencil, Rom (ScriMuRo)

Stencil, Rom (ScriMuRo)

Murales, Rom (ScriMuRo)

Murales, Rom (ScriMuRo)

Murales, Rom (ScriMuRo)

Murales, Rom (ScriMuRo)

Eng mit den Kommunikationsfunktionen verbunden sind die Kommunikationsaufgaben, wie sie Stöckl für multimodale Texte als zentrales pragmatisches Element anführt (vgl. 2016, 17-18). In Anlehnung an Umberto Eco spricht er Sprache v. a. die Eignung zu, Narrationen (also „Geschehnisse und Prozesse in ihrer zeitlichen Abfolge zu schildern“) und Explikationen („Erklärung logischer Zusammenhänge“) zu liefern sowie Argumentationen zu konstruieren (Stöckl 2016, 17). Dies liegt an der „großen artikulatorischen und kombinatorischen Flexibilität“ (Eco 1991, 231) von Sprache, wodurch flexible und klare Referenzen hergestellt, Aussagen durch ein Set von Konjunktionen verbunden und Illokutionen entäußert werden können (vgl. Stöckl 2016, 17). Aufgrund der bereits erwähnten Eingeschränktheit in ihrer Kombinatorik, ist das Potenzial von American Graffiti für diese Kommunikationsaufgaben äußerst gering, von Scritte Murali dagegen erheblich. 

Zusammenfassend lassen sich aus semiotischer Sicht bisher folgende Parameter für eine Abgrenzung der Scritte Murali von anderen Graffitiformen sammeln:

  • Syntax (die Form betreffend): Erstellungstechnik, (Erstellungs- und Stand-) Ort38 und interne Strukturen (Potenzial aus lexikalischen Einheiten mithilfe von (grammatikalischen) Regeln, größere syntaktische Einheiten zu bilden)
  • Semantik: die Rolle der Qualität und Singularität der konkreten Ausformungen und besonders ihr Ausdruckspotenzial
  • Pragmatik: die (potentielle) Produzentengruppe und v. a. die Kommunikationsfunktionen.

Generell handelt es sich bei fast allen beschriebenen Aspekten um graduelle Abstufungen, wodurch Grenzfälle und Mischformen auftreten. Außerdem ist zu beachten, dass die Kriterien unterschiedlich gewichtet, v. a. aber im Verbund gesehen werden müssen, wodurch sich eine Abgrenzung aufgrund von nur einem Merkmale nicht vollziehen lässt. Das wesentlichste Kriterium ist die Text- bzw. Kommunikationsfunktion, welche in diesem Fall besonders stark durch zwei (semantische) Faktoren bedingt ist: Erstens durch das Potenzial Bedeutungen und Aussagen zu vermitteln und zweitens die Dominanzverhältnisse in einer Klassifizierung nach Legi-, Sin- und Qualizeichen. Die formalen Aspekte können dabei in unterschiedlichem Ausmaß an der Funktion mitwirken und spielen besonders für das Ausdruckspotenzial eine wichtige Rolle, sind für sich genommen aber kein hinreichendes Kriterium für eine Abgrenzung. Auf Basis dieser Beobachtungen, bezeichne ich alle Graffitiformen, bei denen typischerweise die Kommunikationsfunktion nicht dominant poetisch (sondern informationsübermittelnd) ist, der semantische Gehalt der Schrift- und Bildzeichen zentral ist und die materiell-technische Realisierung (die ‘Qualität’ und damit verbunden der Erstellungsprozess und das Können des Produzenten) nur eine subsidiäre Rolle spielt, als Scritte Murali. Oder anders ausgedrückt, alle Formen, die dominant poetisch (selbstreferenziell) sind, deren Qualität primäres Merkmal für die Sinnstiftung ist und deren semantisch-pragmatische Darstellungskraft stark beschränkt ist (‘inhaltsleere’ Formen), werden nicht als Scritte Murali bezeichnet. Dass es Grenzfälle39 und Mischformen gibt, ist insofern unerheblich, als durch die Erklärung der Funktionalität(sfrage) als zentrales Abgrenzungskriterium bereits die Untersuchungsperspektive vorgegeben wird. Das bedeutet, dass ich mich auch bei den Misch- und Grenzformen (die auch während der Feldforschungsarbeit im Rahmen dieser Arbeit erfasst wurden) auf die Semantik und/oder Pragmatik konzentriere und den äußerlich-formalen und technischen Aspekten lediglich eine periphere oder subsidiäre Rolle zuschreibe.

Theoretisch könnte man nun die in Kapitel aufgezählten Graffitiformen den Scritte Murali zuordnen oder eben nicht. Dazugehörig wären dann bspw. Liebes-, Politgraffiti usw., aber auch (aufgrund des oben beschriebenen „Einschusses an Reflexivität“) bestimmte Formen der Street-Art, solange die primäre Kommunikationsfunktion nicht poetisch-selbstreferenziell ist. Man könnte auch antike und mittelalterliche Graffiti und sogar Höhlenmalereien nach diesen Kriterien betrachten und sich fragen, ob sie den Scritte Murali zuzuordnen sind. Jedoch ist dies nicht das Ziel dieser Arbeit und auch fraglich, welchen Wert eine solche Zuordnung hätte. Das Phänomen Graffiti lässt sich nach wie vor nicht als Ganzes definieren, sondern muss aus der analytischen Perspektive erfolgen, wobei für die vorliegende Arbeit die Kommunikationsfunktionen entscheidend sind.

Die Beobachtungen der bisherigen Kapitel förderten einige wesentliche Parameter zu Tage, um den Untersuchungsgegenstand Scritte Murali abzugrenzen. Dies geschah jedoch eher aus vorwissenschaftlich-intuitiver Perspektive. Für eine sprachwissenschaftliche Analyse des Gegenstandes ist eine genauere Betrachtung auf Basis theoretischer Ansätze nötig. Nachfolgend soll eine erste Definition von Scritte Murali gegeben werden, wobei die vorangegangenen Erkenntnisse einfließen sollen.

2.2.2. Definition der SM

Die Grundannahme ist, dass Scritte Murali eine Kommunikationsform, i. S. v. „medial bedingte[n] kulturelle[n] Praktiken“ (Holly 2011, 155), ist, wobei hier unter „medial“ physikalische (technisch-materielle) und handlungsbezogene („sozial konstituierte Verfahrensformen“ (Schneider 2008, 246-247) in Bezug auf die Zeichenverwendung) Aspekte zu verstehen sind. Die Produzenten bedienen sich bestimmter Zeichenressourcen, um zweckgerichtet bestimmte Inhalte im Rahmen der gegebenen (physikalischen) Voraussetzungen zu übermitteln. Den Grundüberlegungen zu Graffiti folgend, lassen sich Scritte Murali als transgressive und informell-private (siehe dazu weiter unten) Kommunikationsform beschreiben, die im öffentlichen Raum angebracht und durch bestimmte Techniken realisiert wird.  

Scritte Murali sind visuelle, transgressive Zeichen. Scollon/Scollon (2003) bezeichnen solche Zeichen als „in some way unauthorized(Herv. SL; Scollon/Scollon 2003, 146), also Zeichen, die bestimmte Erwartungen der Öffentlichkeit verletzen, da sie auf dafür nicht bestimmten Oberflächen angebracht werden (vgl. Scollon/Scollon 2003, 147). Der Produzent vollzieht eine illegale Handlung (selbst wenn diese in bestimmten Räumen toleriert ist), weil er Eigentumsrecht und möglicherweise gegen weitere Gesetze verstößt (z. B. durch unerlaubtes Betreten von Privatgrund). Aufgrund der Illegalität ist diese Kommunikationsform in ihrem Wesen subversiv, wobei aber zu bezweifeln ist, dass dieses Merkmal generell die zentrale Motivation für die Erstellung der Scritte Murali ist.40

Dass Scritte Murali in irgendeiner Form unautorisiert sind, impliziert, dass es sich dabei um informell-private Botschaften handelt, da die Urheberschaft und Anfertigungsentscheidung  von keiner staatlichen oder amtlichen Autorität veranlasst, reguliert oder anerkannt ist (weshalb bspw. auch Zeichen für kommerzielle Zwecke nicht dazu gehören). Dass es sich um informell-private Botschaften handelt, gilt jedoch lediglich nach der Definition von Landry und Bourhis (1997) für die Linguistic Landscape-Forschung, die sich ebenfalls mit Sprachphänomenen im (öffentlichen) Raum beschäftigt und signs traditionell nach public und private signs klassifiziert (vgl. dazu z. B. Landry/Bourhis 1997, Gorter 2006, Ben-Rafael u.a. 2006). Scritte Murali sind streng genommen weder public signs41 noch private signs42. Den Ergebnissen meiner Analyse vorausgreifend, lassen sich Ähnlichkeiten zu den private signs bezüglich der Funktionalität erkennen: diese haben neben einer denotativen (strukturierend-informativen) zusätzlich eine „stark konnotative Ebene, die diese Signs emotional auflädt“ (Schulze 2019, 30). Das informell-private Spezifikum bedeutet auch, dass Scritte Murali in Bezug auf Inhalt, Form und Standort (theoretisch) frei wählbar und nicht an Regeln gebunden sind.43 Wie gezeigt werden wird, orientieren sich die Scritte sehr wohl an musterhaften ‘Richtlinien’. Allerdings beziehen sich die Normen, an denen sich die Scritte orientieren, nicht auf staatlich- oder städtisch-offiziellen Behörden, sondern an der Funktionalität, d. h., die Produzenten richten sich nach dem, was ihrer Absicht entspricht, nicht nach dem, was erlaubt ist. Gerade der transegressive und mediale Aspekt der SM besetzen die Scritte Murali mit einem öffentlichen (also pulibic sign) Moment. Gleichzeitig ergibt sich ein privat (diskretes) Element, bspw. wenn sich Produzenten in den Texten selbstidentifizieren oder ausschließlich von einem stark begrenztem Rezipientenkreis identifiziert werden können (siehe etwa die Domänen EXPRESSIVITÄT, DEFAULT, und DIVERSES, DEFAULT). Allerdings kann es auch zu einer gezielten Indiskretion kommen – dann ganz im Sinne der oben genannten public signs – wenn z. B. Informationen über Einzelpersonen oder Gruppen an die Öffentlichkeit gerichtet werden. Letztlich kommen die klassischen Definitionen aus dem Bereich des Linguistic Landscape nur stark revidiert zum Tragen und SM werden hier als informell-öffentlich mit optionaler privater Botschaft44 beschrieben. Die unterschiedlichen Funktionalitäten, die sogar innerhalb der Domänen zu sehen sind (siehe DEFAULT), erschweren eine allgemeingültige Definition in dieser Hinsicht und so muss die Frage nach öffentlichen und privaten Aspekten stets in Abhängigkeit der konkreten Texte bzw. mindestens Domänen geklärt werden.

Ein weiteres wesentliches Merkmal der Scritte ist der Erstellungs- und damit der Standort der Scritte, der zwar theoretisch frei wählbar ist45, sich aber im öffentlichen Raum bzw. an öffentlichen Orten befinden muss. Dabei stellt sich die Frage, was genau mit ‘Raum’ und ‘öffentlich’ bzw. ‘Öffentlichkeit’ gemeint ist.46 Zunächst ist der ‘physische’ vom ‘wahrgenommenen’ Raum zu unterscheiden, wobei ersterer hier als „konkrete[r], materielle[r] Ausschnitt der Erdoberfläche“ (Blotevogel 1995, 739), letzterer als dynamischer, durch sozio-kulturelle Handlungen geformter (und daher auch durch sprachlich-kommunikative Handlungen) und von den Personen wahrgenommener Raum47 verstanden wird. Scollon/ Scollon unterscheiden nach Space, „[which] refers to the objective, physical dimensions and characteristics of a portion of the earth or built environment; often defined by sociopolitical ideologies and powers“ (2003, 216) und Place, als „the human or lived experience or sense of presence in a space“ (2003, 214). Es existieren also ‘Orte’, die geographisch definierbar sind, und ‘Räume’, die sich an den Orten befinden und durch sozio-kulturelle Faktoren und Handlungen zu Räumen werden. Diese Sichtweise entspricht dem Raumkonzept von Michel de Certeau, der den Raum (im franz. Original espace) als „Geflecht von beweglichen Elementen“ und den Ort48 als „momentane Konstellation von festen Punkten“ beschreibt, woraus folgt, dass „der Raum ein Ort [ist], in dem man etwas macht“ (1988, 217-218). Der Ort ist demnach der ‘Austragungsort’ für dynamische, kommunikative Handlungen, durch die er zum einem wahrgenommenen Raum erhoben wird. Dieser Vorgang wird auch als Place-making bezeichnet und findet in der Linguistik seit einigen Jahren verstärkt Beachtung (siehe dazu Friedmann 2010 und Warnke/Busse 2014). Für die Definition von Scritte Murali, ist hier der konstitutive Aspekt des ‘Ortes’ entscheidend – die Vorgänge und Folgen des Place-making, also der Generierung von ‘Räumen’ speziell durch die Scritte, erfolgt (u. a.) im weiteren Verlauf dieser Arbeit, da er mit der Funktionalität der Scritte korreliert. Als Scritte Murali werden Schriften bezeichnet die sich an ‘öffentlichen Orten’ befindet. Auf die Beobachtungen von Klamt (2007) zurückgreifend, verstehe ich unter ‘öffentlichen’ Orten geographische Areale, die grundsätzlich für ‘Jeden’ zugänglich und (potentiell) nutzbar sind, unabhängig davon, ob dies gegen Eigentumsrecht Anderer verstößt oder nicht. Dass sich die beiden Seiten der Ort/Raum-Differenzierung gegenseitig bedingen, liest man bei Klamt:

Davon ausgehend ist mit der de facto-Dimension vereinfacht gesagt das gemeint, was aus dem Zusammen- und Wechselspiel zwischen Nutzern und Räumen als Realität entsteht und entstehen kann. Die Wahrnehmung der Nutzer spielt deshalb die wichtigste Rolle. Sie müssen den Raum (zumindest potentiell) für sich ‘nehmen’ können. Damit kann neben dem physischen Raum auch imaginativer, virtueller oder medialer (und damit ebenfalls realer, nur anders dimensionierter) Raum gemeint sein. Das bezeichne ich als quantitatives Kriterium, weil es sich auf eine wie auch immer geartete Nichtbeschränkung bezieht und den Raum als solchen erst eröffnet.(Herv. im Orig.; Klamt 2007, 68-69)

Der Aspekt der öffentlichen Zugänglichkeit und/oder Nutzbarkeit kann dabei weiter differenziert werden, je nachdem, ob man sie auf die Produzenten oder die Empfänger bezieht. Scollon/ Scollon sprechen von sog. Exhibit-display spaces, wobei entscheidend ist, dass diese Art von Spaces „are set aside as not being open for public use, or at least not ‘use’ in the sense that we may act upon them“ (2003, 170). Solche ‘halb-öffentlichen’ Orte eignen sich die Produzenten durch das Anbringen von transgressiven Scritte Murali an, indem sie sich (unerlaubterweise) Zugang zu den Flächen verschaffen, Empfänger rezipieren dann die Scritte ohne Vorschriften oder Gesetze zu brechen. Die (potentielle)49 visuelle Zugänglichkeit für die Öffentlichkeit (auf Empfängerseite) ist also ausschlaggebend, wodurch auch alle Formen von Schriften die sich in einem solchen öffentlichen Raum befinden, wie Nachrichten auf Smartphones, ausschließen lassen. Die Zugänglichkeit, und damit einhergehend die Nutzbarkeit, muss also für die Produzenten unmittelbar, physisch sein. Für die Empfänger dagegen ist die visuelle Zugänglichkeit notwendig bzw. ausreichend. Da ich davon ausgehe, dass Scritte Murali als Kommunikationsmittel fungieren, ist anzunehmen, dass die Rezipienten-Seite der maßgebende Faktor ist, da die Produzenten den Standort nach der visuellen Zugänglichkeit für die intendierten Rezipienten auswählt. Scritte Murali befinden sich außerdem nicht innerhalb von Gebäuden, wodurch Scritte in (öffentlich zugänglichen) Toiletten, Museumsgebäuden, Bars oder ähnlichem nicht dazu gerechnet werden.

Die Trägerfläche spielt in diesem Zusammenhang insofern eine Rolle, als sie sich in einem solchen öffentlichen Ort bzw. Raum und nicht innerhalb von Gebäuden jeglicher Art befinden muss. Die Beschaffenheit der Trägerflächen ist lediglich dadurch eingegrenzt, dass sie mehr oder weniger starr bzw. fest sein muss, also Wände, Mauern, Handgeländer, Bäume usw. Informationsblätter z. B. (selbst wenn sie von transgressiver und informell-öffentlicher Natur sind) gehören also nicht zu Scritte Murali.

Ein letztes konstitutives – wenn auch ein marginales – Merkmal ist die Erstellungstechnik. Scritte Murali werden hauptsächlich durch auftragende Verfahren erstellt. Dazu zählen alle Arten von Farbauftragungen (Spraydose, Filz- oder Buntstift, Kugelschreiber usw.), aber auch Aufkleber oder (im weiteren Sinne des Begriffs) das Anbringen von Plakaten, Tazebaos oder sog. Striscioni, solange diese (auch) durch die anderen Merkmale (transgressiv, informell-öffentlich, öffentlich usw.) beschrieben werden können. Seltener sind abtragende (‘kratzende’) und v. a. verdrängende Verfahrensweisen. Digitale oder auditive Verfahren gehören nicht dazu.50

Die bisherigen Beobachtungen sind in Abbildung 21 graphisch zusammengefasst. Sie können nach direkten (unmittelbar, sensorisch ersichtlichen) und indirekten (kognitiv ableitbaren) Betrachtungs-Dimensionen gruppiert werden.51 Der direkten, unmittelbar ersichtlichen Dimension sind Aspekte zugeordnet, die mit der Materialität, der Situierung im Freien (also Standort-bezogen), der Zeichen-Form52 und der visuellen Zugänglichkeit zusammenhängen. Diese Aspekte betreffen die Konstituenten ‘Träger’ (in Bezug auf die Materialität und der Standort im Freien), ‘technische Verfahren’ (auf-, abtragend, verdrängend), ‘Informell-Öffentlich’ (frei wählbare Form) und ‘Öffentlicher Standort’ (im Freien und visuell zugänglich, i. S. v. unmittelbar sensorisch erfassbar).
Indirekt, also vom Rezipient mithilfe spezifischen Wissens interpretierbar, sind Aspekte hinsichtlich der Praktiken und Erstellungs-Techniken, d. h., die Rezipienten können Hypothesen über das Vorgehen und motorische Abläufe auf Seiten der Produzenten ableiten.53 Auch Bereiche des Konstituenten ‘Öffentlicher Standort’ gehören zur indirekten Dimension: die Empfänger müssen anhand von sozio-kulturellen und politisch-institutionellem Wissen sowie situationellem Kontext das Konstrukt ‘Öffentlichkeit’ erst abstrahieren. Ebenso müssen Teile der informell-öffentlichen Konstituente von den sichtbar-physischen Artefakten abgeleitet werden. Dazu gehört neben den Informationen über die Initiatoren (privat) auch die Interpretationen bezüglich den Inhalten, den konkret verwendeten stilistischen Formen und dem gewählten Standort. Zuletzt ist der Faktor ‘Transgressiv’ ausschließlich auf der indirekten Ebene einzuordnen, da dieses wesentliche Kriterium weder an Zeichen, noch am Träger oder Standort direkt erkenntlich ist. Erst durch das Interpretieren auf Basis von Wissen über Besitz und Eigentum, juristische und gesellschafts-strukturelle Bedingungen usw. kann das Zeichen als transgressiv erkannt werden.
Es handelt sich also in der direkten Dimension um Bottom-down-Prozesse. Kognitive oder Top-Down-Prozesse ergänzen diese physiologischen Wahrnehmungen um außersprachliches, abstraktes Wissen über verschiedene Konzepte und erlauben dadurch ein stark erweitertes Wahrnehmen der Zeichen.54 Beide Dimensionen, wie auch die anderen physikalischen Konstituenten, sind dabei nicht isoliert, sondern stets holistisch zu betrachten (mit variabler Gewichtung der einzelnen Faktoren). 

Schematische Darstellung der Definition von Scritte Murali

Schematische Darstellung der Definition von Scritte Murali

2.2.3. Textlinguistischer Rahmen und Multimodalität

Wir haben uns bisher aus einer eher intuitiv-vorwissenschaftlichen Perspektive dem Phänomen Scritte Murali angenähert, was zu einer Reihe von Beobachtungen geführt hat. Jedoch sind diese Beobachtungen bei weitem nicht ausreichend, um darauf ein Analysemodell aufzubauen. Eine Möglichkeit für einen theoretischen Zugang zum Phänomen ist, einige textlinguistische Rahmenbedingungen zu definieren.

‘Graffiti’ tauchen zwar immer wieder in Texttypologien verschiedenster Natur auf, aber die in den vorangehenden Kapiteln angeführten Gründe erfordern eine eigene Beschreibung bzw. einen angepassten Ansatz. Ich folge dabei der Prämisse von Ulrich Schmitz (zur multimodalen Texttypologie), dass „[e]ine vollständige Typologie […] weder möglich noch sinnvoll [ist]. Sinnvoll sind von Fall zu Fall zweckorientiert konstruierte Typologien“ (2016, 345). Es ist also nicht das Ziel in vorhandene Typologien einzusortieren, sondern eine texttypologische Beschreibung aus verwendungsorientierter Sicht zu skizzieren. Deshalb konzentriert sich eine solche Einordnung auf jene Faktoren, die bei der Betrachtung des Referenten aus kommunikativ-funktionaler Perspektive von größtmöglichem Nutzen sind. Mir ist bewusst, dass man die Faktoren anders wählen oder gewichten könnte und die nachfolgenden Einordnungen nicht die einzig möglichen sind. Dieses Kapitel hat zum Ziel, die Scritte Murali in einen textlinguistischen Rahmen einzuordnen, die gesammelten Parameter aus DEFAULT zu ergänzen und die Weichen für eine Untersuchung auf themenspezifischen, kommunikativ-funktionalen Mustern zu stellen.

Die These ist, dass Scritte Murali ein Kommunikationsmittel ist, das sich in Form von multimodalen Texten manifestiert und nur angemessen untersucht werden kann, wenn man die multimodalen Faktoren und Relationen miteinbezieht. An dieser Stelle ist zu klären, was (kontextuell) unter den Termini ‘Text’ und ‘multimodal’ zu verstehen ist und welche Argumente dafür sprechen, Scritte Murali als multimodale Texte zu bezeichnen.

Text. Aus Sicht einiger (v. a. traditioneller und alltäglicher) Konzeptionen von Text, wäre es sicherlich schwierig Scritte Murali (und viel mehr noch Graffiti) als Texte zu bezeichnen. Anhand Brinkers (2018) Textdefinitionen55 – die eigentlich kommunikationsorientiert sind – funktioniert das bspw. nur bis zu einem gewissen Grad: Es ist plausibel bei den Scritte von „eine[r] begrenzte[n] Folge von sprachlichen Zeichen, die in sich kohärent ist und die als Ganzes eine erkennbare kommunikative Funktion signalisiert“ (Brinker u.a. 2018, 17) zu sprechen. Laut Brinker handelt es sich dabei um Texte, die aus zusammenhängenden, korrekt gebildeten Satzfolgen bestehen (vgl. Schmitz 2016, 329). Die Scritte Murali bestehen, wie man im praktischen Teil der Arbeit sehen wird, allerdings selten aus zusammenhängenden oder korrekt gebildeten Sätzen und generieren ihre funktionale Bedeutung nicht ausschließlich durch „schriftkonstituierten monologischen Text“ (Brinker u.a. 2018, 20), sondern im Verbund mit anderen Modi. Es müssen also Ansätze gewählt werden, die den Textbegriff anders fassen. Ulla Fix plädiert dafür, von einer „faktischen Auflösung des sprachlichen Textes in einen multimedialen Text auszugehen und die Untersuchungsinstrumentarien danach einzurichten“ (Herv. im Orig.; 2001, 115) und weiter, dass „Texte […] als Komplexe von Zeichen verschiedener Zeichenvorräte betrachtet werden [müssen]“ (2001, 118). Diese Erweiterung des Textbegriffs um semiotische Dimensionen, erlaubt nicht nur eine Klassifizierung der Scritte Murali als ‘Text’ – was für sich genommen, von geringem Nutzen ist, da von einer Einordnung allein noch nichts gewonnen ist -, sondern verweist bereits auf die Notwendigkeit, die Faktoren des zu untersuchenden Gegenstandes auf verschiedenen (semiotischen) Ebenen zu betrachten. Eine semiotisch erweiterte Interpretation des Textbegriffes soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei den Scritte Murali um Zeichenprodukte handelt, deren Grundlage die Sprache ist, d. h., dass das sprachliche Zeichen das dominante semiotische System ist und anderen semiotischen Dimensionen v. a. komplementärer Status (in variabler Gewichtung) zukommt (- dies wird sich in der Beschreibung der Korpusdaten im zweiten Teil der Arbeit zeigen). Mit der Erhebung des Sprachlichen als dominantes Element, folge ich Adamzik, die gegen eine Ausdehnung des Textbegriffs auf Botschaften, die „mittels irgendeines semiotischen Systems“ plädiert, sondern „das Sprachliche [muss mindestens] eine bedeutende oder sogar dominante Rolle spielen“, um eine solche Botschaft als Text bezeichnen zu können (2002, 173; vgl. auch Adamzik 2016, 68).56

Multimodalität. Die Erweiterung des Textbegriffes hin zu weiteren semiotischen Ebenen, verweist auf den zweiten zu klärenden Terminus, der eingangs genannt wurde: Multimodalität. Eine eindeutige Definition zu diesem Begriff existiert bisher nicht und es ist fraglich, ob eine solche überhaupt möglich ist. Existierende Ansätze reichen von umfassenden Beschreibungen, mit dem Ziel Multimodalität als Ganzes zu fassen (z. B. Bateman u.a. 2017), bis hin zu stark zweckorientierten und disziplin-spezifischen Modellen (z. B. Kress/van Leeuwen 2006, Schweppenhäuser/Friedrich 2010). Auch mit Blick auf die im folgenden Kapitel anstehende Genese eines (multimodalen) Analyse-Modells, ist es notwendig einige grundlegende Aspekte von ‘Multimodalität’ in Bezug auf Sprache (zunächst bewusst weit gefasst) nach vorhandenen Ansätzen zu diskutieren. Dem Ansatz von Kress/ Van Leeuwen  zufolge, ist menschliche Kommunikation durch Sprache insofern multimodal, als die Verwendung des abstrakten Systems ‘Sprache’ „nur noch in seiner materialisierten bzw. medialisierten Form zu fassen“ ist, die zwangsläufig „auf unterschiedliche Zeichenressourcen zurückgreift“ (Klug/Stöckl 2015, 242). Innerhalb dieser semiotischen Zeichenressourcen spielt das sprachliche Zeichensystem eine zentrale, aber eben nicht exklusive Rolle und so kann der Sprachgebrauch einer Gemeinschaft nur dann angemessen erfasst werden, wenn die Merkmale der „relevanten Deutungs- und Verstehensrahmen“ mit einberechnet werden (Klug/Stöckl 2015, 243).57 In Bezug auf schriftliche Kommunikation bedeutet dies, dass die para-verbalen Visualisierungskontexte (wie Handschrift oder Farbe) nicht nur den Zugriff gewähren, sondern auch hinsichtlich des kommunikativen Zwecks eine Rolle spielen (vgl. Fricke 2012, 39). Für eine umfassende Erfassung einer kommunikativen Wirklichkeit ist dann von Interesse, auf welche Weise Sprache mit den verschiedenen semiotischen Zeichenmodalitäten verbunden ist und besonders welchen Status und welche Funktion die einzelnen Zeichenmodalitäten oder modes haben (vgl. Klug/Stöckl 2015, 244). Was genau mit Zeichenmodalität oder mode gemeint ist, hängt von der jeweiligen Sichtweise auf das Phänomen ab58 und so orientieren sich auch die Bezeichnungen für das Konzept an diesen Sichtweisen: bspw. funktionsbasierte Zugriffe, wie communicative resource (vgl. van Leeuwen 2011) oder mode of communication (vgl. LeVine/Scollon 2004). Bei Bezeichnungen für die Modalitäten als semiotic resource (vgl. O'Halloran 2004) oder representational mode (vgl. Jewitt/Kress 2003) steht dagegen der Zeichencharakter im Mittelpunkt. Charles Forceville, der selber keine Definition für mode gibt, sondern praktisch vorgeht und acht Arten von mode59 nennt, weist im Kontext der unterschiedlichen Definitionsversuche auf die Notwendigkeit einer klaren Abgrenzung hin, wenn er bemerkt:

Various attempts have been made […], but the definitions diverge, and it is too early to accord any of them authoritative status. However, if there is no agreement on what constitutes a mode, any dimension of discursive meaning could qualify for modal status, and that would make the concept useless.(Herv. im Orig.; Forceville 2014, 51)

Zwei Blickweisen, die jedoch miteinander kompatibel sind, lassen sich bei der Herangehensweise an eine Begriffsklärung von Multimodalität bzw. mode erkennen (vgl. Klug/Stöckl 2015, 245; Stöckl 2016, 4).60 Wird Multimodalität als empirischer Begriff verstanden – womit der Fokus auf Kommunikationspraktiken und ihren Gestaltungsmustern mittels variabel kombinierten Zeichenmodalitäten liegt – sind keine scharfen Grenzen zwischen den Zeichenmodalitäten fassbar, da diese sich gegenseitig überlappen und wechselseitig miteinander verwoben sind (vgl. Klug/Stöckl 2015, 244). Daraus resultiert, dass auch eine Definition von mode keine Kategorien unterscheidet und „mediale, kode-bezogene und sozial-kulturelle Faktoren“ zusammen gezogen werden (Klug/Stöckl 2015, 245). Eine der bekanntesten Definitionen i. S. dieser Sichtweise stammt von Gunther Kress, der mode (aus stark sozial-semiotischer Perspektive) als „a socially shaped and culturally given resource for making meaning. Image, writing, layout, music, gesture, speech, moving image, soundtrack are examples of modes used in representation and communication“ (Herv. im Orig.; Kress 2011, 54) definiert. Er unterstreicht dabei die zwei Aspekte ‘sozial’ (in „social semiotics“) und die „formal requirements“ für eine sozial-semiotische Kommunikationstheorie. Sozial gesehen ist ein mode dann „what a community takes to be a mode and demonstrates that in its practices“ (Kress 2011, 58-59). Page spricht in diesem Kontext von der „fluid nature of modes“ (2010b, 6).
Die zweite Sichtweise fasst Multimodalität als kategorialen Begriff auf und schreibt ihm daher den Status eines „Wesensmerkmal[s] von Zeichengebrauch in Text und Interaktion“ zu (Klug/Stöckl 2015, 244). Diese Perspektive erfordert eine Trennung bzw. Ordnung der Zeichenmodalitäten, welche sich oft an prototypischen Modalitäten (Schrift, Rede, Gestik, Mimik, Bild, Ton usw.) orientiert. Modes stellen hier v. a. „Zeichensysteme, die über Ressourcen und Regeln ihrer Verwendung (Grammatik) verfügen“ dar (Klug/Stöckl 2015, 245). Gleichzeitig spielen die Parameter Medium und Sinneswahrnehmung eine ausschlaggebende Rolle, da der Zeichengebrauch immer an eine Materialität (Medium) gebunden ist und über einen Sinneskanal prozessiert wird. Eine Zeichenmodalität kann dabei in ihrer Medialität verschiedentlich realisiert und über verschiedene Sinneskanäle verarbeitet werden: Sprache kann gesprochen oder geschrieben, gehört oder gelesen werden. Außerdem können modes in eine andere Zeichenmodalität übergehen – bspw. können typographische Praktiken Schrift zu Bildern werden lassen (vgl. Klug/Stöckl 2015, 245). Modalitäten sind kognitiv miteinander verwoben, wodurch es dazu kommen kann, dass eine Modalität eine andere entstehen lässt: so können Redewendungen durch Bilder visualisiert werden (vgl. dazu das Beispiel in Klug/Stöckl 2015, 246). Auf diesen Konzepten – Medium, Kode und Sinneswahrnehmung – basieren dann anwendungsorientierte Begriffsdeutungen von semiotischen Zeichenmodalitäten, wie dies bei Klug und Stöckl der Fall ist. Sie beschreiben das Phänomen-Komplex mit folgenden fünf Aspekten der Zeichenressourcen: 1) Materialität und Medialität, 2) Kodalität (Zeichenset und Grammatik), 3) Sinnesmodalität, 4) Prozessierungsverfahren und 5) sozio-kulturelle Konventionen (Klug/Stöckl 2015, 245)

Ein weiterer, erwähnenswerter Aspekt sind die Funktionsweisen der Multimodalität. Prinzipieller Konsens besteht dabei, dass Zeichenmodalitäten, innerhalb eines Gesamttextes oder kommunikativen Ereignis, in „einem komplementären und wechselseitig integrierenden Bezug“ zueinander stehen (Klug/Stöckl 2015, 247). Trotzdem lassen sich klare Akzentuierungen in Bezug auf die postulierten Funktionsweisen erkennen: für Royce (2013) stehen intersemiotische, Kohärenz-stiftende Vertextungsprinzipien im Vordergrund, Jewitt und Kress dagegen prägten Ausdrücke wie modal affordance, reach of mode oder functional load, um das semantische Ausdruckspotenzial oder die multimodale Aufgabenteilung der Zeichenmodalitäten zu fassen (Kress 2011; Jewitt/Kress 2003). Es existieren aber auch Ansätze aus der Sozialsemiotik – die neben den Ideen von Roland Barthes aus dem Aufsatz Die Rhetorik des Bildes (vgl. Klug/Stöckl 2015, 248) v. a. auf Hallidays Funktionaler Grammatik basieren – sowie text-  und diskursanalytische oder rhetorische Ansätze.
Die recht komplexen Verhältnisse, die Vielzahl an Aspekten und Faktoren, die außerdem variabel gewichtet werden müssen (abhängig vom Forschungsziel) und die Einflüsse aus den unterschiedlichsten Disziplinen, bieten eine breite Palette an möglichen Zugängen zum Forschungsgegenstand, erfordern dabei jedoch gleichzeitig ein gewissenhaftes Vorgehen. So fasst Stöckl zusammen:

Jede Zeichenmodalität ist an einen Kanal der Sinneswahrnehmung gebunden. Sie muss materiell-medial realisiert werden und in einer raumzeitlichen und sozialen Situation verwendet werden. Semiotische Modalitäten verfügen über eine interne Strukturierung, die Bedeutungen, Kombinationsmöglichkeiten und Gebrauchsfunktionen ihrer Zeicheninventare regelt. Aus dieser Auffassung lässt sich der Schluss ziehen, dass bei der Zuordnung von Phänomenen zu modes Vorsicht geboten ist. Farbe z. B. scheint eher Bestandteil, d. h. Ressource von Bild oder Typographie; Film, Comics, Oper, Tanz etc. sind medial bestimmte Kommunikationsformen bzw. ihre multimodalen Textsorten, nicht aber Zeichenmodalitäten.(Stöckl 2016, 9)

Diese grundlegenden Betrachtungen zum Phänomen Multimodalität können nun mit den Scritte Murali verbunden werden. Eine Klassifizierung nach den Merkmalen Sinneskanal und Medium (s. o.) ist schnell geschehen: Scritte Murali werden visuell prozessiert (psychologisch sinnliche Wahrnehmung) und eine Kombination technisch-materiell unterschiedlicher Ausdeutungen (mediale Realisierung) findet innerhalb einer Scritta typischerweise nicht statt, sondern beschränkt sich auf ein und dieselbe (auf- und abtragende) Technik, wobei (typischerweise!) derselbe Werkstoff verwendet wird (vgl. Stöckl 2016, 7).61 Intertextuell ist eine medial-materielle Varianz möglich, d. h., die einzelnen Scritte (oder Texte) können durch verschiedene Techniken und Materialien erstellt werden. Es bleibt also eine Ausdeutung auf kodaler Ebene, im Sinne von Zuordnungen zu bestimmten Zeichensystemen. Zwei Zugänge sind für eine (multimodale) Beschreibung besonders gewinnbringend: erstens die Kombination semiotischer Zeichensysteme innerhalb der Texte und zweitens eine Deutung des Standortes als semiotische Modalität.

Die textuellen und rhetorischen Prinzipien der „Vielgestaltigkeit von Zeichentypen und ihrer Verknüpfung [ist] recht klar umrissen“ (Stöckl 2016, 4) und lässt sich auch für Scritte Murali bestimmen. Es können schrift-sprachliche Zeichen mit statischen Bildern verknüpft werden, wobei beide Zeichensysteme ihren eigenen Regeln folgen und jeweils komplementär zur Gesamtbedeutung beitragen. Genauer gesagt, „folgen [sie, also Sprache und Bild,] einer unterschiedlichen internen Logik, haben verschiedene semantische Reichweiten und erlauben je spezifische kommunikative Funktionen“ (Stöckl 2016, 18), sind also nach syntaktischen, semantischen und pragmatischen Dimensionen zu differenzieren (vgl. Stöckl 2016, 9-18). Typischerweise nimmt Sprache dabei eine dominante Rolle ein. Designmodi, wie Typographie, Anordnung der Zeichen, Farbe usw., können dabei ebenfalls als modes gedeutet werden und es wird sich zeigen, dass ihnen in bestimmten Fällen ein entscheidender Status zu zuschreiben ist. Allerdings sind diese Designmodi immer an die Schriftsprache bzw. Bildlichkeit gebunden und können daher nicht als eigenständige modes gesehen werden, sondern gelten als periphere Zeichenmodalitäten, mit einem eigenen Set an Ressourcen (vgl. Stöckl 2004). Diese sekundären Zeichensysteme, soviel sei bereits an dieser Stelle vorweggenommen, fungieren besonders als konnotative Bedeutungsträger (vgl. Spitzmüller 2016, 231-233). Sowohl die Kombination aus bildlichen und schriftsprachlichen Zeichen als auch jene der unterschiedlichen Designmodi, sind dabei nicht zwingend realisiert und so bleibt das multimodale Moment aus dieser Perspektive ein potentielles.

Zweckmäßiger ist es, wenn man nicht nur von den intern verwendeten Zeichen ausgeht, sondern die jeweiligen Texte in ihrer Gesamterscheinung als Anknüpfungspunkt wählt und sie Zeichentypen zuordnet. Ausschlaggebend ist dabei die Beziehung der Zeichen zu den bezeichneten Objekten und Konzepten (Zweite Trichotomie nach Peirce, vgl. Peirce 1994, 2.247-249), die für Peirce die „grundlegendste Einteilung der Zeichen“ darstellt (Nöth 2000, 66). Stark vereinfacht unterscheidet Peirce Zeichen innerhalb der zweiten Trichotomie nach Symbol, Index und Ikon und ordnet sie den Kategorien der Erstheit (Möglichkeit), Zweitheit (Existenz) und Drittheit (Gesetz) zu (vgl. Nöth 2000, 66). Ähneln Zeichen dem Objekt, für welches sie stehen, so handelt es sich um Ikone. Entscheidend ist also die Ähnlichkeit zwischen Objekt und Zeichen. Indexikalische Zeichen stehen in kausaler Relation zum Objekt. „The index is physically connected with its object; they make an organic pair, but the interpreting mind has nothing to do with this connection, except remarking it, after it is established“ (Peirce 1994, 2.299). Handelt es sich um Zeichen, deren Bedeutungszuschreibung auf gesetzmäßigen Regeln bzw. Gewohnheit beruhen, so handelt es sich um ein Symbol. Oft wird davon ausgegangen, dass nach Peirce Symbole zwingend konventionell und arbiträr sind. Streng genommen ist Konventionalität für Peirce jedoch lediglich ein hinreichendes und kein notwendiges Kriterium (vgl. Nöth 2000, 179). Entscheidend ist (nach Peirce) die Regelmäßigkeit mit der einem Zeichen Bedeutung zugewiesen wird und zwar „ohne irgendeine Form der Motivation durch das Objekt“ (Nöth 2000, 179). Der Objektbezug ist also willkürlich, d. h., er beruht weder auf Ähnlichkeit (Ikon), noch auf faktischer Zusammengehörigkeit (Index) (vgl. Nöth 2000, 66).

Scritte Murali können nun dem Rang dieser Zeichentypen zugeordnet werden, wobei jedes kategoriale Moment entscheidend am Bedeutungs- und Verstehensprozess mitwirkt.
Scritte Murali als symbolische Zeichen. Scritte Murali können symbolischen Zeichencharakter haben, da sie gesetzmäßig und der Gewohnheit bestimmter Gesellschaftsformen nach für etwas stehen, ohne durch dieses ‘etwas’ direkt motiviert zu sein. Sie können bspw. als subversiv gelten, aber auch als tolerierte oder sogar gewünschte (Massen-) Kommunikationsform, sicherlich aber werden sie als transgressiv gedeutet. Die Klassifizierung als Text impliziert außerdem, dass Scritte Murali typischerweise symbolische Zeichensysteme (Sprache) auf einer internen Ebene verarbeiten.
Scritte Murali als ikonische Zeichen. Scritte Murali können auch als Ikone interpretiert werden, wenn auch auf abstrakterer Ebene, und zwar ausgehend von der Erscheinung des Gesamttextes, selbst wenn keine bildlichen Elemente realisiert werden. Mit anderen Worten ausgedrückt: wenn der gestalterischen Präsentation eine größere Rolle zukommt, sie also eher als Schrift-Bilder wahrgenommen werden – ähnlich wie bei den American Graffiti (s. o.; vgl. Metten 2011). Die peripheren Modalitäten, wie Typographie, Farbwahl usw., kommunizieren „quasi ikonisch“ (Stöckl 2004, 14), was offensichtlich Auswirkungen auf die „Prozesse des Bedeutens und Verstehens“ hat, da „Präsenz- und Sinneffekte […] nicht voneinander zu lösen“ sind (Metten 2011, 74-75). Noch einleuchtender wird der ikonische Charakter von Scritte Murali, wenn man die Ideen Roland Barthes‘ (zu Werbetexten) berücksichtigt, da er den Bildteilen der Werbung kodierte ikonische Botschaften zuschreibt, das sie „Konnotationen des Bildes“ (im Sinne von „Produktimage[s]“) vermitteln (Nöth 2000, 510). Die ikonischen Konnotationen der Scritte Murali – also ihr „Produktimage“ – sind bspw. ihr transgressives und/oder subversives Moment, das in „sekundäre symbolische“ Bedeutungen (s. o.) übergeht.
Scritte Murali als indexikalische Zeichen. Ganz entscheidend ist die Tatsache, dass Scritte Murali immer auch indexikalisch funktionieren, da sie auf mehreren Ebenen auf ‘etwas’ verweisen. Zunächst sind sie unwiderruflich an ihren Standort und damit an ihre Oberfläche gebunden sind – werden sie entfernt, überschrieben oder verschwinden bspw. aufgrund der Witterung, so existieren sie nicht mehr, außer sie werden fotografiert oder, wie im Rahmen dieser Arbeit, in einem Korpus digitalisiert. Dann jedoch sind es so gesehen keine Scritte Murali mehr, sondern die Fotografien oder digitalisierten Formen sind dann selbst Ikone der eigentlichen Scritte (= Referenzobjekte) mit ihrem ganz spezifischen Standort. Diese „faktische Existenz in Raum und Zeit“ ist für Peirce die Voraussetzung für ein indexikalisches Zeichen (Nöth 2000, 185). Scritte Murali (wie auch allgemein Graffiti) nehmen eine Sonderstellung ein, weil die Trägerflächen nicht einfach nur als Untergrund dienen, sondern „selbst zeichenhaft“ sind, also zu „bedeutungsvollen Flächen werden, deren Verortung für die Sichtbarkeit entscheidend ist“ (Herv. im Orig.; Metten 2011, 84; vgl. auch die Überlegungen zu Träger und Standort oben). Die Verortung  (also der Standort) und damit der indexikalische Aspekt ist für diese Form der Kommunikation ganz entscheidend, da Scritte Murali erst durch den Standort (im öffentlichen Raum) existieren und zu Scritte Murali werden. Sie verweisen gleichzeitig auf einen Produzenten (‘Jemand war hier!’) und seine/ihre möglichen Stimmungen und/oder Einstellungen (vgl. Stöckl 2016, 14). Außerdem geben sie immer Hinweise auf Handlungen, wobei mit Handlungen nicht nur die Erstellungstechnik, verwendeten Werkstoffe und motorischen Abläufe während der Erstellung gemeint sind, sondern auch die (transgressive) Inbesitznahme der Fläche (vgl. auch Metten 2011, 84).

Einige der bisher eher abstrakt-theoretischen Ausführungen möchte ich exemplarisch anhand einer konkreten Scritta verdeutlichen. Betrachten wir die semantisch-funktionalen und formal-strukturellen Aspekte einer möglichen Scritta wie Giulia ti amo ♥ (vgl. Abb. 22).

Liebes-Scritta: GIULIA TI AMO ♥ (ScriMuRo)

Liebes-Scritta: GIULIA TI AMO ♥ (ScriMuRo)

Die Gesamtbedeutung dieser Scritta (auch in Hinblick auf die Funktionalität) wird durch verschiedene Elemente generiert, die mehr oder weniger stark gewichtet werden können (bzw. müssen). So beteiligen sich aus formal-struktureller Sicht verschiedene Einheiten an der Sinnstiftung: die ikonische und symbolische Funktion bestimmter Ressourcen der Designmodi – wie Farbwahl oder eine ästhetisch ansprechende Typographie – können bewusst vom Produzenten gewählt werden, um die semantisch-funktionale Seite zu modellieren. Mehr noch kann die Anordnung der Zeichen und die Verwendung von Bildelementen (♥) mit symbolischer und ikonischer Funktion die Bedeutung manipulieren. Würden die verschiedenen Ressourcen ‘falsch’ oder besser ‘schlecht’ gewählt (z. B. Frakturschrift oder anstatt eines Herzen ein Smiley), so würde die Aussagekraft der Scritta gemindert bzw. abgeändert werden. Noch entscheidender ist der öffentliche Standort und der Aspekt als indexikalisches Zeichen, da die Scritta an einem ungünstigen Standort (bspw. an einem Ort, den Giulia wahrscheinlich nicht frequentieren wird) ihren Zweck verfehlen würde und auch der Verweis auf den Produzenten und seine Einstellung (Liebesgefühle) nicht mehr abgeleitet werden könnte. Wie bereits erwähnt, ist die Verwendung von Sprache eine zentrale Modalität, da sie die semantisch-funktionale Seite am besten füllen kann. Die Verwendung bestimmter Verben und –formen (amo), die deiktischen Verweise (-o, ti) und die konkrete Referenz auf eine Einzelperson mit dem Namen Giulia, transportieren den Großteil der vermittelten Botschaft. An diesem Beispiel wird deutlich, dass erstens der Sprache eine dominante Rolle zukommt, zweitens die anderen Elemente in verschiedenem Maße an der Gesamtbedeutung teilhaben und drittens bestimmte Elemente, nämlich der Standort, ganz wesentlich und entscheidend für die Bedeutung sind. Es wird auch deutlich, dass bestimmte Faktoren, wie Herstellungswerkzeug, Farbe und Typographie, eher eine periphere Rolle einnehmen. Die Bedeutung der Scritta würde auf denotativer Ebene nicht geändert werden, würde sie in einer schlecht gewählten Typographie geschrieben werden – auf konnotativer Ebene dagegen schon.62

Scritte Murali generieren ihre Bedeutung also nicht allein auf der sprachlichen Ebene (Symbol), sondern ihre kommunikative Wirklichkeit kann erst unter Einbeziehung ihrer Ikonizität und ihres verweisenden Zeichencharakters (Index) erfasst werden. Dabei handelt es sich nicht um Mischformen, wie es oft in der Literatur beschrieben wird (vgl. etwa Stöckl 2016, 13). Scritte Murali sind nicht ein Zeichen, das gleichzeitig symbolisch, indexikalisch und ikonisch ist, sondern in Scritte Murali gibt es „isolatable aspect[s] of a situation that is working (i.e., is being isolated by an interpreter)“ (Bateman u.a. 2017, 61), nämlich symbolische, indexikalische und ikonische Aspekte. Diese Aspekte „are orchestrated together as [three] responses to a single ‘encounter with the world’ needing interpretation“ (Bateman u.a. 2017, 61). Selbstverständlich sind diese Aspekte eng miteinander verwoben und werden in der Prozessierung bzw. bei der Interpretation parallel und komplementär verarbeitet. Bateman bezieht die Unterscheidung der Zeichen nach ihren Objektrelationen auf die modes:

Essentially the division is concerned with explaining the ways (or, in yet another sense to that which is employed in multimodality, the ‘modes’) in which the connection between signs and their objects can be constructed—that is, just what is it about some particular sign-vehicle and its object that supports that usage as a sign. Peirce offers three ‘modes’, or manners of support […].(Herv. im Orig.; Bateman u.a. 2017, 59)

Die Kombination mehrerer (oder mindestens zweierlei) Zeichenaspekte begründet also, neben der textuell-rhetorischen Bild-Schrift-Kombination, eine Deutung der Scritte als multimodale Texte.63

Zusammenfassung. Scritte Murali können also im Rahmen einer minimalen Definition und auf den zugrunde gelegten Beobachtungen und Konzepten folgendermaßen beschrieben werden: Scritte Murali sind eine visuell wahrnehmbare Kommunikationsform, die sich in Gestalt klar abgegrenzter, multimodaler Texte präsentiert, worin schrift-sprachliche Zeichen typischerweise eine dominante Rolle einnehmen. Die Modalitäten und konstitutiven Elemente der Scritte werden „formal-strukturell und semantisch-funktional in den Gesamttext eingebunden“ (Stöckl 2016, 5), wobei sich die einzelnen Elemente im Bereich des Ausdruckpotenzials und der funktionalen Eigenschaften unterscheiden, typspezifisch zur Gesamtbedeutung der Scritta beitragen und intern strukturiert sind. Neben dem dominanten Status der Sprache, sind die konkrete raum-zeitliche (Standort) und sozial-situationelle Einbindung sowie die materiell-mediale Realisierung als zentrale Elemente für die Sinnstiftung der Scritte zu sehen. Scritte Murali sind grundsätzlich transgressiv, ihre Inhalte und ihre Formen sind informell-öffentlich und ihr Standort ist mindestens visuell der Öffentlichkeit zugänglich.

Die im vorherigen Kapitel beschriebenen formalen Charakteristika der Scritte, basieren auf der Grundannahme, dass es sich bei Scritte Murali um eine Form von Kommunikation handelt. Eine strukturelle Betrachtung und Klassifizierung, ganz gleich welcher Art, ist dabei v. a. Mittel zum Zweck, d.h., die (Zu-) Ordnung allein „trägt […] nicht unbedingt zu Erkenntnis bei“ (Schmitz 2016, 343), sondern ist zweierlei Zwecken dienlich: erstens schafft sie einen Überblick über den Forschungsgegenstand und zweitens stellt dieser Überblick die Weichen für die eigentliche(n) Forschungsfrage(n). Die bisherigen Betrachtungen sind nicht erschöpfend und müssen es auch nicht sein, da aus einer statisch-deskriptiven Beschreibung der  Scritte noch nicht wirklich viel gewonnen ist. Sie dienen eher als Beschreibungswerkzeug, welches einen zweckorientierten Zugang zum Gegenstand eröffnet. So werde ich nun Schritt für Schritt von einer semasiologischen Herangehensweise (Was bedeutet das Zeichen ‘Scritte Murali’?) zu einer onomasiologischen Perspektive (z. B. Wie funktionieren die konkreten Ausprägungen?) übergehen. Ich möchte dazu die (vorrangig) formalen Aspekte der vorangegangenen Kapitel als Anknüpfungspunkt nehmen, um einige Thesen abzuleiten, die sich in die übergreifende Forschungsfrage, Scritte Murali als Kommunikationsform zu analysieren, integrieren lassen. Ausgehend von diesen Thesen werde ich im nächsten Kapitel ein passendes Analysemodell erstellen und es auf ein Korpus konkreter Scritte anwenden.

3. Theoretisches Arbeitsmodell

Die Ausführungen und textlinguistischen Kategorisierungsversuche in Kapitel dienten v. a. für eine Sensibilisierung in Bezug auf die Thematik sowie zur Orientierung innerhalb der Materie, die sich auf den ersten Blick unübersichtlich darstellt. Nicht grundlos werden die SM alltagssprachlich als Gekritzel oder Geschmiere bezeichnet, da es sich augenscheinlich um recht willkürlich erstellte Texte oder Textteile handelt. Jedoch konnten im vorangegangenen Kapitel bereits einige wesentliche Merkmale fixiert werden und ein erster Überblick, der gewisse Muster und Schemata erahnen lässt oder zumindest hypothesiert. Um die kommunikative Wirklichkeit der Scritte Murali möglichst umfassend zu verstehen – soweit dies möglich ist – und theoretisch zu erfassen, muss nun ein Arbeitsmodell geschaffen werden, welches die konstitutiven Faktoren beinhaltet.

Aufgrund der Komplexität der SM, scheint es sinnvoll bei traditionellen Fundamenten anzuknüpfen und ‘modernere’ Ansätze, trotz ihrer Leistungsfähigkeit, hinten anzustellen. In Hinblick auf eine spätere Analyse und Interpretation der kommunikativen Strategien ist es nötig, kommunikations-konstitutive Basiskategorien zu selektieren und gegebenenfalls auf Verbindungen zu benachbarten Bereichen und/oder Disziplinen zu verweisen. Ein klassisches Modell, welches die Funktionen von sprachlicher Kommunikation erklären sucht, ist jenes von Roman Jakobson (1979). Praktikabel erweist sich dabei, dass Jakobson die Funktion in Verbindung mit basalen Kategorien oder Dimensionen deutet. In Anlehnung an Jakobsons Modell möchte ich in diesem Kapitel die Basiskategorien für die Kommunikationsform SM erörtern. Die bisherigen Beobachtungen bekommen dadurch einen stabilen Rahmen und verschiedene Analysedimensionen werden auf diese Weise eminent. Das anschließende Kapitel setzt sich konkret damit auseinander, wie musterhafte Strukturen und Prozesse auf textinterner Ebene der SM anhand eines Korpus erfasst werden können, um Genres einteilen zu können.

3.1. Analytische Basiskategorien nach Jakobson

Die Überlegungen der vorherigen DEFAULT deuten darauf hin, dass es variabel gewichtete, ineinander verwobene und grundlegende Merkmale der Scritte Murali als Textform gibt. Möchte man SM als Kommunikationsform analysieren und ihre Funktionalitäten theoretisch erfassen, so ist es nötig analytische Bezugsgrößen für die Interpretation festzulegen. Aufgrund der Komplexität und der Spezifik dieser Kommunikationsform ist es nicht möglich vorhandene Analysemodelle zu verwenden, ohne diese zweckgerichtet anzupassen. Feinkörnigere Klassifikationen verschiedenster Kommunikationsformen, wie sie z. B. bei Schmitz (vgl. 2016, 336-337) zu finden sind, scheinen auf den ersten Blick recht übersichtlich. So zählen Graffiti (zu denen, wie man sehen konnte, SM zu rechnen sind) bei Schmitz zu den „[p]otentiell multimodale[n] sprachgebundene[n] Kommunikationsformen“ und werden nach den Dimensionen „Sein“, „Modus“ und „Nutzung“ beschrieben (2016, 337):

  1. Sein: Graffiti (und damit SM) sind weder flüchtig noch aktuell.
  2. Modus: Schriftliche und statisch-bildliche Elemente können verbunden werden.
  3. Nutzung: Die Kommunikationsrichtung ist unidirektional; SM sind „öffentlich“ und es ist nicht möglich „[sich] aktiv ein- oder auszuschalten“ (Schmitz 2016, 336).

Meine persönliche Erfahrung (die sich in den Ergebnissen der Korpus-Auswertungen widerspiegelt, siehe DEFAULT) und einige der oben ausgeführten Beobachtungen, stellen jedoch bestimmte Punkte dieser Klassifizierung in Frage:

  • Zum Sein: Die Texte der SM können (und werden) regelmäßig ‘entfernt’, was einer Klassifizierung als ‘nicht flüchtig’ zwar grundsätzlich nicht widerspricht, aber zumindest eine genauere Betrachtung dieses Faktors erfordert.
  • Zum Modus: Richtig ist, dass schriftliche und nicht-schriftliche graphische Verfahren miteinander verbunden werden (können). Geklärt ist dabei jedoch nicht die Bedeutung der einzelnen Merkmale für die Sinnstiftung des Gesamttextes und in Bezug auf die Textfunktion.
  • Zur Nutzung: Es scheint zunächst, dass SM (bzw. Graffiti) unidirektional sind. Allerdings besteht wohl die Möglichkeit SM-Texte zu modifizieren (also z. B. zu kommentieren, innerhalb der Textfläche), wodurch direkte Kommunikation entsteht und auch ein „sich aktives ein- oder ausschalten“ (s. o.) möglich ist. Inwiefern dies für alle SM-Texte bzw. –Genres gilt, ist noch zu klären. Der Faktor Öffentlichkeit wurde bereits angesprochen.

Dass eine solche Klassifizierung nicht wirklich funktioniert, liegt m. E. n. besonders an einer fehlenden Ausdifferenzierung der verschiedenen Graffiti-Unterformen (siehe Kapitel ). Ganz gleich, wie eine Klassifizierung nach diesem Schema zu diskutieren ist, wird jedem, der sich mit SM eingehender beschäftigt, schon rein intuitiv bewusst, dass gewisse, ganz grundlegende Faktoren distinktiver Natur nicht berücksichtigt werden – man denke dabei besonders an die hervorstechende Bedeutung des (Stand-) Ortes für die Texte (siehe DEFAULT und DEFAULT). Holly weist auf die Schwächen solcher „Merkmalslisten“ hin, wenn er feststellt, dass diese „nicht die feinen Unterschiede [erfassen], die durch bestimmte technisch-mediale und kulturelle Unterschiede erreicht werden“ (2011, 152).64 Entscheidend ist an dieser Stelle jedoch nicht eine Diskussion des Nutzens bestimmter Typologien, sondern, wie Holly weiter herausstellt: „Viel interessanter als die typologisierende Einteilung wäre aber eine konsequente Beschreibung der Kommunikationsform-Vielfalt mit ihren technischen und historisch-kulturellen Hintergründen“ (2011, 160). So lautet die Frage also, wie sich SM als Kommunikationsform beschreiben lassen und welche Faktoren – neben dem technischen-medialen Aspekt – von besonderer Bedeutung sind.

Auf diesem Hintergrund werden nun zweckgerichtet analytische Basiskategorien erstellt, wobei ich mich an Roman Jakobsons Kommunikationsmodell von 1960 orientiere und die von ihm beschriebenen konstitutiven Faktoren adaptieren bzw. erweitern möchte, soweit dies in Hinblick auf die SM notwendig ist. Auf diese Weise werden distinktive Größen herausgestellt, welche für eine Interpretation der kommunikativen Funktionen erforderlich sind. Dabei möchte ich noch einmal unterstreichen, dass an dieser Stelle noch keine Interpretation der Funktionen stattfinden soll, sondern lediglich die Basiskategorien mit Bezug auf das Korpus fixiert werden. Dies bedeutet bspw., dass geklärt werden soll, ob der Ort von Bedeutung ist und in welchem (grundlegenden) Maße, aber (noch) nicht welche funktionalen Aufgaben der Raum übernimmt oder wie SM in wechselseitiger Beziehung mit dem (Stand-) Ort diesen zu einem kommunikativen Raum werden lassen.

In seinem berühmten Aufsatz Poetik und Linguistik von 1960 fasst Jakobson seine Gedanken zu den Sprachfunktionen, welche schon in früheren Werken teilweise auftauchen, zusammen (vgl. Auer 2013, 33-34). Sein Funktionsmodell zeigt v. a. in graphischer Hinsicht Ähnlichkeiten mit Shannon und Weavers Kommunikationstheorie, knüpft aber explizit65 an Karl Bühlers Organonmodell an. In Bühlers Modell steht das sprachliche Zeichen im Zentrum und Kommunikation spielt insofern eine Rolle, als das Zeichen erst in der Kommunikationssituation konstituiert wird, „d. h. in der Beziehung zwischen Sprecher (Sender), Hörer (Empfänger) und Denotat (Gegenstände und Sachverhalte)“ (Auer 2013, 26). Jakobson möchte ein Modell schaffen, das erlaubt Sprache „in Bezug auf die ganze Vielfalt ihrer Funktionen“ zu untersuchen(1979, 88). Eine solche Interpretation (bei Jakobson „Skizzierung“, 1979, 88) „verlangt eine kurze Übersicht der konstitutiven Faktoren in […] jedem verbalen Kommunikationsakt“ (Jakobson 1979, 88). Diese Faktoren lassen sich nach Jakobson folgendermaßen beschreiben:

Der SENDER macht dem EMPFÄNGER eine MITTEILUNG. Um wirksam zu sein, bedarf die Mitteilung eines KONTEXTS, auf den sie sich bezieht (Referenz in einer andern, etwas mehrdeutigen Nomenklatur), erfaßbar für den Empfänger und verbal oder verbalisierbar; erforderlich ist ferner ein KODE, der ganz oder zumindest teilweise dem Sender und dem Empfänger (oder m. a. W. dem Kodierer und dem Dekodierer der Mitteilung) gemeinsam ist; schließlich bedarf es auch noch eines KONTAKTS, eines physischen Kanals oder einer psychologischen Verbindung zwischen Sender und Empfänger, der es den beiden ermöglicht, in Kommunikation zu treten und zu bleiben.(Herv. im Orig.; Jakobson 1979, 88)

Graphisch lassen sich diese „unabdingbaren Faktoren“ (Jakobson 1979, 88) in folgendem Schema (Abb. 23) festhalten:

Kommunikationsmodell nach Jakobson (1960)

Kommunikationsmodell nach Jakobson (1960)

Jakobson beschreibt anschließend die dominanten Funktionen (vgl. 1979, 88-96), welche sich in Bezug auf diese sechs Faktoren ausrichten, worauf ich jedoch nicht weiter eingehen möchte. Vielmehr möchte ich die einzelnen Dimensionen im Hinblick auf Scritte Murali betrachten, gegebenenfalls neu ordnen und um nötige Kategorien erweitern. Wie an anderer Stelle bereits angedeutet, ist eine gewissenhafte Auseinandersetzung mit den konstitutiven Faktoren der Kommunikationskonstellation(en) unerlässlich. Bateman (2017) weist in seinem ausführlichen Werk zur Multimodalität(sanalyse) wiederholt auf die Wichtigkeit dieses Schrittes hin und im Kontext von kommunikativen Situationen:

One of the most significant problems found in particular disciplinary accounts of ‘communication’ is that of missing ‘levels’ of abstraction or organisation. Failing to separate out levels of representation sufficiently is the single most common cause of descriptive confusion or lack of specificity.(2017, 77)

Und an anderer Stelle:

Moving too quickly from simple to complex descriptions often means that important properties are being skipped over, and these may come back to haunt us later if a different communicative situation demands attention to be paid to just those properties that were formerly ignored.(2017, 78)

Es wird sich zeigen, dass SM eine Kommunikationsform ist, welche ihre Bedeutungen und Funktionalitäten zu einem alles andere als geringen Teil aus Faktoren erfährt, die in vielen theoretischen Arbeitsmodellen zu Kommunikation bisher vernachlässigt wurden.66

3.1.1. Kommunikationsteilnehmer (Produzent und Rezipient)

Wer spricht? Wer in der Menge aller sprechenden Individuen verfügt begründet über diese Art von Sprache?(Foucault 1981, 75)

Die oft verwendete „Übertragungsmetapher“ (Luhmann 1984, 194), dass ‘jemand’ – ein Sender – ‘jemandem anderen’ – einem Empfänger – etwas überträgt oder übermittelt, ist so gesehen richtig, lässt jedoch bei weitem die von Bateman geforderte Genauigkeit (s. o.) für ein komplexes Kommunikationsmittel wie SM vermissen. Adamzik beklagt zu Beginn des Kapitels zu Produzenten und Rezipienten in ihrer Arbeit zur Textlinguistik (2016), dass eine Differenzierung in Bezug auf diese Dimension eine (zu) geringe Rolle spielt und spricht einen weiteren wichtigen Punkt an:

Alle Anleitungen zur Textproduktion, zur kritischen Beurteilung von Texten und Vorschläge für ihre Optimierung stellen die adressatengerechte Gestaltung in den Vordergrund. Welchen Texten man wie begegnet – wozu auch gehören kann, dass man sie gar nicht erst zur Kenntnis nimmt bzw. gleich wegwirft –, mit welcher Einstellung und Vorerwartung man sich ihnen nähert, ist entscheidend davon abhängig, wen man als Produzenten/Autor identifiziert.(Adamzik 2016, 136)

Die Tatsache, dass SM weithin als ‘Geschmiere’ betrachtet werden, hat demnach nicht nur mit der (negativen) Einstellung der Rezipienten zu tun, sondern auch mit der Identifikation der Produzenten und/oder Autoren. Dass Scritte von vornherein ignoriert (oder absichtlich nicht gelesen werden), kann auch damit zusammenhängen, dass die (produzentenseitige) Wahl dieser transgressiven Form, Rückschlüsse auf die Produzenten und ihre Werte provozieren. Die Typisierung, auf die ich später noch genauer eingehen werde (DEFAULT), erscheint hier als zentraler Faktor. Geht man von dieser wechselseitigen Beziehung Produzent/Produktion – Rezipient/Rezeption aus, muss die scheinbare Trennung der Pole Sender – Empfänger, wie sie auf den ersten Blick bei Jakobson wirken mag, neu gedeutet werden. Spitzmüller und Warnke konstatieren in ihrer Arbeit zur Diskurslinguistik (2011), dass es sich bei den Faktoren Sender/Schreiber und Empfänger/Leser um „Sammelbegriffe handelt, weil damit ganz unterschiedliche Rollen bezeichnet werden“ (2011, 174). Die „abstrakte Kategorie“ (Adamzik 2016, 137) der Rolle, die sich für eine systematische Beschreibung der an der Interaktion Beteiligten eignen, profitiert von Erving Goffmans Konzept des footings (vgl. 1979 und 1981). Goffman hatte die Notwendigkeit erkannt, speaker und hearer jeweils genauer auszudifferenzieren und teilt den beiden Seiten jeweils drei Rollen zu. Für SM lassen sich folgende Konstellationen festhalten:

Produzenten67
Vortheoretisch lässt sich zunächst beobachten, dass die Texte von anonymen Personen erstellt wurden (und auch an einen anonymen Empfängerkreis ‘gesendet’ werden). Bei genauerer Betrachtung sind jedoch zwischen den beiden Polen ‘anonym’ und ‘explizit individualisiert’ alle Grade denkbar:

ACAB (anonymer Produzent)<br /> (ScriMuRo)

ACAB (anonymer Produzent),
(ScriMuRo)

Liebesscritta mit Initialien (ScriMuRo)

Maurizio vive! – Hinweise auf Produzentengruppe (Ultras Lazio) durch Farbwahl, Typographie, u. a., (ScriMuRo)

Von Texten, die (auf textinterner Ebene) keinerlei Hinweise auf den Produzenten zulassen, außer, dass dieser (scheinbar) bereit war, eine transgressive Handlung zu vollführen (Abb. 24), über Texte, die aufgrund von Initialen (am Ende des Textes, i. S. v. ‘Signaturen’) zumindest eine Einschränkung der Namenskombination zulassen (Abb. 25) oder durch bestimmte Verfahren (Verwendung bestimmter Lexik und/oder graphischer Elemente, wie politische Symbole oder Farben) auf Produzenten verweisen, die bestimmten sozialen Gruppierungen angehören (Abb. 26), bis hin zu Texten, die eindeutig die Produzenten ausweisen (Abb. 27-28), ist alles denkbar.68

Liebesscritta mit explizitem Produzenten/Autor (Fabio Guida), (ScriMuRo)

Tazebao – Explizite Nennung der Produzenten C.S. Astra (ScriMuRo)

Goffman differenziert produzentenseitig zwischen animator, author und principal, welche im Gesamt das sog. Production format ergeben (vgl. 1979, 16-18). Animator bezeichnet dabei den „Akteur der Äußerung“ (Spitzmüller/Warnke 2011, 175), vom Author wurden die Worte ausformuliert, also „someone who has selected the sentiments that are being expressed and the words in which they are encoded“ (Goffman 1979, 17) und der Principal schließlich ist die Instanz, welche “für das Gesagte die Verantwortung übernimmt” (Burger/Luginbühl 2014, 6). Diese triadische Unterscheidung ist jedoch nur für einen bestimmten Teil der SM-Texte anwendbar. Dies möchte ich anhand zweier bewusst gewählter Beispiele (Abb. 29-30) exemplarisch zeigen:

Paolo di Nella – Scritta (ScriMuRo)

Scusa Amore!? (ScriMuRo)

Die Differenzierung nach Animator, Author und Principal könnte für den Text in Abb. 29 folgendermaßen interpretiert werden:

Animator: Aufgrund der Größe wären mehrere Produzenten (unterschiedlichen Geschlechts und Alters) denkbar, d. h., der Text wurde von mehreren Personen parallel oder abwechselnd mithilfe bestimmter technischer Hilfsmittel (Farbe, Pinsel usw.) an der Wand angebracht.
Author: Die Verwendung der doppelten Anführungsstriche und des Namens Paolo di Nella am Ende des Textes, deuten darauf hin, dass eine gewisse Person namens Paolo di Nella den Text zu einem bestimmten Zeitpunkt entäußert hat, schriftlich oder mündlich. Paolo di Nella wäre also derjenige, der den Text (bis zum Anführungszeichen) ausformuliert hat. Dies gilt jedoch nicht für den Namen (Paolo di Nella), den Zusatz la trieste sowie das bildgraphische Zeichen (keltisches Kreuz). Für diese Textteile wäre eine Korrelation mit den Personen, die der Rolle der Animators zugeschrieben werden (können), denkbar.
Principal: Für Goffman ist der principal „someone whose position is established by the words that are spoken, someone whose beliefs have been told, someone who has committed himself to what the words say” (1979, 17). Die Rollenzuordnung nach dieser Kategorie lassen sich erst bei Kenntnis des außer-sprachlichen Kontextes erahnen. Danach wäre eine ganze Gruppierung als Principals zu sehen und zwar eine neo-faschistische, hierarchisch organisierte Gruppierung, welche im Stadtviertel, in welchem der Text situiert ist69, recht präsent sind und welche in der Tradition von Paolo di Nellas rechts-extremer Gruppierung des gleichen Stadtviertels stehen.
Plausibel wäre, dass Mitglieder der Gruppierung zugleich die Rolle der Animators, Authors (für die Teile, die nicht von Paolo di Nella stammen) und Principals einnehmen, wobei hierarchisch-bedingte Dominanzverhältnisse denkbar sind.

Für den Text aus Abb. 30 wäre es denkbar, dass alle drei Kategorien zusammenfallen. Mit anderen Worten: Die Person, die den Text mithilfe eines Filzstiftes/Markers erstellt hat (= Animator), nimmt auch die Rolle des Authors ein, d. h., sie hat den Text selber ausformuliert, und übernimmt schließlich auch die Verantwortung (besonders in Bezug auf den Inhalt) und ist damit also auch Principal. Selbstverständlich ließen sich aufgrund verschiedenster Hinweise im Text Vermutungen zum Produzent anzustellen. So könnte die Typographie als Hinweis auf eine (stereotypische) Zuordnung zum weiblichen Geschlecht gedeutet werden. Der verarbeitete Inhalt dagegen mag die sozio-biographische Verfassung des Produzenten widerspiegeln, d. h., der/die Produzent(in) hat schmerzhafte Erfahrungen mit der Liebe gemacht und beschreibt sie daher als unbarmherzig.

Ganz gleich wie beide Texte interpretiert werden könnten, wird folgendes deutlich:

  • Eine allgemein gültige Zuordnung nach Goffmans triadischer Unterscheidung ist für SM nicht möglich. Verschiedene Konstellationen sind möglich. Ob sich dabei typische Muster erkennen lassen, soll in den anschließenden Kapiteln geklärt werden, wobei die (prototypischen) Genres der Texte von zentraler Bedeutung sein werden.
  • Es ist zu vermuten, dass ein gewisser Grad an Anonymität bei dem Großteil der Scritte erhalten bleibt, selbst wenn potentielle Produzenten stark eingegrenzt werden können. Selbst für den Fall, dass eine klar eingegrenzte Zahl von Rezipienten den Animator bei der Erstellung beobachten kann und Produktions- und Rezeptionszeit minimal versetzt sind, ist nicht klar, ob die Rezipienten den Produzenten ‘kennen’, und selbst wenn, steht diese klar begrenzte Zahl von Rezipienten in deutlicher Minderheit zur Zahl der potentiellen Rezipienten, die bei der Erstellung nicht anwesend sind und daher kein (oder geringes) Wissen über den Produzenten haben. Ein gewisser Grad der Anonymität ist also wesentliches Merkmal der Produzenten von SM-Texten.
  • Diese Anonymität liegt auch an der fundamentalen Bedeutung zwei weiterer Faktoren, welche – so viel sei vorweggenommen – in alle weiteren Dimensionen der Interaktionssituation ausstrahlt: der (Erstellungs-) Zeitpunkt und der (Stand-) Ort des Textes. Auf beide Faktoren werde ich weiter unten ausführlicher eingehen, wenn ich die Dimension des Kontextes (aber auch des Kontaktes) skizziere. Aufgrund der technisch-materiellen Bedingungen (d. h. das Auf- oder Anbringen der Texte und die daraus resultierende symphysische Verbindung70) ‘schreibt’ sich der Produzent in den eigenen Text ein. Der Ort verweist also immer indexikalisch auf einen Produzenten, sei er anonym oder offen individualisiert.
  • Auf die Annahme, dass sich die SM-Texte in Genres organisieren und damit Typisierungsleistungen erfordern, verweisend, lässt sich vermuten, dass sich Produzenten bei der Erstellung an potentiellen Rezipienten-Profilen orientieren.

Rezipienten
Parallel zur Rolle des Produzenten beschreibt Goffman den Begriff der Rezipienten (im Original hearer, listener oder recipient, vgl. 1979, 7). Grundlegend unterscheidet er dabei: „a ratified participant may not be listening, and someone listening may not be a ratified participant“ vgl. 1979, 8. Es werden also autorisierte („ratified“, sog. Primary recipients, vgl. Spitzmüller/Warnke 2011, 177) von nicht-autorisierten („unratified“) Rezipienten bzw. Hörern unterschieden, wobei letztere weiter differenziert werden („in one of two socially different ways“, Goffman 1979, 8), abhängig davon, wie sich die Hör-Situation gestaltet: ein nicht-autorisierter Rezipient, der bewusst beabsichtigt die Äußerungen des Produzenten wahrzunehmen, bezeichnet Goffman als Eavesdropper; jene nicht-autorisierten Rezipienten, die die Äußerungen „unintentionally and inadvertently“ wahrnehmen, nennt er Over-hearers (1979, 8). Weiterhin können bei den autorisierten Hörern zwischen jenen, die „direkt adressiert sind“ und jenen, die „lediglich mithören/-lesen“ Adamzik 2016, 139; vgl. Goffman 1979, 9), unterschieden werden. Offensichtlich sind (für Texte unterschiedlicher Art bzw. Kommunikationsformen allgemein) auch Mehrfachadressierung möglich, d. h., dass ganze Gruppierungen als intendierte Rezipienten gelten, wobei sich diese Gruppenkonstellationen äußerst heterogen gestalten können (vgl. Adamzik 2016, 139 und Burger/Luginbühl 2014, 8-14). Es wäre nun möglich verschiedene Konstellationen auf Basis vorhandener Typologien (bspw. aus der Polito- oder Medienlinguistik) zu erfassen, jedoch wird bei diesen Typologien, trotz aller Gemeinsamkeiten, ein Faktor meist ignoriert, der jedoch für SM der entscheidende Schlüssel-Faktor ist und bereits mehrmals als zentrales Moment aufgetaucht ist: der Ort. Es ist infolgedessen notwendig die Texte der SM aus der Perspektive der in Kapitel festgehaltenen minimalen, konstitutiven Merkmale – also, dass die Texte visuell der Öffentlichkeit zugänglich sind – zu betrachten, um die Rezipientenrollen ansatzweise rahmen zu können. Gerade dadurch, dass die Texte für die Öffentlichkeit zugänglich sind, scheint es zunächst als wären sie ‘jedem’ zugänglich, was theoretisch auch richtig ist. In der Praxis gilt jedoch: Jede Person, die sich am Standort der Scritta aufhält bzw. daran vorbeigeht, ist ein potentieller Rezipient – potentiell, da der Person freisteht den Text zu lesen. Ausgehend von diesen Bedingungen (erstens, dass sich der Standort visuell der Öffentlichkeit zugänglich ist, und zweitens, dass potentielle Rezipienten sich normalerweise am Standort des Textes aufhalten müssen, um als Rezipienten zu gelten)71 lassen sich folgende, grundlegende Überlegungen zusammenfassen:

  • Nicht-autorisierte Rezipienten sind laut Adamzik jene, „die sich (illegal) Zugang zu für sie nicht vorgesehenen Texten verschaffen“ (2016, 139). Aus dieser Sicht sind Rezipienten von SM-Texten in der Terminologie Goffmans generell als ratified, also autorisiert, zu bezeichnen, da sich niemand ‘unerlaubterweise’ Zugang verschaffen muss. Ausschlaggebend für eine Interpretation, wie sie später erfolgen soll, ist hier jedoch das Moment der Adressaten: Sind die Texte für ‘alle’ zugänglich, so müssen andere Strategien gewählt werden72, um die Texte so zu ‘verschlüsseln’, dass sie nur für die intendierten oder direkt adressierten, Rezipienten Sinn ergeben bzw. zu ‘entschlüsseln’ sind.
  • Wie bereits bei den Produzenten (s. o.), ist auch auf Seiten der Rezipienten ein Minimum an Anonymität zu vermuten. Angenommen der Standort ist für die Öffentlichkeit (visuell) zugänglich, befindet sich aber – was dem/den Produzenten bewusst ist – an einem gering frequentiertem geographischen Ort, wie z. B. ein Hauseingang innerhalb eines Wohnkomplexes, so wird die potentielle Rezipientengruppe stark eingeschränkt: Nur die Hausbewohner und -besucher oder maximal Personen, die sich am Hauseingang aufhalten, können die Scritta wahrnehmen und rezipieren. Anders gestaltet sich der ‘Pool’ an potentiellen Rezipienten für einen Text, der sich an einer Hauptverkehrsstraße oder in der Nähe einer Bushaltestelle befindet. Selbst für den Fall stark eingeschränkter Rezipienten-Pools ist anzunehmen, dass die Rezipienten aus Sicht der Produzenten ein Minimum an Anonymität tragen. In anderen Worten: ein Produzent der eine Scritta an einem Hauseingang anbringt, ist sich eventuell bewusst, wie viele und möglicherweise welche Personen aus- und eingehen, weil sie dort wohnen. Eventuell auch welche Besucher zu den Anwohnern kommen. Trotzdem werden sie niemals die gesamte (potentielle wie konkrete) Zahl an Rezipienten kennen.
  • Die Masse an potentiellen Rezipienten (ganz gleich ob direkt adressiert oder nicht-adressiert) wird also durch die Ortswahl eingeschränkt oder erweitert. Wie man sehen wird (siehe DEFAULT), ist der Produzent bei der Wahl eingeschränkt, da er stets von der Ortsabhängigkeit (Text kann nur am Ort wahrgenommen werden) und dem potentiellen Bewegungsradius der/des (intendierten) Rezipienten(gruppe) ausgehen muss.
  • Für Christine Domke, die sich in ihrer Publikation zu Textbeschriftung im öffentlichen Raum v. a. mit empraktischer Kommunikation beschäftigt (2014b), gestaltet sich die Konstellation (des konstitutiven Merkmals) der ‘Kommunikationspartner’ für verschiedene sichtbare Kommunikationsmittel als „1:n, wobei n zu einem Zeitpunkt orts- und medienbedingt eingeschränkt ist“ (2014b, 230, 245 und 266). Neben der bereits erwähnten Variabilität der Rezipienten-Gruppe und der Ortsgebundenheit, wird hier ein weiterer Punkt, der sich direkt auf die Rezipienten bezieht, erwähnt, nämlich die Medialität und Materialität der Texte. Diese wird nachfolgend in Kapitel genauer beschrieben. Mit Fokus auf den Empfänger lassen sich diesbezüglich zwei spezifische Momente für SM-Texte ableiten:
    Zunächst spielt die Materialität, also ‘Wie’ der Text in Bezug auf Größe, Farbe, Anordnung im Sichtfeld der anwesenden Rezipienten usw. beschaffen ist, für die Aufmerksamkeit eine entscheidende Rolle. Man könnte davon ausgehen, dass je größer und auffälliger ein SM-Text beschaffen ist, desto eher zieht er die Aufmerksamkeit auf sich und wird folglich auch eher gelesen. In der Praxis müssen dabei jedoch mehr Faktoren mit einberechnet werden: bspw. die sozio-kontextuelle Einbettung des Textes oder die sozio-biographische Verfassung des (potentiellen) Rezipienten. Bestimmte Punkte, auf die ich im Kapitel zu Genre-Wissen erneut eingehen werde (sowohl Welt- als auch Erfahrungswissen sowie die Erwartungshaltung der Rezipienten zu bestimmten Texten; siehe DEFAULT), lassen der Materialität eine größere oder geringere Bedeutung zukommen. An dieser Stelle, reicht es aus allgemein davon auszugehen, dass die Materialität allgemein von Bedeutung ist, auch weil eine Gewichtung pauschal für SM nicht möglich ist – dies ist erst im Rahmen einer Interpretation bzgl. der Genre-Prototypen möglich.
    Weiterhin bedingt das Merkmal der Transgressivität (DEFAULT) nicht nur Materialität, sondern ebenfalls die potentielle Zahl der Rezipienten. SM-Texte können jederzeit entfernt werden, da sie wie gesagt unautorisiert bzw. illegal sind. Dies bedeutet, dass die potentielle Gruppe der Rezipienten auch durch den Zeitfaktor eingeschränkt wird, da die Texte nicht nur vor Ort rezipiert werden können, sondern auch nur in der Zeit, in der sie visuell sichtbar sind, also noch nicht entfernt oder sonst wie unkenntlich gemacht wurden. Das auch hier der Ort und welche weiteren Faktoren (wie bspw. die Wahrscheinlichkeit für Modifikationen) von fundamentaler Bedeutung ist, soll ebenfalls im Rahmen dieser Arbeit gezeigt werden.

3.1.2. Kontext (Ort/Raum, Zeit)

Man braucht keinem Sachverständigen zu beweisen, daß das wichtigste und interessanteste Umfeld eines Sprachzeichens sein Kontext ist; das Einzelne erscheint mit anderen Seinesgleichen im Verbände, und der Verband erweist sich als wirksames Umfeld.(Bühler 1982, 155)

„Um wirksam zu sein, bedarf die Mitteilung eines KONTEXTS, auf den sie sich bezieht (Referenz in einer andern, etwas mehrdeutigen Nomenklatur)“, so Jakobson (Herv. im Orig; 1979, 88). Die „Orientierung auf den KONTEXT hin“ (Herv. im Orig.; 1979, 88) resultiert in der referentiellen (denotativen, kognitiven) Funktion und ist für Jakobson eine der „wesentliche[n] Leistungen vieler sprachlicher Botschaften“ (1979, 88-89). Im Aufsatz zu sozio-emotionalen Koordinationsmitteln aus Sicht der Konstruktionsgrammatik von Andreas Langlotz (2015), werden diesbezüglich zwei Probleme erkannt, welche auch an dieser Stelle eine Neuinterpretion bzw. Erweiterung des Modelles von Jakobson erfordern:

Erstens sind Jakobsons und Bühlers Modelle primär satzbezogen und abstrahieren von den kommunikativ-interaktionalen sowie den sozial-institutionellen Zusammenhängen, in welche Aussagen eingebettet sind. Zweitens beschreiben die Funktionsmodelle bloß die möglichen Funktionen von sprachlichen Zeichen, sie erklären nicht theoretisch, wieso diese Dimensionen kommunikativ notwendig sind. (Langlotz 2015, 260)

Dass die kommunikativ-interaktionalen Zusammenhänge für die Funktionalität(en) von SM-Texten eine Rolle spielen muss, wird bei der Diskussion um Typisierungsabläufe in Bezug auf Genres (siehe DEFAULT) erwähnt werden. Folglich muss das Modell von Jakobson an die vorliegende Fragestellung angepasst werden. Im Sinne von Bateman („Moving too quickly from simple to complex descriptions […] may come back to haunt us later[…].; s. o.; 2017, 78), empfiehlt es sich jedoch schrittweise die Dimension ‘Kontext’ zu beschreiben (ohne dabei in erschöpfende Diskussionen zur Begrifflichkeit abzuschweifen).

Ulrich Schmitz führt in der bereits erwähnten Arbeit zur Multimodalen Texttypologie (2016) unter den „für eine multimodale Texttypologie relevanten zehn Termini“ (2016, 331) u. a. die Dimensionen ‘Kontext’ und ‘Situation’ auf, wobei er Kontext als die „semiotische Umgebung des Textes“ deutet und exemplarisch das „gesamte Handbuch“, in welchem sein Beitrag abgedruckt wurde, nennt (2016, 332). Situation dagegen stellt für ihn die „lebensweltliche Umgebung, in deren Rahmen der jeweilige Text eine Rolle spielt“ (2016, 331), dar. Übertragen auf die Texte der SM wäre es plausibel Kontext in dieser Lesart als den konkreten geographischen Ort zu deuten, Situation dagegen als den Ort mit allen sozio-kulturellen Merkmalen, spezifischen Bedeutungen und Konnotationen. Dabei wird bereits deutlich, dass sich die beiden Größen nicht voneinander trennen lassen, zumindest nicht, wenn man auf Basis dieser Größen Funktionen interpretieren möchte. Adamzik fasst diese Tatsache, wie auch die beiden Begriffe, treffend zusammen, wenn sie in den einleitenden Sätzen zum Situativen Kontext eine Beziehung zwischen „objektiven Daten“ – zu welchen neben der Charakterisierung der Interaktionsteilnehmer eben auch zeitliche und räumliche Konstellationen gehören – und „subjektiver Situationseinschätzung“, welche jedoch „nicht systematisch aus den objektiven Daten“ herzuleiten ist, sondern einer deutenden Interpretation bedarf (2016, 114). Aus dieser Perspektive scheint es logisch objektive Daten und subjektive Deutungen von Situationen im Verbund zu betrachten, da eine solche (hier poly-dimensionale) Interpretation wie gesagt als übergeordnete Fragestellung im Zentrum dieser Arbeit steht. Auf die zentrale Bedeutung der objektiven Daten – bisher der ‘Kontext’ im weitesten Sinne – für Interpretationsprozesse verweisen auch Holly (2011) und Sandig (2000). Für Holly ist Zeichengebrauch aufgrund der „verschiedenen möglichen Zeichenmodalitäten immer von der Situation abhängig“, wobei die Gewichtung der einzelnen Merkmale alles andere als trivial ist (2011, 150). Nach Sandig erlaubt die spezifische Verwendungssituation von Texten eine Interpretation der Textfunktionen, wenn diese bspw. nicht am Text selbst erkennbar sind (vgl. 2000, 98). Auch diese beiden Sichtweisen entsprechen nicht nur den bis hier angestellten Überlegungen, sondern liefern, wie zu sehen sein wird, eine der Grundlagen für eine linguistische Analyse der Scritte Murali.

So ist zunächst festzuhalten, dass zwischen objektiven, gegebenen Daten und davon ableitbaren, subjektiven Deutungen zu unterscheiden ist. Es stellt sich nun die Frage, welche für Scritte Murali spezifischen Datentypen eine analytische Basiskategorie Kontext ergeben, um in einem späteren Schritt (DEFAULT) diesbezüglich die kommunikativen Funktionen zu interpretieren. Diese Basiskategorie wird durch die beiden Faktoren Ort und Zeit konstituiert, wobei besonders der Ort bzw. die Ortsgebundenheit der SM-Texte einer der wesentlichsten Faktoren darstellt und alle weiteren Faktoren (wechselseitig) grundlegend bedingt, wodurch der Ort schließlich zum Raum wird, wie bereits an anderer Stelle angedeutet wurde.73 Für beide Faktoren Ort und Zeit lassen sich verschiedene (objektive) Datentypen unterscheiden und es bietet sich an einige grundlegende Überlegungen zusammen zu fassen, welche für die Interpretation richtungsweisend sein werden.

Ort
Im Rahmen dieser Arbeit, beschränken sich streng genommen die rein objektiven Daten des Ortes auf die ‘Adresse’ bzw. – in noch abstrakterer Form – auf die Positionierung innerhalb der natürlichen, geographischen Daten, welche sich in Form von Längen- und Breitenkoordinaten darstellt. Dass Daten in dieser Form für die kommunikative Wirklichkeit keine Rolle spielen, versteht sich von selbst. Die Daten beschreiben Punkte innerhalb eines „konkrete[n], materielle[n] Ausschnitt[s] der Erdoberfläche“ (s. o.; Blotevogel 1995, 739), welcher wiederum durch konkrete, poly-dimensionale, geographische, sozio-kulturelle und historische Fakten und Hintergründe geprägt ist. Diese Fakten und Hintergründe sind hochkomplex, kaum als Ganzes fassbar und in bestimmten Individuen und Gruppierungen in variabler Ausprägung in Form von Weltwissen (wie auch prozeduralem und Sprachwissen) verankert. Konkretisiert bedeutet das z. B., dass eine ortsansässige Person aus dem oben erwähnten Stadtviertel Trieste in Rom (Italien) verschiedenste Informationen zu ihrem lebensweltlichen – und damit auch und besonders zum geographischen – Umfeld abrufen kann, wie z. B. welche Läden sich wo befinden, der Wohn- und Lebensort/-raum von Bekannten und Freunden, eventuell wie sich die demographische Zusammensetzung des Viertels gestaltet, welche kulturellen Besonderheiten das Viertel bietet, und vieles mehr. Aber auch auf makro-struktureller Ebene kann die Person Informationen verwenden, um sich in ihrer Lebenswelt zu bewegen und handeln: das Stadtviertel ist in einer bestimmten Gegend von Rom gelegen (was wiederum bestimmte Informationen über den sozialen Status des Viertels nach sich ziehen kann), Rom liegt in der Region Lazio und schließlich in Italien und Europa. Auch geschichtliche Hintergründe zum Ort (Trieste, Rom, Italien, Europa) spielen für bestimmte Lebensbereiche, wie z. B. für die Politik, eine Rolle und können bei den Anwohnern in verschiedenem Maße vorhanden oder sogar von großer Bedeutung sein. Selbstverständlich wäre eine erschöpfende Erfassung dieser Hintergründe im Rahmen einer (linguistischen oder sonstigen wissenschaftlichen) Analyse so gut wie unmöglich, erst recht, weil die objektiven Daten nicht in gleichem Maß allen Personen bekannt sein müssen. Trotzdem ist natürlich anzunehmen, dass zumindest für bestimmte Gruppen, die aus wenigen Individuen bis hin zu mehreren Millionen Personen bestehen können, annähernd gleiches Wissen zu den Hintergründen bzgl. bestimmter Orte vorliegt, und dass bestimmte Aspekte der Hintergründe besonders wichtig sind (siehe dazu auch die Ausführungen zu den cognitive und cultural models in Kapitel ).

Ein weiterer Aspekt, der ebenfalls durch strukturelle und sozio-kulturelle Faktoren geprägt wird, ist die Tatsache, dass nicht alle Punkte (i. S. v. geographischen Daten) gleich sind. So ist zu vermuten, dass etwa ein Standort an einer Straßenkreuzung, einem Platz oder einer U-Bahn Station weitaus häufiger frequentiert wird und dies von einer heterogeneren Menschenmasse, als z. B. ein Hintereingang eines Wohnhauses in einem reinen Wohngebiet. Wie im vorangegangenen Kapitel beschrieben wurde, wirkt sich das auf die Menge potentieller Rezipienten, was von den Produzenten hinsichtlich der Kommunikationsansicht miteinberechnet werden muss. Ebenso kann die die Höhe der Texte als  mögliche Größe innerhalb der objektiven Daten begriffen werden. Für den urbanen Kontext ist damit nicht die Höhe über dem Meeresspiegel gemeint, sondern die Anordnung, d. h. Platzierung, in Bezug auf den Blickwinkel des (gehenden/stehenden oder sitzenden) Rezipienten, wodurch die visuelle Zugänglichkeit zu- oder abnehmen kann. Dieser Aspekt betrifft jedoch in noch größerem Maße die Materialität der Texte, weshalb ich darauf im nächsten Kapitel zurückkommen möchte.

Aus diesen Beobachtungen wird v. a. zweierlei ersichtlich: Erstens wird evident, dass die ‘nackten’, objektiven Orts-Daten innerhalb der Kommunikationssituation (im Rahmen der SM) erst dann bedeutungsvoll werden, wenn sie hinsichtlich ihren komplexen mikro- und makro-strukturellen Hintergründen gedeutet werden, wie es Adamzik allgemein für den situativen Kontext beschrieben hat (s. o.). Zweitens wird bewusst in welchem Ausmaß der Faktor Kontext bzw. Ort die kommunikative Wirklichkeit der Scritte Murali mitbestimmt, da er alle anderen Dimensionen in verschiedener Ausprägung bedingt.

Ganz wesentlich ist an dieser Stelle eine klare Abgrenzung der Begriffe Ort und Raum, wie Domke allgemein für den Konnex ‘Sprache – Ort/Raum’ in sprachwissenschaftlichen Arbeiten unterstreicht (vgl. 2014b, 71). Notwendig ist dies v. a. deswegen, weil in Rahmen des Spatial Turn in den Sprach-, Kultur- und Sozialwissenschaften verschiedenste Perspektiven auf die Relationen zwischen Ort, Raum und Sprache eingenommen werden, was auch zu diversen Vorgehensweisen bei der Untersuchung von (sprachlichen) Phänomenen geführt hat. Domke unterscheidet in diesem Zusammenhang zwei zentrale Merkmale, für die oft parallel betrachteten und zusammengehörigen Bereiche „Raum durch Sprache“ und „Sprache im Raum“ (2014b, 59): beim ersten Bereich stehen Sprachformen im Fokus, die auf Räume referieren, wobei diese Konzeption entweder als „sprach-(system)-immanent, ohne Bearbeitung von Gesprächs- und Kommunikationssituation oder materialisierter Sprache als raumkonstituierend“74 (2014b, 59-60) oder als in Verbindung mit verschiedenen Kontextfaktoren (dann i. S. v. „Räume durch Sprache“) verstanden werden kann, wobei Domke resümiert, dass „[ein] konkreter Einbezug realer Kommunikationsbezüge“ bei Arbeiten aus diesem Bereich75 (noch) nicht erfolgt und sich der „eingangs postulierte Einbezug des Kontextes“ auf textuelle und sprachliche Kontexte bezieht und anhand von „experimentelle[n] Settings“ durchgeführt wird (2014b, 60). Ein solcher Ansatz ist für die vorliegende, pragmatisch orientierte Arbeit, welche sich zum Ziel gesetzt hat, die Sprachfunktion(en) in und für kommunikative Räume in konkreten Kontexten zu untersuchen, weniger sinnvoll. Zum zweiten Bereich („Sprache im Raum“, s. o.) zählt Domke v. a. Arbeiten, „die im Gesamt Fragen nach dem konkret geographischen Raum der Varietäten sowie zu spezifischen sprachlichen Phänomenen und ihrem ‘Sprachraum’ untersuchen“ (2014b, 60-61).

Arbeiten, die sich speziell mit Schrifttexten im öffentlichen Raum und der Genese von Räumen durch Sprachvarietäten beschäftigt, und beide oben genannte Perspektiven gleichermaßen einnehmen können, werden oft als Linguistic Landscape bezeichnet. Den Beginn der Linguistic Landscape-Forschung als Teil der Soziolinguistik markierte der Aufsatz „Linguistic Landscape and Ethnolinguistic Vitality. An Empirical Study” von Landry und Bourhis (1997). Dieser Wissenschaftsbereich beschäftigt sich grundlegend mit verschriftlichter Mehrsprachigkeit in Form von signs im öffentlichen Raum und dabei insbesondere mit dem (politischen) Status und Zweck von Minderheitensprachen in städtischen Räumen. Empirische Grundlage ist zumeist die Dokumentation des Sprachmaterials anhand von Fotografien, welches anschließend auf die Fragestellungen hin interpretiert wird, wobei sowohl Zielsetzung als auch Vorgehensweise nicht immer einheitlich von statten geht. In den letzten Jahren rückte in verschiedenen Studien verstärkt die semiotischen Ressourcen, wie Typographie oder Farbe, in den Fokus, um ihre Teilfunktionen für die (Minderheiten-) Sprachen zu untersuchen – diese spezielle Form der Linguistic Landscape-Forschung, die Sprache normalerweise weiterhin als zentrales Moment versteht, wird auch als Semiotic Landscape bezeichnet, wobei diese Form als Fortführung der Linguistic Landscape-Ansätze gesehen werden kann, sich aber gleichzeitig von dieser abzugrenzen versucht, wie man bei der Einführung ihres Sammelbandes Semiotic Landscape bei Jaworski und Thurlow herauslesen kann:

[W]e have choosen not to call this book ‘Linguistic Landscapes’, as some of our predecessors have […], because in this collection we are keen to emphasize the way written discourse interacts with other discursive modalities: visual images, nonverbal communication, architecture and the built environment. For this reason, ‘linguistic’ is only one, albeit extremely important, element for the construction and interpretation of place.(Jaworski/Thurlow 2010, 2)

Und weiter:

However, our goal in putting together Semiotic Landscapes, alongside a number of other, recent studies of linguistic landscapes, is to move on from the predominantly surveybased, quantitative approaches […] and also to complicate some of the taken-for-granted dichotomies in favour of more nuanced, genre- and context-specific analyses of language in ‘landscape texts’ […].(Herv. im Orig. Jaworski/Thurlow 2010, 14)

Ausschlaggebend für die vorliegende Arbeit ist, dass die spezifische Ortsgebundenheit bzw. Raumgebundenheit der Texte in den Studien des Linguistic und Semiotic Landscape kaum oder nicht ausreichend berücksichtigt wird. Eine Arbeit, auf deren Ansätze ich teilweise schon eingegangen bin und auf die sich auch Jaworksi/ Thurlow (2010) – wie auch andere neuere Arbeiten der Linguistic und Semiotic Landscape-Forschung – beziehen, ist die von Scollon/ Scollon (2003), welche sich anhand des Konzepts der Geosemiotik76 mit der Situierung von Sprache in der Welt auseinandersetzt. Wenngleich die für die vorliegende Arbeit zentralen Merkmale der Materialität und „Platzierung von Kommunikaten“ (Domke 2014b, 66) in Scollon/ Scollons Arbeit endlich hervorgehoben wird und sie sich dadurch von den vielen Arbeiten der Linguistic und Semiotic Landscapes absetzt, so bemerkt Domke doch richtig, dass „die entscheidende Frage nach der Gebundenheit von Kommunikation an Orte verschenkt“ wird (2014b, 66), da der Spezifität von Ortsgebundenheit für die jeweilige Kommunikationsform nicht genügend Rechnung getragen wird (vgl. Domke 2014b, 65-66).

Die methodische Engführung der meisten Linguistic und Semiotic Landscape-Studien77 fasst Ortsgebundenheit von Text – oder allgemeiner ausgedrückt Gebundenheit von „Kommunikation an bestimmte Räume“ (Domke 2014b, 71) – bisher nicht als konstitutives und v. a. distinktes Merkmal (vgl. Domke 2014b, 71), was jedoch für die Kommunikationsform Scritte Murali zwingend erforderlich ist. So wird der Raum zur eigenständigen Analysegröße innerhalb des Kommunikationsmittels, basierend auf spezifischen Orten und (sozial-konstruierten) Kontexten, in die sie (die Orte) eingebettet sind (vgl. Domke 2014b, 72). Für die Frage, „was das für ein Typus von Kommunikation ist, der mit der Anwesenheit seiner Beteiligten oder Rezipienten an ganz bestimmten Orten des Alltags einhergeht und welche Aufgaben diese Textwelt im öffentlichen Raum erfüllt, den sie so nachhaltig ‘betexte’“ (2014b, 333), sind also die Faktoren der Kategorie Kontext von zentraler Bedeutung, was zu einer Verschiebung des postalischen Schemas nach Jakobson (siehe DEFAULT) hin zu einem triadischen Schema Produzent-Rezipient-Kontext/Ort bewirkt.

Ein Modell, das in erster Linie im Rahmen der Varietätenlinguistik entwickelt wurde, sich jedoch problemlos auf den Gegenstand der SM übertragen lässt, und dem teils unübersichtlichen Komplex ‘Sprache – Raum’ einen theoretisch fundierten und ordnenden Rahmen gibt, findet man bei Thomas Krefeld (2019). Besonders nützlich ist dabei neben der ausformulierten Terminologie zu den kommunikativ-räumlichen Instanzen, dass in dem Modell die Bedeutung der Perzeption innerhalb der Sprechsituation und für den kommunikativen Raum hervorgehoben wird, worauf ich zu einem späteren Zeitpunkt noch zurückkommen werde.

Krefeld unterscheidet für die Instanz des Sprechers eine dreifache Staffelung der kommunikativen Umgebung: Die Sprecher schaffen und erhalten den sog. kommunikativen Nahbereich, anhand der durch Sozialisation erworbenen Sprachkenntnisse. Demgegenüber steht das institutionalisierte Territorium, also von Institutionen geschaffene Gebiete, die bestimmten Ordnungen (Gesetze, Konventionen, Normen usw.) untergeordnet sind. Für diesen Bereich ist normalerweise eine bestimmte Sprachform gefordert, da sie die Kommunikation auf territorialer Ebene und mit den Institutionen garantiert – bspw. Italienisch in Italien. Entscheidend ist nun, dass eine weitere Instanz zwischen den Nahbereich und das Territorium eingeschoben wird und zwar das Areal (oder areale Zone), da die Territorialsprache in bestimmten Fällen78 „nicht unbedingt der dominanten Sprache der lokalen oder regionalen Umgebung entspricht“ (Krefeld 2019, Abschnitt 24). Ursprünglich bezogen auf Varietäten, Dialekte und Minderheitensprachen, lässt sich diese Gliederung prinzipiell auf den Bereich Scritte Murali und Ort/Raum übertragen, wenn man die Spezifität der Scritte berücksichtigt: Die objektiven Ortsdaten (s. o.) ergeben einerseits ein wesentliches, distinktes Charakteristikum der Kommunikationsform Scritte Murali – d. h., sie können nur an einem spezifischen, geographisch fixiertem Ort perzepiert werden79 – andererseits müssen diese objektiven Daten innerhalb der Modellierung der Kommunikationssituation zu letztlich subjektiv (selbst wenn dies kollektiv geschieht) interpretierten Parametern umgedeutet werden, was unter dem Begriff Raum zusammengefasst wird.

Diese Differenzierung zwischen (objektivem) Ort und (kommunikativem) Raum berücksichtigend, lassen sich die oben genannten Instanzen (Nahbereich, Areal, Territorium) auf den Gegenstandsbereich der SM übertragen. Die Spezifizität der Scritte, dass sie nur am Erstellungsort perzepiert werden können, was sich aus der besonderen Materialität der Texte ergibt (siehe DEFAULT), bewirkt eine ganz grundlegende und wechselseitige Beziehung zwischen den objektiven Ortsparametern und dem subjektiven Kommunikationsraum der Teilnehmer. Der Nahbereich ist somit nicht nur als Bereich der persönlichen, alltäglichen Kommunikation in mehr oder weniger festen bzw. regelmäßigen Netzwerken zu verstehen, sondern muss aus ‘objektiver’ Sicht als der physische Bereich begriffen werden, der sich in der Nähe des Rezipienten befindet.80 Aus physischer, also ORTSzentrierter, Sicht umfasst der Nahbereich somit Orte, an denen sich der Rezipient regelmäßig, verhältnismäßig dauerhaft und über einen längeren Zeitpunkt aufhält. Exemplarisch seien der Wohnort, die regelmäßig frequentierten Bus- oder U-Bahn-Haltestellen, Bars usw. genannt. Geographisch weiter gefasst, als der Nahbereich, sind die Areale (oder arealen Zonen), welche sich zwar weiterhin in der physischen Nähe zum Rezipienten befinden können, diese Orte aber nicht unbedingt oder regelmäßig von diesen Rezipienten frequentiert werden. Diese Areale sind letztlich das, was bisher in den Beispielen als Stadtviertel oder Gegenden bezeichnet wurde, wie das Quartiere del Tufello oder Trieste (s. o.). Das Besondere der arealen Zonen in Bezug auf die SM ist, dass sie mehr oder weniger deutlich durch die konkret vorliegenden Ortsdaten der Scritte umrissen werden können, obwohl Areale keine institutionalisierten geographische Gebiete sind, wie das bei den Territorien der Fall ist. Umgangssprachlich wird selbstverständlich auf solche Areale referiert, wenn von ‘meinem Viertel’, ‘in meiner Strasse’, ‘bei dir in der Gegend’ usw. die Rede ist. Diese Zonen können sich mit den von Obrigkeiten festgelegten, objektiven Grenzen decken, tun dies aber nur für bestimmte Bereiche und auch nur bis zu einem gewissen Grad. Im Vergleich zum Nahbereich, der stark auf den individuellen Rezipienten ausgerichtet ist, gelten die Areale für größere Personengruppen, da das Wissen über Areale (bspw. Stadtvierteln) auch interindividuell geteilt und weitergegeben wird und weniger auf den persönlich Bewegungskreis fixiert ist.

Der Unterschied zwischen Nahbereich und Areal wird deutlich, wenn man die oben gezeigten Beispiele der politischen Paolo di Nella-Scritta (Abb. 29) mit der Liebes-Scritta Deborah ti amo (Abb. 27) vergleicht. Die Liebesscritta sollte sich im Nahbereich der intendierten Rezipientin Deborah befinden, da die Kommunikation sonst nicht hergestellt werden kann.81 Dass die Scritta gleichzeitig im Nahbereich mehrerer potentieller Rezipienten liegt, ist dabei unerheblich – entscheidend ist der Nahbereich der intendierten Rezipientin. Der Produzent (hier Fabio Guida) kann auch einen Standort für die Scritta wählen, der sich in einem bestimmten Areal, zu welchem die intendierte Rezipientin Deborah in irgendeiner Weise in Verbindung steht (bspw. das Stadtviertel in dem Deborah wohnt), die Wahrscheinlichkeit, dass Deborah die Botschaft ‘erhält’ sinkt dann jedoch. Im Vergleich zu einer solchen Schrift, stehen jene wie in der Paolo di Nella-Scritta, welche an ein viel breiteres Publikum gerichtet ist und daher von den Nahbereichen einzelner Rezipienten abgekoppelt werden kann. Der Standort wird hier also nicht nach dem Nahbereich der Rezipienten gewählt, sondern basiert auf anderen Faktoren.82 Entscheidend für eine solche Scritta ist das Areal, in welcher sie sich befindet und welches durch die Standorte von weiteren Scritte derselben Kategorie (bzw. desselben Genres; siehe dazu Kapitel ) gebildet wird. Anders ausgedrückt bedeutet dies, dass diese Scritta einerseits eine Teilfunktion bei der Bildung eines objektiven, Ortsdaten-basierten Areals übernimmt und andererseits innerhalb dieses, dann subjektiv interpretierten, arealen Kommunikationsraumes interpretiert wird. Der Standort der Scritta ist also einer von mehreren Punkten innerhalb eines Areals, welches von den Teilnehmern aufgrund der Inhalte und weiterer Merkmale (siehe dazu DEFAULT und DEFAULT) als rechts-extremes Areal empfunden wird, was sich wiederum auf die Rezeption bzw. Interpretation allgemein auswirkt.83

Territorien, i. S. v. institutionalisierten Gebieten mit objektiven Grenzen, sind für den Untersuchungsgegenstand der Scritte Murali insofern interessant, als die Scritte meta-referenziell auf sie verweisen können, wenn bspw. auf einen Staat, die Europäische Union, Regionen oder Parks referiert wird. Außerdem interessant ist die Verbindung des Parameters Sprache (siehe DEFAULT) mit den territorialen Daten, da Scritte, die nicht in italienischer Sprache verfasst sind, sich aber im Territorium Italien befinden, diesbezüglich interpretiert werden müssen.84

Kommunikationsteilnehmer orientieren sich nicht ausschließlich an den übermittelten Informationen (siehe dazu auch Kapitel ), sondern filtern die Aussagen nach Auffälligkeiten (vgl. Krefeld 2019, Abschnitt 27). So fasst Krefeld zusammen: „Sprecher bemerken alle möglichen Besonderheiten ihrer Gesprächspartner, seien sie phonetischer, lexikalischer morpho-syntakischer [sic!] oder pragmatischer Art. Diese Auffälligkeiten rufen bestimmte Assoziationen hervor oder sind – wenn schon bekannt – fest mit solchen metasprachlichen Assoziationen verknüpft“ (2019, Abschnitt 27). Zu diesen Auffälligkeiten muss die spezifische, materialitätsbedingte Ortsgebundenheit der SM gezählt werden, da sie auf ganz besondere Weise Assoziationen hervorrufen können (siehe dazu vertiefend Kapitel ). Scritte Murali müssen demnach grundlegend nach diesen Ortsdaten bzw. den Nahbereichen und Arealen analysiert und interpretiert werden.

Ortsgebundenheit wird im Rahmen der analytischen Basiskategorien demnach verstanden als distinktes und wesentliches Merkmal der Scritte Murali. Statische, objektive Ortsdaten sind somit grundlegender Bestandteil der empirischen Analysedaten und nehmen innerhalb der Gesamtstruktur des Kommunikationsvorgangs eine zentrale Stellung ein, da sie sowohl Produktion (also Materialität, s. u.) als auch Rezeption – und folglich auch Produzenten und Rezipienten (s. o.) – zwingend an sich binden. Die kommunikative Wirklichkeit schafft dann sozio-kulturell konstruierte Räume anhand dieser Ortsdaten, wobei eben diese „Raumfragen für Sprachtexte mit nicht sprachlichen und textexternen Faktoren“ verbunden werden müssen (Domke 2014b, 70). Ortsgebundenheit erscheint dann nicht mehr als Sonderfall, sondern bestimmt das Wesen der gesamten Kommunikationsform, weshalb sie in der Form-Funktions-Analyse dementsprechend berücksichtigt wird (vgl. Domke 2014b, 72). Der Ort prägt als distinktes Merkmal die Kommunikationssituation nachhaltig, schafft Räume und bedingt sowohl Inhalt als auch Struktur der Scritte, wie Domke hinsichtlich der „Generierung von Rezeptions- und Interaktionsräumen“ (2014b, 169) u. a. zusammenfasst:

Wo beispielsweise ein Schild (ein Richtungs- oder Nichtraucherhinweis) steht, ist nicht frei wählbar; die kommunikative Praktik Schild ist verbunden mit Textsorten, deren Inhalt nicht beliebig platzierbar ist, sondern sich an spezifischen, geographischen Adressen an „Fortbewegungseinheiten“ (vgl. Goffman 1982) richtet und diese über den Standort, Notausgänge, erwartbare Einrichtungen (Toiletten, Schließfächer, historische Gebäude) zu informieren unternimmt.(Domke 2014b, 169)

Offensichtlich muss diese Bedingung perspektivisch für Scritte Murali begriffen werden, d.h. der Inhalt der Genre-Scritte – etwa politische Scritte – kann zwar theoretisch beliebig platziert werden, der Standort bedingt jedoch die Funktion der Einzelscritta und letztlich des gesamten Genres. Anders ausgedrückt bedeutet dies, dass eine ‘falsch’ platzierte Scritta, ihre Wirkkraft verliert, weshalb Scritte in der Praxis nicht beliebig platziert werden, sondern der Standort („spezifische, geographische Adressen“, Domke 2014b, 169), abhängig von Inhalt und Funktion, von den Produzenten gezielt ausgewählt wird, um die gewünschte Wirkung zu erreichen, etwa um Rezipienten über bestimmte Räume, Territorien usw. zu informieren (siehe dazu die Ergebnisse in Kapitel ).

Die Wahl des Platzierung an einem Ort (z. B. über Kopf, in Augenhöhe, nah/ fern, erhöht) und die damit einhergehenden Möglichkeiten des Rezipienten, das Mitgeteilte sitzend, stehend, gehend wahrnehmen zu können, beeinflusst den Komplexitätsgrad mindestens der Ausdrucksseite der Kommunikation.(Domke 2014b, 170)

Für Scritte Murali bedeutet dies, dass Größe, Form, Inhalt, Komplexität der semiotischen Ressourcen und Standort der Texte abhängig von der potentiellen bzw. erwartbaren Rezipientenzahl gezielt gewählt wird. So unterscheiden sich Scritte, die an eine große Rezipientengruppe gerichtet ist und daher z. B. an vielfrequentierten Straßenkreuzungen erstellt werden, in Inhalt und Form von Texten, die in erster Linie an einen kleineren Rezipientenkreis oder primär sogar nur an eine Person gerichtet sind. Man vergleiche etwa die Totenscritte der politischen und Ultraszene mit den kleinformatigen Scritte an den DIVERSES-Hotspots (siehe DEFAULT, DEFAULT und DEFAULT). Ob sich die Rezipienten fortbewegen, stehen oder sitzen spielt insofern eine Rolle, als z. B. eine in einem Fahrzeug sitzende und sich fortbewegende Person Scritte ganz anders wahrnehmen kann, als dies etwa bei auf einer Parkbank sitzende Jugendliche der Fall ist.

Neben Rezeptionsräumen […] und Interaktionsräumen lassen sich zudem durch Kommunikation angezeigte Handlungs- und Benutzungsräume (wie „Raucherfelder“ am Bahnsteig) ausmachen, die durch Kommunikation angezeigt werden […].(Herv. im Orig.; Domke 2014b, 172)

Die durch Scritte-Genres – man beachte bspw. die Gebiete der politischen und Ultratexte sowie die Hotspots in der DIVERSES-Gruppe (DEFAULT, DEFAULT und DEFAULT) – unterscheiden sich offensichtlich von den bei Domke etwa für Bahnhöfe genannten Handlungsräume, da es hier keine ‘offiziellen’ oder regulierenden Handlungsräume sind, sondern z. B. von ortsdominanten Gruppen geschaffene soziokulturelle Räume. Exemplarisch seien die politischen Territorien (wie z. B. Tufello, siehe DEFAULT) genannt, in welchen über spezifische politische Texte kommuniziert wird, das bestimmte Handlungen nicht toleriert werden, also z. B. rechtspolitische Demonstrationen, Veranstaltungen usw. oder das Erstellen von rechtspolitischen Scritte in linkspolitischen Territorien und umgekehrt.

Zeit
Der zeitliche Faktor ist für die Kommunikationsform SM aus zwei Perspektiven belangvoll und zwar hinsichtlich der Zeitspanne (oder –dauer) und des Zeitpunktes. Von beiden Betrachtungswinkeln aus spannen sich Beziehungen zu weiteren Kategorien und Faktoren auf.
Der Zeitpunkt der Erstellung ist in Bezug auf die sozio-biographischen Hintergründe der Kommunikationsteilnehmer mit ihren konkreten lebensweltlichen Umständen von Bedeutung. Deutlich wird dies an einem einfachen Beispiel: Nimmt man an, dass der Produzent den Text der Liebesbotschaft in Abb. 22 erstellt hat, kurz nachdem die beiden in ein engeres Verhältnis getreten sind, so ist der Gehalt der Botschaft ein anderer, als wenn der Produzent die Botschaft erstellt, kurz nachdem Giulia die Beziehung beendet hat oder sich bereits in einer anderen Beziehung befindet. Selbst wenn verschiedenste Konstellationen möglich wären und es ohne Kenntnis der Kommunikationspartner (in diesem Fall) praktisch unmöglich ist die Situation zu rekonstruieren, so wird deutlich, dass der Zeitpunkt der Erstellung für die kommunikative Wirklichkeit von nicht unerheblicher Bedeutung ist bzw. sein kann. Ebenso wie die objektiven Ortsdaten Bedeutung erst durch das in Beziehung setzen mit spezifischen Hintergründen generieren, werden aus zeitlichen ‘Rohdaten’ erst durch die Integration derselben in einen sozio-kulturellen und historischen Zeitrahmen bedeutungsvolle Parameter. Eine Verbindung des Zeitpunktes mit dem Standort zeigt sich insofern als der ‘richtige’ Zeitpunkt nur im Konnex mit dem ‘richtigen’ Standort zum gewünschten (Kommunikations-) Ziel führen kann.

Die Zeitspanne oder –dauer funktioniert auf mehreren Ebenen innerhalb der SM-Texte und zwar im Bereich der Erstellung, der Materialität und hinsichtlich der Rezipienten. Da es sich um eine transgressive Kommunikationsform handelt, wäre anzunehmen, dass die Produzenten nur begrenzt Zeit haben, um den Text zu erstellen. Kreuzer bezeichnet das als das „Gesetz der Kürze“, d. h., der Produzent muss seine Botschaft „so lapidar wie möglich ausdrücken, so stark, wie es geht, komprimieren“ (1986, 116), um bei der illegalen Aktion nicht erwischt zu werden. Dies würde auch das hohe Auftreten von Symbolen (als informations-verdichtende Zeichen) und Akronymen erklären. Ich bezweifle jedoch, dass dies der hauptsächliche Grund für die oft kurzen Texte ist, und gehe vielmehr davon aus, dass sich die Produzenten an der Rezeption der Empfänger orientieren, um möglichst viel Information in kurzer (Rezeptions-) Zeit zu übertragen (vgl. hierzu auch die Ausführungen zur Frame-Semantik in Kapitel ). Weiter kann die Dauer auf das Vorhanden- oder Sichtbar-Sein des Textes – also auf die Materialität – bezogen werden. SM-Texte können nicht nur entfernt werden – man bedenke, dass sie unauthorisiert sind –, sondern ihre Sichtbarkeit ist auch durch Witterungsumstände und das Modifizieren durch andere ‘gefährdet’. Abhängig vom Zweck kann dies von größerer oder kleinerer Bedeutung für die Kommunikationssituation spielen. Zuletzt greifen zwei zeitlich bedingte Faktoren mit Blick auf den Rezipienten in die kommunikative Funktion. Einerseits ist die anzunehmende, potentielle Aufenthaltsdauer des Rezipienten in Standort-Nähe von Belang, andererseits kann die Rezeptionszeit aufgrund verschiedener Faktoren variieren. Bestimmte Orte werden nicht nur in größerem Maße frequentiert (s. o.), sondern die Verweildauer der (intendierten) Rezipienten mag an bestimmten, geographisch definierten Punkten (man denke an Bushaltestellen, Parkbänke, Plätze usw.) größer ausfallen, als an anderen Punkten, wie an Durchgangspassagen oder Schnellstraßen. Produzenten müssen dies bei der Erstellung der Texte miteinberechnen, was sich bspw. in der modalen und semiotischen Komplexität der Texte oder der Quantität von Texten an bestimmten Orten widerspiegelt. In direktem Zusammenhang mit der ortsspezifischen Verweildauer der Rezipienten steht die Rezeptionszeit. So steigt die erforderliche Rezeptionszeit mit zunehmender Komplexität (und v. a. Länge) der Texte, aber auch die Materialität, semiotische Aspekte oder die Quantität von Texten auf begrenzten Flächen hat zeitliche Auswirkungen. Bei ‘ungeschickt’ gewählten Farben, schlecht lesbaren oder zu kleinen Lettern oder der Verwendung von wenig bekannten Zeichensystemen muss der Rezipient mehr Zeit investieren, um den Text zu lesen. Befinden sich mehrere Texte innerhalb der Sehfläche, so ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Rezipient nicht sofort auf den Text aufmerksam wird, höher als bei isoliert stehenden oder mithilfe anderer semiotischer Ressourcen salienter auftretenden Texten. Diese etwas abstrakten Beschreibungen werden schnell deutlich, wenn man bspw. die Scritte der Abb. 22 und 29 vergleicht.

Zusammenfassend ist die analytische Basiskategorie Kontext hier als zweigliedriges Konstrukt zu verstehen, das durch die Faktoren Ort und Zeit gebildet wird, wobei angenommen wird, dass die ortsspezifischen Daten in Bezug auf die Gesamtbedeutung der Texte sinnstiftender sind, als die zeitlichen Daten. Beide Konstituenten basieren auf objektiven Daten (beim Ort die geographische Verortung anhand von Koordinaten; bei der Zeit die punktuelle und andauernde Situierung in Bezug auf ein bestimmtes Zeitsystem), wobei diese Daten an sich keine Aussagekraft tragen, sondern erst durch die subjektive Ausdeutung innerhalb der poly-dimensionalen Lebenswelt der Kommunikationsteilnehmer Sinn erhält. Diese Interpretation der Texte betrifft sowohl die kommunikative Wirklichkeit als auch die linguistische Analyse, dann als heuristisch-deutende Interpretation der kommunikativen Realitäten auf Basis multimodaler Sprachdaten (vgl. Adamzik 2016, 114). Anzumerken ist abschließend, dass der Kontext keine rein äußerliche Variable ist, die die Texte/Sprache beeinflussen, sondern dass ein wechselseitiges Verhältnis besteht.85 D. h., dass Scritte Murali ganz massiv auf den Kontext – an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten – einwirken und diesen verändern (können), wodurch in extremen Fällen ‘Szeneviertel’ wie San Lorenzo in Rom entstehen, was sich wiederum auf die Scritte auswirkt.

3.1.3. Kontakt (Medialität und Materialität)

Um „in Kommunikation zu treten und zu bleiben“ braucht es laut Jakobson einen Kontakt, im Sinne „eines physischen Kanals oder einer psychologischen Verbindung“ (1979, 88). In Anlehnung an Hollys Aussage, dass es „ohne Äußerung von Zeichen und ohne deren Wahrnehmung“ keine „Gedankenübertragung“ und schließlich „[o]hne Medialität keine Kommunikation“ gebe (2011, 144), verstehe ich die Basiskategorie Kontakt zunächst i. S. eines physischen Kanals, welcher der Herstellung (und Wahrung) der Kommunikation zwischen den Teilnehmern dient (s. o.). Somit bezieht sich die Kategorie auf die in Kapitel beschriebenen Konstituenten Technik und Träger, wobei festgehalten wurde, dass die technischen Aspekte die möglichen Verfahren (auf- und abtragend sowie verdrängend) und die damit verbundenen prozeduralen Abläufe umfassen, der Träger dagegen v. a. dadurch beschrieben werden kann, dass er aus einem festen oder starren Material, welches sich „an einem öffentlichen Standort“ befinden muss (s. o.; DEFAULT). Implizit wurde bereits in diesen grundlegenden Beobachtungen auf die Schlüsselfaktoren für die Kategorie Kontakt verwiesen, welche ich nachfolgend etwas systematischer fassen und genauer beschreiben möchte.

Wenn im alltäglichen Sprachgebrauch Mediales und daran anknüpfend Materialität thematisiert wird und zwar im Bereich der „Sortierausdrücke für kommunikative Ereignisse“86 (Holly 2011, 144), so hat sich die „Sprachwissenschaft […] – besonders in ihrer medialitätsvergessenen Traditionslinie – mit dem Medialen und entsprechend auch mit den Typologien des Medialen durchaus schwer getan und sich damit bisher, wenn überhaupt, dann nur ein bisschen und manchmal auch ein bisschen hilflos beschäftigt“ (Holly 2011, 145). Holly begründet dies v. a. mit der Komplexität des Begriffes Medialität (vgl. 2011, 145). Nichtsdestotrotz tut es Not die Begriffe im Kontext der Kommunikationsform SM zu klären, um interpretieren zu können, welchen Beitrag diese Kategorie (Kontakt) zur Funktionalität der SM leistet (oder leisten kann). Dass es gerade die Verbindung der situationalen (also aus der Basiskategorie Kontext, wie im vorherigen Kapitel beschrieben) mit medial-materiellen Aspekten ist, welche die Distinktheit der Parameter einer Kategorie Kontakt für die SM zeigt, soll nachfolgend verdeutlicht werden. Voraussetzung ist dafür, dass die Begriffe Medialität, Medium und Material für den Kontext der vorliegenden Arbeit genauer abgegrenzt werden, um anschließend das Beziehungsgeflecht in seinen Grundzügen skizzieren zu können, wobei es an dieser Stelle nicht darum geht, zwanghaft die verschiedenen technischen Verfahren und Träger-Optionen den Begriffen zu zuordnen. Anstelle einer deduktiven Typologisierung, ist ein induktives Vorgehen zweckmäßiger, weil dabei „die situationalen und medialen Aspekte“ fokussiert werden (vgl. Holly 2011, 147).

Holly stellt unter Verweis auf die Heterogenität des Verständnisses des Medienbegriffes fest:

Natürlich muss man aber bei allen kommunikativen medialen Phänomenen gerade die Sinngenese als ihren eigentlichen Zweck ansehen. Deshalb geht Medialität auch nicht in Materialität auf. Die Idee der Medialität von Kommunikation besagt allerdings, dass aufgrund der anthropologischen Verfasstheit, die Sinn an Sinne knüpft, Bedeutungen – also Sinn – nicht ohne die Bindung an Materiales entstehen können. Das gilt schon für die kleinsten Sinneinheiten, die Zeichen.(Holly 2011, 149)

Die Medialität der Sprache (bzw. allgemein der Zeichen) als Kommunikationsvehikel ist also untrennbar mit einer gewissen Materialität verbunden (vgl. Holly 2011, 149) oder anders formuliert: „Die Medialität von Zeichen meint eben, dass Materiales zu etwas Sinnhaftem geformt werden kann, und zwar im interaktiven Gebrauch“ (2011, 149-150), wobei, wie Holly bemerkt, besonders den technischen Strukturen und Möglichkeiten Beachtung geschenkt wurde, obwohl es auch „schon die Anordnung der interagierenden Personen im Raum [sein kann], ihre mehr oder weniger gemeinsame Fokussierung, dann auch die Hinzuziehung einfacher technischer Hilfsmittel, die solche strukturellen Arrangements ausmachen, die man dann Kommunikationsformen nennen kann“ (Herv. im Orig.; 2011, 150). Medialität ist also die Möglichkeit Material so zu formen, dass es innerhalb einer Kommunikationssituation Sinn ergibt bzw. Sinn generiert, wobei Material

nicht nur die physikalischen Substrate des Wahrgenommenen [sind], sondern auch die menschlichen Organe der Zeichenproduktion und Wahrnehmung und die technischen Medien, die der Herstellung, Verbreitung, Übermittlung und Rezeption von Zeichen dienen, ganz zu schweigen von deren institutionellen Ausprägungen.(Holly 2011, 144)

Ulrich Schmitz beschreibt in seinen bereits erwähnten zehn relevanten Termini (für eine multimodale Texttypologie; s. o.) die Begriffe Medium und Material in recht prägnanter Form. Demnach ist Material „der Werkstoff, der zu Zeichen geformt wird oder sie trägt (z. B. Tinte oder Pixel bzw. Papier und Glas)“, Medium dagegen „ein technisches Hilfsmittel der Kommunikation (z. B. ein Kugelschreiber oder ein Smartphone)“ (Schmitz 2016, 333). In Bezug auf die Scritte Murali könnten (technische) auftragende Erstellungsverfahren entweder als Material (bspw. die Farbsubstanzen der Spraydosen oder Filzstifte) oder Medium (ein Sticker oder ein Tazebao, auf welches anhand von Farben – die wiederum als Materialien gelten würden – Texte erstellt werden) gewertet werden. Eine genaue Ausdifferenzierung würde ein recht komplexes Bild ergeben. Das Material wäre z. B. beim Scratching gleichzeitig der Träger, da „der Werkstoff, der zu Zeichen geformt wird“ (s. o.) mit dem Träger (z. B. Plexiglasscheibe) identisch ist.

Auf der grundlegenden Annahme, dass es sich bei dem Medium Sprache um ein „originäres Aussagensystem mit spezifischen Funktionen“87 und nicht um nur „eine unter anderen Möglichkeiten der Verpackung von Aussagen“ handelt (Spitzmüller/Warnke 2011, 183), grenzen Spitzmüller und Warnke die Begriffe Medium und Medialität voneinander ab. Das Medium Sprache kann in unterschiedlichen Ausprägungen auftreten und wird somit also „selbst wiederum medialisiert“ (2011, 183). Medialität grenzt sich dann laut Spitzmüller und Warnke von Medium insofern ab, als ein Medium „tatsächlich ganz eingeschränkt nicht mehr und nicht weniger als ein Hilfsmittel zur Herstellung, Übertragung, Versinnlichung oder Speicherung von Zeichen“ darstellt, während Medialität „auch Wahrnehmung von und Erwartungen an bestimmte Formen der Vermitteltheit (>Medialitätserwartungen<) umfasst“ (2011, 184). Die Autoren sprechen an dieser Stelle zwar nicht explizit von Material, aber das Konzept erscheint hier dennoch, da die Zeichen offensichtlich ‘aus etwas’ hergestellt oder ‘in etwas’ gespeichert (oder eben „geformt“, wie Holly und Schmitz es nennen; s. o.) werden müssen. Der maßgebende Bezug zum Kontext (bzw. Situation) mit gleichzeitiger Verbindung zum Materiellen, wie er bei Holly betont wird, ist auch für Spitzmüller u Warnke bei der Beschreibung des Terminus Medialität entscheidend. Der Begriff umfasst für die Autoren neben den Medien „auch“ Wahrnehmungsprozesse und Erwartungshaltungen (s. o.), welche – ausgehend von den angestellten Überlegungen zum Kontext im vorigen Kapitel und den Typisierungsleistungen im Bereich der Genres (siehe DEFAULT) – nicht nur in situationale Kontexte eingebettet sind, sondern durch sie dezisiv geprägt werden.

Die Basiskategorie Kontakt umfasst demnach medial-materielle Aspekte, in dem Sinne, dass Material anhand von Medien zu Zeichen geformt wird, um in einem situativen Kontext Sinn zu schaffen, was zusammenfassend als Medialität bezeichnet wird. Generell sind die Zeichen zwingend an Materielles gebunden und erfahren Bedeutung erst in Verbindung mit kontextuellen Faktoren. Konkret auf die Erscheinungsformen der Scritte Murali bezogen, kann Material, abhängig vom Erstellungsverfahren (den technischen Hilfsmitteln, also den Medien), in verschiedensten Formen88 auftreten und sich in bestimmten Fällen auch auf den Träger (bei abtragenden oder verdrängenden Verfahren) beziehen. Als Medium können, ebenfalls in Abhängigkeit der Verfahren, unterschiedliche Arten erscheinen, von Spraydosen und Filzstiften, über Tazebaos und Sticker (welche dann weiter auszudifferenzieren wären), bis hin zu Gegenständen zum Kratzen. Die in Kapitel beschriebene Festigkeit und Starrheit lässt sich zum einen nur auf das ‘Endprodukt’ – also den fertig erstellten Text – beziehen und gilt zum anderen nur unter der Voraussetzung, dass man die Verbindung von Zeichen und Träger als existenzbedingendes Moment beachtet (gibt es kein Zeichen mehr, so gibt es auch keinen Text mehr). Damit komme ich zur eigentlichen Besonderheit der medial-materiellen Aspekte von Scritte Murali, welche sich nur in Verbindung mit anderen Basiskategorien erklären lässt und von weitaus größerer analytischer Relevanz ist, als die Organisiertheit der Materialien und Medien zu untersuchen.

Karl Bühler beschreibt in seinem Klassiker Sprachtheorie von 1934 Verwendungsfälle von „kontextfreie[n] Namen“, die „dingfest angeheftet“ sind und schlägt den Begriff „symphysisch“ vor (1982, 159).89 Erst diese symphysische Verbindung von Zeichen und Träger ermöglicht die Existenz einer Scritta, v. a. aber hat sie eine der zentralsten Spezifitäten der SM zur Folge. In Kapitel wurde dargestellt, welche zentrale Bedeutung die Faktoren Zeit und v. a. Ort für die gesamte Kommunikationsform SM innehaben. Sind die Texte symphysisch mit ihrem Träger verbunden, befindet sich dieser Träger an einem ganz bestimmten Ort und lässt diesen zu einem Raum werden, so lässt sich daraus schließen, dass die Kategorie Kontakt (alles Medial-Materielle) untrennbar an die Kategorie Kontext (mit all ihren Konstituenten) gebunden ist, was wiederum die Ortsgebundenheit als spezifisches, distinktes Merkmal der Kommunikationsform unterstreicht. Die Verbundenheit der Kategorien betont die Bedeutung des (subjektiv) interpretierten Kontextes und – in Bezug auf die Kategorie Kontakt – stellt die Medialität (Sinngenese in der Kommunikationssituation, s. o.) ins Zentrum des Interesses.

Domke betont die Spezifität eines solchen Typus von Kommunikation, der durch Ortsgebundenheit und medial-materielle Aspekte geprägt ist (vgl. 2014b, 164), und beschreibt am Beispiel von „In- und Aufschriften an einzelnen Gebäuden“ (2014b, 218) die Wirkung der Verbindungen:

Durch symphysische Kommunikate wie diese werden bestimmte Gebäude einer Stadt kommunikativ zum Bestandteil eines Kulturraumes, der dadurch immer wieder als solcher und somit als Teil des kommunikativen Gedächtnisses […] wahrnehmbar und lesbar […] wird.(Domke 2014b, 218)

Was hier für „bestimmte Gebäude“ gilt, lässt sich für die Scritte Murali auf den Trägern allgemein übertragen. SM-Texte werden somit durch die symphysische Verbindung zum Träger Teil von Kulturräumen. Die Nähe von SM-Texten zu Inschriften im oben genannten Sinn wird hier deutlich. Laut Domke sind die Texte außerdem „immer in Relation zu setzen zu der Zeitgebundenheit der Kommunikation; je zeitungebundener etwas von vielen öffentlich wahrnehmbar sein soll, desto widerstandsfähiger oder robuster muss das Material (das Schild z. B.) sein, das als Kommunikationsmedium oder Trägermedium dient“ (2014b, 168). Die Beschaffenheit des Materials wird also in Beziehung zu zeitlichen Faktoren, wie sie in Kapitel beschrieben wurden, gesetzt. Für Scritte Murali gestaltet sich die Situation etwas anders als für die empraktischen Texte (wie Schilder, Anzeigetafeln usw.), die Domke untersucht (vgl. 2014b). Wie bereits erwähnt, sind Scritte transgressiv und können jederzeit entfernt werden – dies gilt für Schilder, deren Anbringung von offizieller Seite reguliert, genehmigt und/oder beauftragt wurde, nicht (bspw. Auskunftsschilder an Bahnhöfen oder Flughäfen). Die Erstellung möglichst robuster und witterungsbeständiger Materialien für SM-Texte verliert dadurch offensichtlich ihren Reiz und scheint weniger praktikabel. Außerdem müssen Produzenten von SM-Texten mit dem Material (im Sinne von Trägern) arbeiten, dass ihnen der öffentliche Raum bietet.

An dieser Stelle möchte ich kurz auf Reduplikationen von Scritte Murali eingehen. Die Scritte-Texte können bspw. mündlich oder per Fotografie weitergegeben werden. Dann jedoch handelt es sich streng genommen nicht mehr um Scritte Murali, sondern maximal um Ähnlichkeitsabbildungen derselben, wobei die Ähnlichkeit zum Original variabel ist. Entscheidend für den Ähnlichkeitsgrad ist dabei, wieviel vom ursprünglichen Kontext mitüberliefert wird. Ausgangspunkt ist dafür, dass dieser physikalische Kanal (also das konkrete Erstellen/Anbringen von Texten auf konkreten Oberflächen, die sich an konkreten Standorten befinden) eine der Grundvoraussetzung für diese Kommunikationsform ist, da kein Text existiert, wenn er nicht erstellt wurde. So trivial diese Feststellung ist, so muss man doch bedenken, dass Texte, die typischerweise in einer anderen Kommunikationsform daherkommen, auch in alternativen Formen realisiert werden können (also der physikalische Kanal geändert werden kann), ohne dass die zu übermittelnde Botschaft in ihrer Existenz geändert werden würde. So kann ein wissenschaftlicher Artikel sowohl in auf Papier gedruckter Version in Buchform als auch in digitalisierter Form (z. B. als PDF Datei) erscheinen, wobei die Botschaft an sich nicht geändert würde. Ganz anders schaut das bei Texten der Scritte Murali aus, da diese erst durch die Verbindung von Kontakt und Kontext zu ihrer Existenz gelangen und sollte diese Verbindung nur ikonisch (bspw. als Foto) abgebildet werde, würde für einen Großteil der Texte ein nicht unerheblicher Teil der Botschaft verloren gehen. Deswegen werden in solchen Fällen die kontextuellen Umstände rekonstruiert. Je nachdem wer, wem, wozu und auf welche Art und Weise von einer Scritta berichtet, müssen bestimmte Details des Kontextes (eventuell auch schon subjektiv interpretiert) rekonstruiert und mit geliefert werden.90

Neben der ‘Verweildauer’ und der damit zusammenhängenden potentiellen Rezeptionszeit, werden die SM-Texte ferner durch die Erstellungsdauer bedingt. Je komplexer und länger der Text ist, desto mehr Zeit wird für die Erstellung benötigt, was aufgrund der transgressiven Natur eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen kann. Ebenso kann die Planungsphase die medial-materiellen Aspekte mitbestimmen: ein möglicher Pol wäre die Situation, dass der Produzent zufälligerweise ein Schreibwerkzeug oder Medium (z. B. Filzstift oder Sticker) zur Hand hat und einen Text erstellt. Demgegenüber stehen komplexe, mit großem Aufwand geplante und realisierte Texte (siehe z. B. die Paolo di Nella-Scritta in Abb. 29). Zwischen den beiden Polen sind verschiedenste Abstufungen möglich. Der Planungsgrad, die Erstellungsdauer und die dabei verwendeten Materialen und Medien bedingen die Verweildauer, die Rezeptionszeit und die potentiell zu erreichenden Rezipientengruppe in der Folge nachhaltig. Welche Rolle die Beschaffenheit des Trägermaterials spielt, wird in den folgenden Kapiteln gezeigt werden. Vorwegzunehmen sei, dass das Medium (Wahl der Farbsubstanzen, Größe der Scritte usw.) dabei sicherlich von größerer Bedeutung ist und zwar aus genau dem Grund, dass die Trägerressourcen begrenzt sind und die Produzenten stets damit rechnen müssen, dass die Texte (von Menschen) entfernt werden. Ob es tatsächlich Ziel ist, möglichst zeitungebundene Texte zu erstellen und welche alternativen Strategien genutzt werden, wäre eine der möglichen Interpretationsfragen.

Die medial-materiellen Aspekte bewirken neben der Ortsabhängigkeit eine weitere, ganz grundlegende Spezifität der Scritte Murali, wobei Material und Medium (besonders Träger und Erstellungsverfahren) von zentraler Bedeutung sind. Bateman (2017) nimmt in seiner umfangreichen Arbeit zur Multimodalität die Voraussetzungen für Kommunikationssituationen genauestens unter die Lupe und nennt dabei drei notwendige Bedingungen, damit „communicative situations“ entstehen können:

1. we must know (or assume) some particular range of material regularities that are to be considered to be carrying semiotic activity;
2. this knowledge must be shared (possibly unequally) among a community of users, and
3. a scheme for deriving interpretations from the material regularities identified must also be shared.(Bateman u.a. 2017, 86)

Übertragen auf die Kommunikationsform der Scritte Murali bedeutet dies, dass die Träger der Texte erst durch die Veränderung (also das Beschriften) auffällig werden. Die Träger (Wände, Handgeländer usw.) an sich ‘bedeuten’ noch nichts für die Kommunikationssituation, sondern tragen erst zur Gesamtbotschaft bei, sobald ihre „material regularities“ (s. o.) verändert werden bzw. erst dann, wenn es eine Nutzergemeinschaft gibt, die erstens Wissen über diese materiellen Regularitäten teilt und zweitens Modifikationen derselben als kommunikative Intention interpretiert. Oder anders ausgedrückt: die Wände eines Stadtviertels, ein Hauseingang, der Gehweg usw. werden erst dann ‘auffällig’ für eine Kommunikationssituation, wenn ihr ‘Normalzustand’ auf bestimmte Art und Weise präpariert wird und sowohl Normalzustand als auch Änderung von Gesellschaftsgruppen als solche erkannt werden. Die Gruppe von „possible bearers of meaningful regularities“ nennt Bateman canvas: “This is to be understood as anything where we can inscribe material regularities that may then be perceived and taken up in interpretation, regardless of whether actual, virtual (digital), simply produced, performed physically in time, or the result of a complex technological process“ (2017, 87). Das Spezifische an SM ist nun, dass der Canvas – also der Träger im weitesten Sinne – grundsätzlich nicht für die Texte vorgesehen ist, weshalb wir sie als transgressiv beschrieben haben. Zur „community of users“ (s. o.) zählen nun natürlich sowohl Rezipienten als auch Produzenten, woraus folgt, dass die Produzenten offensichtlich ganz bewusst das geteilte Wissen über Zustände der Canvas nutzen und folglich diese Kommunikationsform absichtlich wählen, um bereits durch die Praktik etwas zu kommunizieren und zwar dass sie sich über gesellschaftliche Normen und Gesetze hinwegsetzen. Wie ich bereits vorher bemerkt habe, ist dies meiner Meinung nach jedoch nicht die Hauptbotschaft, sondern gibt ihnen eher eine Art konnotative ‘Färbung’. Dies geschieht erst durch das Anbringen von Zeichen auf dem Träger:

To make a mark or trace a single line on a surface immediately transforms that surface, energizes its neutrality; the graphic imposition turns the actual flatness of the ground into virtual space, translates its material reality into the fiction of the imagination.(Rosand 2002, 1)

Die in Kapitel bereits angesprochene Spezifität von SM als indexikalische Zeichen i. S. von Peirces Zeichentypen ist folglich in der Basiskategorie Kontakt zu verorten. Jede Scritta kommuniziert als Index und stellt eine indexikalische Inbesitznahme des Trägers und damit von Teilen der Kulturräume dar. SM-Texte stellen in dieser Hinsicht eher In- als Anschriften dar, also eine Art von Epigrafie, wodurch sie neben der dokumentarischen, vermittelnden Seite (in Bezug auf die Inhalte) auch Monumente darstellen, welche „oft nicht sprachlicher Natur sind oder insgeheim etwas anderes sagen, als sie sagen“ (Foucault 1981, 15).91 Dieses monumentale Moment der Scritte entsteht durch die technisch-prozeduralen Abläufe durch den Produzenten und kann ebenso wie das Wissen über die Canvas nur unter Miteinbeziehung von geteiltem Wissen einer Gemeinschaft zu diesen Prozessen sowie der Einbettung in einen konkreten Situationskontext interpretiert werden, wobei letzterer auch gerade durch die indexikalische Handlung mitgeprägt wird. Die medial-materiellen Aspekte und ihre symphysische Anbindung an Orte schaffen unter Deutung der prozeduralen Abläufe und der kontextuellen Bedingungen also bestimmte Räume. Keines der Elemente aus den Kategorien Kontakt und Kontext kann dabei für sich Bedeutung schaffen, sondern erst im Verbund kommt es zur (grundsätzlichen) Sinnstiftung in dieser Kommunikationsform: Produzenten bringen Zeichen auf Flächen zu einem bestimmten Zeitpunkt, für eine bestimmte Dauer und an einem bestimmten Ort an, wobei sie sich als Teil einer sozialen Gemeinschaft bewusst sind, dass die Flächen dafür nicht vorgesehen sind und dies auch von den Rezipienten so gedeutet wird, weshalb bereits ein Minimum an Kommunikationsintention abgeleitet werden kann. Weder Ort oder Zeit, noch Träger oder Medium kommunizieren für sich selber das, was durch eine erstellte Scritta kommuniziert wird.

3.1.4. Kode (Semiotische Ressourcen)

Die vierte Basiskategorie hinsichtlich welcher die Scritte Murali auf ihre kommunikative Funktionalität analysiert und interpretiert werden kann, ist der Kode. Dieser muss laut Jakobson ganz oder zumindest teilweise den Teilnehmern bekannt sein (s. o.), wovon sich direkt ableiten lässt, dass der Produzent (auch „Kodierer“ bei Jakobson; 1979, 88) durch die bewusste Verwendung von bestimmten Kodes oder Zeichen die (potentielle) Empfängergruppe einschränken kann. Mit Kode werden hier die verschiedenen semiotischen Ressourcen bezeichnet, die innerhalb der Texte verwendet werden (können). Ich möchte an dieser Stelle auf die texttypologischen Betrachtungen der SM in Kapitel verweisen. Für SM generell wurden sprachliche Zeichen als mindestens dominantes Zeichensystem beschrieben. Gleichzeitig müssen andere Zeichensysteme wie z. B. Farben, aber auch die Anordnung und Kombination der einzelnen Zeichensysteme beachtet werden. Welche semiotischen Zeichensets konkret Verwendung finden, wird in den nachfolgenden Kapiteln auf Basis der Korpusdaten ausgelesen und anschließend auf ihre kommunikative Teilhabe hin interpretiert.

Die Verbindung mit der Kategorie Kontext ist besonders in der Hinsicht interessant, dass bestimmte, nicht-sprachliche semiotische Systeme – genannt seien hier exemplarisch die Farben – aufgrund ihrer spezifischen semantischen und pragmatischen Potentiale auf ganz bestimmte Weise Funktionen übernehmen können, welche nicht oder nur schlecht durch sprachliche Zeichen übernommen werden können. In Kapitel habe ich darauf mit Verweis auf Ansätze aus der Multimodalitätsforschung bereits hingewiesen. So haben bspw. Farben im Vergleich zu sprachlichen Zeichen das Potential Konnotationen zu übermitteln. So kann sich die Botschaft einer Scritta, wie in Abb. 26 ändern, würde sie in roter anstatt (himmel-) blauer Farbe geschrieben werden, da Blau und Weiß die traditionellen Vereinsfarben des S.S. Lazio (und damit auch seiner Ultras) sind, Rot und Gelb dagegen von A.S. Rom (und seinen Ultras). SM-Texte sind Teile von Kulturräumen und ihren Bewohnern, da sie diese prägen und von ihnen geprägt werden (siehe DEFAULT und DEFAULT). Die Bedeutung der Übermittlung von konnotativen Inhalten in diesem Zusammenhang sollte ohne weitere Erklärung klar sein und wird durch die oben erläuterte Charakteristik der Transgressivität von SM-Texten und der bewussten Wahl dieser Kommunikationsform weiter verstärkt. Wenn man davon ausgeht, dass SM als transgressive Kommunikationsform gewählt werden, um die Rezipienten (zumindest minimal) auf emotionaler Ebene anzusprechen, dann bekommen semiotische Ressourcen mit hohem (oder höherem) konnotativem Potenzial eine zunehmend größere Rolle zugeschrieben. Auch zeitliche Faktoren stehen in wechselseitiger Verbindung mit kodalen Eigenschaften, immer unter Einbeziehung der Kommunikationspartner. So kann sich die Erstellungsdauer auf die Verwendung und Komplexität der Zeichensysteme auswirken, da die Zeit, die den Produzenten bei der Erstellung zur Verfügung steht, stark begrenzt ist, weil es sich um eine illegale Aktivität handelt. Es wäre also möglich, dass verkürzenden Verfahren und Zeichen, die Informationen auf welche Weise auch immer verdichtend darstellen, häufig verwendet werden bzw. ganz allgemein von Bedeutung sind. Dazu gehört natürlich auch die Wahl von Schlagwörtern, die rekurrent verwendet werden und bestimmte Inhalte zusammenfassend veräußern. In Bezug auf die zeitliche Dimension muss außerdem beachtet werden, dass die Verweildauer der Rezipienten und damit einhergehend die Aufmerksamkeit und Bereitschaft Texte zu lesen u. a. durch den Standort beeinflusst wird. Produzenten müssen das berücksichtigen und können dies neben der Wahl des Standortes und der Positionierung der Scritta im Sichtfeld der Rezipienten (siehe DEFAULT) auch durch die Wahl bestimmter semiotischer Ressourcen, wie z. B. besonders ‘auffällige’ Farben, steuern.

3.1.5. Mitteilung – paradigmatische und syntagmatische Merkmale

Die letzte Analysekategorie bezieht sich auf die Jakobsonsche Komponente ‘Mitteilung’. Von Jakobsons Beschreibung „Der SENDER macht dem EMPFÄNGER eine MITTEILUNG“ (Herv. im Orig.; 1979, 88) ausgehend, stellt sich die grundlegende, aber auch irreführende Frage ‘Was wird mitgeteilt?’. Steht bei dieser Arbeit die Analyse der Kommunikationsfunktionen der Scritte Murali im Vordergrund, so läge es nahe diese Kategorie als die zentrale zu sehen. Wie bereits angedeutet wurde, kann dieses ‘Was?’ nicht anhand einer Kategorie allein analysiert bzw. interpretiert werden, sondern nur auf Basis der multimodalen und polydimensionalen Faktoren. Bateman bemerkt in diesem Zusammenhang zu den vielen Kommunikationsmodellen folgendes:

There are many models in the literature from various disciplines that say things about ‘communication’ – but these have rarely been constructed with the demands of multimodality already taken into consideration.(2017, 76)

Und speziell zur Vorstellung ‘Jemand sendet jemand anderem eine Botschaft’ als theoretische Grundlage von Kommunikation:

This sender-message-receiver view, often called the ‘postal model’, is still quite commonplace in many theories of how communication works, despite equally common criticisms. The postal model can be quite misleading if it is used to describe situations that lie outside its scope. What, for example, is the ‘message’ of a Hollywood film, a website, a computer game or an entire face-to-face conversation? Talking of a ‘message’ in such circumstances often distorts the questions that one asks and, worse, the answers that one gets.(Herv. SL; 2017, 77)

Diese ‘postalische’ Vorstellung von Kommunikation würde eben auch zur Frage führen ‘Was ist die Botschaft, die der Sender anhand einer Scritta an einen Empfänger sendet?’, wobei die Antwort ebenso schwierig zu beantworten wäre, wie Batemans Beispiele zur Botschaft von Hollywood Filmen oder Webseiten.

Niklas Luhmann erscheint diese „Übertragungsmetapher“ (Sender-Mitteilung-Empfänger) als problematisch (vgl. 1984, 194), wobei der Soziologe für den Kommunikationsvorgang (im Sinne von gemeinschaftlichem Handeln) zwischen drei Selektionen – Mitteilung, Information und Verstehen – unterscheidet, die als triadische Einheit Kommunikation entstehen lässt (vgl. Luhmann 1984, 203). Ohne genauer auf die Ausführungen Luhmanns eingehen zu wollen, ist festzuhalten, dass diese Vorstellung von Kommunikation hilfreich für das Verständnis der Kommunikationsfunktionalität von Scritte Murali ist und auch den bisherigen Ausführungen entspricht. Generell wird von den Produzenten bewusst diese (Kommunikations-) Form (dieses „Verhalten“) selegiert, um bestimmte Informationen (das, was konkret verschriftlicht wird) zu kommunizieren. Das Verstehen wiederum bezieht sich sowohl auf das Verständnis der Mitteilungsform bzw. des Mitteilungsverhaltens als auch über die dargestellte Information (vgl. Luhmann 1984, 195-200). Dass dabei Typisierungsprozesse der Kommunikationsteilnehmer in Bezug auf die Sprache, aber auch auf das (transgressive) Verhalten im Verbund mit kontextuellen, v. a. ortsspezifischen, Faktoren eine grundlegende Rolle spielen, wurde bereits ausgeführt.

Um für eine Basiskategorie ‘Mitteilung’ zu analysierende Merkmale festzuhalten, muss also zwischen der ‘Mitteilung’ (oder ‘Nachricht’) und der ‘Information’ von Scritte Murali unterschieden werden. Die ‘Nachricht’ oder die Botschaft wäre dann die Funktion von Scritte, interpretiert anhand der verschiedenen Faktoren und Kategorien, wie siehe in den obigen Kapiteln beschrieben wurden. ‘Information’ dagegen muss auf Textebene, also das, was konkret geschrieben/gemalt wurde, verortet werden.

Jakobson bezeichnet die „Ausrichtung auf die Botschaft um ihrer selbst willen“ (1960: 92) als poetische Funktion und erklärt „das empirische linguistische Kriterium der poetischen Funktion“ mit der Projektion des „Prinzip[s] der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination“ (1979, 94), also die Projektion der paradigmatischen auf die syntagmatische Achse. Bekanntlich basieren Jakobsons Funktion auf Dominanzverhältnissen und für ihn ist die zentrale Funktion die poetische (vgl. Jakobson 1979 und Auer 2013, 39). Wie bereits bei den anderen Basiskategorien geschehen, ist es auch hier nötig diese Kategorie in Hinblick auf die Scritte Murali zu deuten und gegebenenfalls zu erweitern. Wir gehen dabei, wie gesagt, von Mitteilung im Sinne von verschriftlichter Information aus, d. h. Zeichen, die direkt ablesbar sind und bestimmte Informationen innerhalb der Gesamtnachricht übermitteln (sollen).

Adamzik verknüpft die Frage nach dem ‘Was?’ eines Textes mit dem Thema und Inhalt desselben und erklärt dies damit, „dass man sie [Thema und Inhalt] großenteils unmittelbar am Sprachmaterial ablesen kann; denn die Lexeme geben sozusagen schon die Kategorien vor“ (2016, 207). Im Kontext der SM ist die unmittelbare Sichtbarkeit des Sprachmaterials sicherlich nicht von geringer Bedeutung, da wir bereits erläutert haben, dass die Produzenten meist unbekannt sind und die Empfänger Informationen zur Kommunikationssituation anhand anderer Merkmale ableiten müssen. Informationen zum Produzenten in anderen Kommunikationssituationen, wie Gruppen-Chats, Podiumsdiskussionen oder auch Zeitungsartikeln, geben dem Empfänger meist schon einen bestimmten Rahmen vor, um was es sich bei den übermittelten Informationen und der Gesamtnachricht handeln könnte. Anders sieht das bei den SM aus, wodurch das direkt ablesbare Sprachmaterial von noch zentralerer Bedeutung ist. Nun ist die Frage nach dem Thema eines Textes keine einfache, was sich auch in der Fachliteratur wiederspiegelt, in der nicht nur Thementypologien wenig verbreitet sind, sondern auch, wie Adamzik treffend bemerkt, „die Frage nach der Definition des Analysebegriffs Thema […] meist im Hintergrund bleibt, man mehr oder weniger offen das ,Alltagsverständnis‘ des Ausdrucks zugrunde legt und dieses auch nicht weiter erläutert“ (2016, 208).

Als zentrales Merkmal von Texten nennt auch Barbara Sandig das ‘Thema’, das von den Rezipienten anhand von Kohärenzeigenschaften in Hinblick auf die Textfunktion erarbeitet wird (vgl. 2000, 98 und 108). Interessant bei Sandigs Ausführungen ist v. a. das prototypische Verständnis von Textthemen (vgl. 2000, 98-99). Die Autorin bezieht sich dabei zum Großteil auf die ausführliche Arbeit zu Text und Thema von Andreas Lötscher (1987), auf welche sich auch Adamzik (2016) an mehreren Stellen bezieht. Neben der eingehenden Gegenüberstellung verschiedener Ansätze innerhalb der Diskussion um eine Begriffsdefinition von Thema92, beschreibt Lötscher in seiner allgemeinen Definition das Thema eines Textes als „ein in irgendeiner Beziehung mangelhaftes Objekt, dessen Mangel in der Behandlung in diesem Text beseitigt werden soll“ (1987, 84). Wobei solche „mangelhafte Objekte“ völlig unterschiedlich konkretisiert werden können und die Begriffe Mangel und Objekt „möglichst weit gehalten werden sollten“ (Lötscher 1987, 99-100). Für Lötscher sind Kohärenz und Kohäsion für eine Konstruktion des Textthemas nicht zwingend notwendig (vgl. 1987, 13 und Sandig 2000, 98) und v. a. müssen Texte nicht unbedingt Themen haben, sondern „[d]as Thema kann in vielen Fällen als solches ‘unsichtbar’ sein, weil es nicht als solches verbalisiert ist“ (1987, 112). Der Text muss als Ganzes und besonders hinsichtlich seines Handlungscharakters, der „problemtheoretischen Voraussetzungen“ (Lötscher 1987, 111) und bei themenlosen Texten eben auch die Intentionen des Textes verstanden werden (vgl. Lötscher 1987, 111). Diese Lesart verknüpft das Textthema mit der oben skizzierten Unterscheidung Luhmanns zwischen Nachricht und Information. Das Textthema ist dann Teil der Information (eventuell die Kerninformation des Textes) und spielt eine größere oder kleinere Rolle bei der Sinnstiftung der Gesamtnachricht. Handelt es sich um einen themenlosen Text, so muss der Sinn der Nachricht anhand anderer Faktoren (bspw. kontextuelle Merkmale) rekonstruiert werden. Das Merkmal ‘Thema’ ist dabei graduell zu verstehen, d. h., prototypisch wäre für Texte (ganz allgemein) eine Fokussierung auf ein Thema, periphere Mitglieder eines solchen Prototypen sind schließlich als themenlose Texte zu verstehen (vgl. Sandig 2000, 98). Als Beispiele solcher themenloser Texte nennt Lötscher dominant emotive oder poetische Texte, wie sie von Jakobson beschrieben wurden (vgl. 1987, 114) – so z. B. Grußäußerungen oder Äußerungen wie pfui. Demgegenüber stehen dann die „themabezogenen Texte […], die ding- und sachverhaltsbezogen sind, die ‘auf die Außenwelt hin’ orientiert sind, die nicht zur Gestaltung von Beziehungen, einer kommunikativen Verbindung dienen“ (Lötscher 1987, 112).

Wie im Analyseteil zu sehen sein wird, wird ein nicht geringer Teil der Scritte von wenigen Token (zehn oder weniger) gebildet – wobei Token neben Wörtern auch bildgraphische Zeichen umfassen können – wie in Abb. 31 exemplarisch dargestellt.

Basta movida, (ScriMuRo)

Basta movida (ScriMuRo)

Welchen Zweck hätte es ein Textthema für eine solche Scritta zu erfassen, wenn dies überhaupt möglich ist? Die kontextuellen Hintergründe und v. a. die Intentionen müssen bei einer solchen Scritta zwingendermaßen mit berücksichtigt werden, möchten wir die Funktion eines solchen Textes interpretieren. Aber eben auch hinsichtlich der Themafrage, wie Lötscher richtig bemerkt (s. o.). Dem Text bspw. ein Thema ‘Verfall des Stadtviertels’ zu geben, kann nur in Verbindung mit außersprachlichen Daten (wie Zeit und v. a. Ort) geschehen und selbst dann, wäre dies ein Schritt in Richtung der Interpretation der Gesamtnachricht (nicht Information), jedoch keine ausreichende Auseinandersetzung mit den sprachlichen (oder graphischen) Zeichen und ihrer (Teil-) Funktion. Nicht durch Zufall kombinieren die Produzenten der Scritte die Zeichen auf diese Art und Weise, wie ich später zeigen werde. So stellt sich nun die Frage, anhand welcher Theorie ich diese paradigmatischen und syntagmatischen Merkmale am besten beschreiben und ihre Teilhabe an der Gesamtfunktionalität erklären kann.

Als besonders nutzbringend scheinen mir die Ansätze aus der Frame-Semantik, die in den Arbeiten des amerikanischen Linguisten Charles Fillmore in den 1970er Jahren ihren Ursprung findet und seitdem in verschiedensten Bereichen der Sprachwissenschaft diskutiert und verbreitet wurde.93 Aus den vielen Erkenntnissen der Frame-Forschung sind an dieser Stelle besonders die folgenden von großem Interesse.94 Ausgangspunkt ist folgende Definition von Frames, wie sie Alexander Ziem beschreibt:

Frames sind konzeptuelle Wissenseinheiten, die sprachliche Ausdrücke beim Sprachverstehen evozieren, die also Sprachbenutzerinnen und Sprachbenutzer aus ihrem Gedächtnis abrufen, um die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks zu erfassen.(Ziem 2008, 2)

Abhängig vom jeweiligen Kognitionsmodell95 lassen sich dann Frames für verschiedene Ansätze nutzen. Von zentraler Bedeutung ist, dass Frames – nach der Ansicht Fillmores – sowohl die oben beschriebenen Wissenstrukturen darstellen als auch geeignete Analyseinstrumente für linguistische Untersuchungen sind (vgl. Ziem 2008, 441). Der Vorteil der Frame-Theorie liegt v. a. in ihrer nicht-reduktionistischen Ausrichtung, sprich, dass die methodischen Prämissen idealerweise zu einer ausreichenden Erfassung „verstehensrelevanter Bedeutungsaspekte“ führt (Ziem 2008, 3; vgl. auch Busse 2012). Für die vorliegende Arbeit eignet sich besonders ein holistisches Grundmodell, da dieses bei den Verstehensprozessen von sprachlichen Ausdrücken das relevante Kontextwissen der Sprach(zeichen)benutzer miteinbezieht. Welt- und Sprachwissen kann also nicht trennscharf voneinander abgegrenzt werden (vgl. Ziem 2008) und um Sprachzeichen verstehen zu können, müssen die Benutzer

Situationen mit allen Sinnen wahrnehmen und sprachliche Ausdrücke mit allen möglichen Objekten [ihrer] sinnlichen Erfahrung in Beziehung setzen […] können. Genauso wichtig ist das Vermögen, sich affektiv auf sprachliche Äußerungen beziehen sowie Erfahrungen einbringen zu können, die unmittelbar mit unserer leiblichen Verfasstheit (in anatomischer, physiologischer, neurologischer und ontogenetischer Hinsicht) zusammenhängen.(Ziem 2008, 443)

Hilfreich sind hier auch Erkenntnisse aus der psycholinguistischen Inferenzforschung, da empirische Befunde zeigen, dass dieses (kontextuelle) Hintergrundwissen der Benutzer eine – wenn nicht die – entscheidende Bezugsgröße beim Interpretieren von sprachlichen Ausdrücken ist (vgl. Ziem 2008, 443). Inferenzen betreffen „die globale Textkohärenz (Intentionen des Autors, thematische Bezüge usw.) sowie situative Faktoren (wie Personen-, Zeit-, Ortsdeixis)“ (Ziem 2008, 444). Wie gut sich ein solcher Ansatz mit den bisherigen Ausführungen zur Kommunikationsform Scritte Murali in Verbindung bringen lässt, muss an dieser Stelle nicht weiter erläutert werden. Um zu verstehen, wie Scritte Murali funktionieren, müssen Faktoren wie Ort und Zeit, aber auch prozedurales Wissen über die transgressive Kommunikationsform mit sprachlichem Wissen in Verbindung gebracht werden, um die Bedeutung der (teils speziellen) Form der sprachlichen Zeichen kontextuell deuten zu können.

In Verbindung mit Ansätzen aus der Konstruktionsgrammatik (wie z. B. von Langacker) lassen sich über die Inferenztheorie der Psycholinguistik auch die (Bedeutungs-) Konstitution von sprachlichen Zeichen erklären, wie dies Ziem (2008) ebenfalls aufgezeigt hat. Einerseits evozieren sprachlichen Zeichen Frames (d. h., rufen sie auf), andererseits werden über die Kombination von sprachlichen Zeichen (oder Frames) neue kognitive Prozesse angestoßen, da bestimmte Werte neu interpretiert werden (vgl. Ziem 2008, 445). Solche Ansätze sind nicht nur für einen Einzeltext einer Scritta, wie in Abb. 31 zu sehen, interessant, sondern auch für Scritte, die hochfrequent in bestimmten Gebieten angebracht werden, und wenige Frames abrufen, wie z. B. in Abb. 32.

(Lazio) Roma merda, hochfrequente Scritta in Rom (ScriMuRo)

(Lazio) Roma merda, hochfrequente Scritta in Rom (ScriMuRo)

Es geht in dieser Basiskategorie also weniger darum den Einzeltexten Themen zu extrahieren, sondern die Sprachzeichen, welche Frames evozieren und/oder abrufen, anhand der kontextuellen Hintergründe (DEFAULT) zu deuten und zwar – auf Jakobson zurückgreifend – mit Blick auf paradigmatische und syntagmatische Merkmale. Zu klären wäre bspw., welche Zeichen verwendet werden, in welcher Kombination und Frequenz sie auftreten und wie diese Zeichenverwendung in Abhängigkeit der anderen Basiskategorien zu interpretieren sind. Trotzdem treten natürlich auch ‘themenlose’ Scritte auf, d. h. Scritte bei denen die evozierten Frames zunächst nur schwerlich interpretiert werden können. Hier sind die Wissensbestände zu kontextuellem Hintergrundwissen von weitaus größerer Bedeutung (vgl. dazu die Aussagen von Lötscher, s. o.), als das sprachliche Wissen, möchte man solche Scritte interpretieren. Weiterhin muss klar zwischen Textthema (bzw. -inhalt) und der Nachricht i. S. v. Textfunktion unterschieden werden, wobei letzteres (Textfunktion) hier als zentrale Analysekategorie verstanden werden muss, auf welche alle anderen Kategorien hin betrachtet werden.

3.1.6. Zusammenfassung der Basiskategorien

Abschließend möchte ich die vorangegangenen Überlegungen zu den analytischen Basiskategorien zusammenfassen.

Die Rezipienten – aus deren ‘Sicht’ ich die Kommunikationsform zu analysieren versuche – finden folgende Grundsituation vor: augenscheinlich hat ‘jemand’ ‘etwas’ anhand bestimmter semiotischer Ressourcen, an einem bestimmten Ort, mithilfe bestimmter Mittel erstellt, um etwas zu übermitteln und der Rezipient gehört eventuell zu den intendierten Empfängern. Die einzelnen Parameter, die bei der Interpretation der Gesamtbotschaft nötig sind, mögen auf den ersten Blick völlig willkürlich und äußerst heterogen erscheinen (man vergleiche die bisher gezeigten Beispiele). Um diese scheinbar chaotische und willkürliche Kommunikationsform erfassen und letztendlich verstehen zu können, habe ich auf Basis von Jakobsons Kommunikationsmodell und seinen –funktionen, Basiskategorien beschrieben, die nicht nur als ordnende Analyseinstrumente dienen, sondern bereits distinkte (mit Blick auf andere Kommunikationsformen) Wesensmerkmale der Scritte Murali hervorgebracht haben. Mich an diesen Analysekategorien orientierend, werde ich in einem nächsten Schritt ein Modell entwickeln, welches erlaubt die Funktionalität von Scritte Murali-Texten zu interpretieren. Fünf Basiskategorien96 sind für die Rekonstruktion der Kommunikationssituation von SM relevant: KommunikationsteilnehmerJAK (Produzent/en und Rezipient/en), KontextJAK (zeitliche und ortsgebundene Faktoren), KontaktJAK (medial-materielle Aspekte), KodeJAK (semiotische Elemente) und MitteilungJAK (Information in paradigmatischer und syntagmatischer Anordnung sowie die Nachricht oder Gesamtbotschaft als Textfunktion).

KommunikationsteilnehmerJAK – Produzent/en
Von komplett anonymisiert bis hin zu explizit ausgewiesene Individuen oder Gruppierungen, sind graduell alle Konstellationen denkbar. Nichtsdestotrotz ist ein Minimum an Anonymität in Bezug auf den/die Produzenten für die SM wesentlich, wobei das illegale Moment der Scritte sicherlich eine Rolle spielt. Eine Unterscheidung nach Goffmans animator, author und principal mag für einen Teil der Scritte möglich sein, jedoch stellt sich die Frage, ob Rezipienten wirklich nach diesen Kriterien unterscheiden oder es letztendlich darum geht, wer hinter einer Scritta steht, sprich, welches Individuum oder welche Gruppierung vermutlich als Sender verstanden werden kann. Dies ist für die Kommunikationssituation nicht unerheblich, da die Entscheidung, ob diese oder jene Scritta oder Scritte ganz allgemein für den Rezipienten relevant oder interessant sind und somit gelesen werden, hängt auch von einer solchen Einschätzung (‘Wer steckt hinter diesem Text?’) ab. Rezipienten müssen (potentielle) Produzenten(gruppen) anhand verschiedener, textueller und kontextueller Hinweise identifizieren. Die Produzenten sind sich dieser Typisierungsprozess bewusst und somit können sie, in Abhängigkeit von ihrem Kommunikationsziel, gezielt den Grad der Anonymität steuern. Fest steht, dass sich aufgrund der medial-materiellen Verbindung zum Ort der Produzent immer in seinen Text einschreibt und die Scritte indexikalisch auf den oder die Produzenten verweisen.

KommunikationsteilnehmerJAK – Rezipient/en
Grundsätzlich ist zwischen potentiellen und intendierten Rezipienten(gruppen) zu unterscheiden. Befinden sich die Scritte auch in der visuell zugänglichen Öffentlichkeit, so ist noch lange nicht jede Scritte für die allgemeine Öffentlichkeit gedacht.97 Zwei Faktoren aus der Kategorie Kontext steuern und begrenzen dabei grundlegend sowohl was die mögliche Rezipientenanzahl als auch den/die intendierten Rezipienten/-gruppen angeht: die Zeit und der Ort. Scritte sind transgressiv und können jederzeit entfernt werden und selbst wenn dies nicht geschieht, sind sie der Witterung ausgesetzt und daher für die Rezipienten nur über bestimmte Zeiträume sichtbar. Wichtiger noch als die zeitgebundene Rezipierbarkeit ist jedoch die Ortsgebundenheit. Obwohl Scritte Murali potentiell den Massen (der Öffentlichkeit) zugänglich sind und die Rezipientenanzahl also theoretisch nicht eingeschränkt ist, handelt es sich nicht um Massenkommunikation. Laut Niklas Luhmann werden Massenmedien durch technische Hilfsmittel zur Vervielfältigung der Allgemeinheit zugänglich gemacht, z. B. Filme oder Disketten (vgl. 1996, 10-11). Durch die Ortsgebundenheit werden die Rezeptionsräume und damit einhergehend die Rezipientanzahl deutlich eingeschränkt und zwar sowohl zu einem bestimmten Zeitpunkt (Wie viele Personen können gleichzeitig den Scritta-Text rezipieren?) als auch über eine bestimmte Zeitspanne (Wie viele Personen können den Scritta-Text über eine bestimmte Dauer hinweg rezipieren?). Daraus wird schon deutlich, dass auch die kodalen Merkmale (also die Verwendung bestimmter semiotischer Ressourcen) und die medial-materielle Geprägtheit (Größe, Anbringungsort, Witterungsbeständigkeit) produzentenseitig mit berücksichtigt werden müssen, wenn die potentielle Rezipientenzahl erhöht bzw. eingeschränkt werden soll. Die Relation für Massenkommunikation 1:n wird folglich für Zeitpunkt und –dauer durch medial-materielle Aspekte und die Ortsgebundenheit eingeschränkt (vgl. Domke 2014b, 164).

KontextJAK
Grundlegend ist für die Basiskategorie KontextJAK festzuhalten, dass zwischen objektiven Daten und den darauf basierenden subjektiven Interpretationen durch die Kommunikationsteilnehmer zu unterscheiden ist. Dadurch entsteht das, was Adamzik als situativen Kontext bezeichnet (vgl. 2016, 114). Die zwei entscheidenden Faktoren für diese Kategorie sind die Zeit und der Ort.

KontextJAK – Ort
Die objektiven Daten wären in diesem Fall eine lokalisierbare Adresse, i. S. v. geographischen Daten, welche durch die Teilnehmer mithilfe ihres Hintergrundwissens in unterschiedlichen Bereichen subjektiv interpretiert werden und den objektiven Standort des Textes (und damit den Text an sich) in einem subjektiv wahrgenommenen kulturellen Raum verorten und darin interpretieren. Dies geschieht sowohl auf mikro- als auch auf makro-strukturellen Ebenen und ist ein höchst komplexer Vorgang, bei dem nicht nur kulturelle, sondern auch sozio-biographische Hintergründe der Teilnehmer von Bedeutung sind. Wie bereits bei den Rezipienten erwähnt, ist die Ortsgebundenheit eines der distinkten Parameter diese Kommunikationsform: Die Teilnehmer (sowohl Produzent als auch Rezipient) müssen sich unweigerlich an einem bestimmten Ort befinden, damit die Kommunikation vollzogen werden kann (Domke 2014b, 174).98 Diese Tatsache wird von den Teilnehmern bei der Erstellung und Rezeption mit berücksichtigt. Die Zentralität des Ortes wird außerdem erkennbar, wenn man bedenkt, dass er neben den Teilnehmern auch die medial-materiellen Aspekte und dadurch schließlich auch die Kategorien KodeJAK und MitteilungJAK an sich bindet.99 Für eine Analyse der Kommunikationsfunktionen nehmen die objektiven Ortsdaten daher eine zentrale Stellung ein, da sie für die Interpretation der Kommunikationsräume und folglich der –funktionen als Grundlage dienen. Anders formuliert bedeutet dies, dass  eine Interpretation der Gesamtbotschaft nicht möglich ist, wenn man den Standort der Texte und seine Deutung innerhalb eines spezifischen Kulturraumes vernachlässigt oder sogar völlig ignoriert.

KontextJAK – Zeit
Bezüglich der zeitlichen Aspekte von SM ist vor allem die Zeitdauer von Interesse und zwar hinsichtlich dreierlei Dimensionen: der Erstellung, der Materialität und der Rezipienten. Durch den transgressiven Charakter der Scritte wäre anzunehmen, dass die Produzenten nur wenig Zeit haben, die Texte zu erstellen, wollen sie nicht von Gesetzeshütern dabei erwischt werden. Dies wurde in verschiedenen Schriften auch als Gesetz der Kürze bezeichnet und könnte eine Erklärung für die hohe Frequenz an kurzen Texten sein. Ob dem wirklich so ist, oder ob es andere Erklärungen dafür geben kann, wäre anschließend zu klären. Die zeitliche Überdauerung der Scritte Murali ist neben der Möglichkeit entfernt zu werden (sowohl durch Reinigung, um den Ursprungszustand des Trägers wieder herzustellen als auch durch das Modifizieren von anderen Produzenten), auch davon abhängig, wie witterungsbeständig die Scritte sind.100 Gleichwohl bedeutend ist eine Interpretation des Zeitfaktor bezogen auf die Rezipienten und zwar in der Hinsicht, als die (potentielle) Verweildauer der (potentiellen) Rezipienten an bestimmten Orten höher sein wird, als an anderen Orten, wodurch möglicherweise die Wahrscheinlichkeit, dass Scritte gelesen werden, erhöht wird. Aber auch semiotische Aspekte (Farbwahl, informationsverdichtende Zeichen usw.), die Größe der Scritte und die lokale Quantität von Scritte auf einem Träger haben zeitliche Konsequenzen, da z. B. bei zu vielen, zu langen oder schlecht lesbaren Texten, die benötigte Rezeptionszeit steigt.

KontaktJAK – Materialität und Medialität
Die Basiskategorie ist zunächst im Sinne eines physischen Kanals zur Herstellung und Aufrechterhaltung der Kommunikation zu verstehen und bezieht sich demnach auf die verwendeten Materialien und Medien. Das bedeutet, dass Material mithilfe verschiedener Medien (technische Hilfsmittel) zu Zeichen geformt wird, um in situativen Kontexten Bedeutung zu generieren (hier als Medialität bezeichnet). Die Träger – nach Bateman als canvas benannt, s. o. – werden dabei ‘zweckentfremdet’ und durch das Anbringen der Scritte kommt es zu einer symphysischen Verbindung von Träger und Scritta, wodurch die Scritte nicht nur untrennbar an spezifische Orte gebunden sind und das distinkte Parameter der Ortsgebundenheit hervorgehoben wird, sondern den Scritte Murali einen monumentalen Charakter zukommen lässt. Interpretiert auf dem Hintergrund bestimmter Kontexte durch die Teilnehmer, lässt die medial-materielle Spezifität dieser Kommunikationsform die SM Teil von Kulturräumen werden, welche wiederum rückwirkend die Interpretation der Texte selber beeinflussen kann.

Generell sind die Kategorien KontextJAK und KontaktJAK untrennbar im Verbund zu sehen und zwar zunächst auf ganz existenzielle, wesentliche Weise. Nur die Verbindung von Material mit ortsgebundenen Trägern anhand von Medien, lässt eine unikale Scritta existieren und nur an diesem spezifischen Ort. Diese Verbindung muss auch bei der Interpretation und Analyse als Grundvoraussetzung betrachtet werden.

KodeJAK – semiotische Ressourcen
Unter die Kategorie des KodeJAK fallen die semiotischen Ressourcen, die vom Produzenten mithilfe der eben beschriebenen Medien und Materialien verwendet werden können. Dazu gehören neben dem dominanten Zeichensystem der Schriftsprache auch Zeichensets wie Farben oder bildgraphische Zeichen, z. B. Piktogramme oder politische Symbole. Die Zeichensets können dabei verschiedene Teilfunktionen übernehmen: schriftliche Sprachzeichen z. B. eignen sich aufgrund ihrer kombinatorischen Flexibilität, wie an anderer Stelle bereits beschrieben (siehe DEFAULT), besonders für die Darstellung von Narrationen, Explikationen und Argumentationen, Farben dagegen offerieren die Möglichkeit konnotative Teilbotschaften zu übermitteln oder die Salienz der Scritta zu erhöhen101 und informationsverdichtende Zeichen bieten mit Hinblick auf die zeitlichen Faktoren (Rezeptionszeit usw.) entscheidende Vorteile. Entscheidend ist auch für diese Kategorie das Wissen der Teilnehmer über die einzelnen Zeichensysteme und ebenso das Bewusstsein über dieses Wissen. So kann der Produzent bspw. mit dem Bewusstsein über die Erwartungshaltung und das Hintergrundwissen der potentiellen Rezipienten gezielt die semiotischen Ressourcen wählen und kombinieren, um Hinweise auf sich selber und damit letztlich auf die Gesamtbotschaft zu liefern oder auch nicht, wobei die situativ-kontextuellen Parameter (v. a. der Ort bzw. Raum) als Interpretationsgrundlage nicht vergessen werden dürfen.

MitteilungJAK – Information und Nachricht
Die Kategorie wird hier verstanden als übermittelte ‘Information’ und den paradigmatischen und syntagmatischen Merkmalen der Scritte. Damit sind auf Selektionsebene weniger die dokumentarisch vermittelten Inhalte und Themen der einzelnen Texte gemeint, sondern die durch (Sprach-) Zeichen evozierten und abgerufenen Frames, die den Rezipienten bei den Kategorisierungs- und Verstehensprozessen der Gesamtbotschaft helfen und Hinweise auf den Produzenten liefern können. Damit in Verbund müssen die kombinatorischen Merkmale untersucht werden, wie z. B. die Wortanzahl der Scritte, die darin verwendeten Wortarten oder das Vorkommen von Kollokationen oder Mehrworteinheiten. Die Verwendung von Ansätzen aus der Frame-Forschung empfiehlt sich für den hier im Zentrum stehenden Untersuchungsgegenstand besonders, aufgrund der nicht-reduktionistischen und holistischen Ausrichtung, die Sprach- mit Weltwissen gleichermaßen in Verbindung bringt und von empirischen Studien der psycholinguistischen Inferenzforschung profitiert. So können sowohl Merkmale der globalen Textkohärenz als auch situativ-kontextuelle Hinweise aus dieser Perspektive zusammengeführt werden, wodurch auch ‘themenlose’ oder ‘themenarme’ Scritte auf ihre Funktionalität hin gedeutet werden können. Führt man Ansätze der Frame-Semantik mit Erkenntnissen der Inferenztheorie und der Konstruktionsgrammatik zusammen, so lassen sich bspw. syntaktische Auffälligkeiten erklären, die in anderen Ansätze nur dürftig erklärbar wären.

Ebenso zählt neben der Information zu dieser Kategorie die Nachricht i. S. v. Textfunktion, also die Gesamtbotschaft der Scritta, welche in dieser Arbeit als zentrale Fragestellung für die SM interpretiert werden soll.

4. Multimodales Analyse-Modell

Die Auslegung der Kategorien von Jakobsons Modell hinsichtlich der Scritte Murali als Kommunikationsform, war ein vorbereitender Schritt, um anhand der Empirie die Kommunikationsfunktionen und –strategien analysieren zu können. Es stellt sich nun die Frage nach einem analytischen Zugang zu den SM-Texten. Ausgangssituation ist dabei, dass das vorliegende Sprachmaterial aus Fotografien von Scritte in bestimmten Gebieten besteht.102 Der Zugang zur Kommunikationsform geschieht also aus heuristischer und schließlich interpretierender Perspektive – ähnlich wie dies auch in der kommunikativen Wirklichkeit der Fall ist, d. h., anonyme Produzenten erstellen Texte, die von anonymen Betrachtern rezipiert werden (können). Aus Sicht der Rezipienten werde ich dann die Funktionalitäten rekonstruieren, ich werde also genau das (versuchen zu) tun, was allgemein die Betrachter der Scritte Murali versuchen zu tun – ich möchte verstehen, wer hinter der Botschaft steht, was die Botschaft ist, wozu diese Scritte erstellt wurden usw. Dies kann in Bezug auf bspw. die Produzenten oder das Hintergrundwissen der Rezipienten offensichtlich nur hypothesenhaft geschehen. Für ein Analyse-Instrument sind demnach Ansätze sinnvoll, die sowohl mit den bisherigen formalen Aspekten kompatibel sind als auch auf dem Hintergrund der analytischen Basiskategorien Sinn ergeben. Idealerweise muss ein solches Analyse-Modell all jene Hinweisquellen erfassen, anhand deren die Rezipienten die eben genannten Fragen – und somit letztendlich die Funktionalität der SM – beantworten können.

Ich habe Scritte Murali als multimodale Texte beschrieben (s. o.) und dies führt zur weiteren Annahme, dass ihre „musterhafte Inhalts- und Handlungsstruktur sowie Verwendungsweisen der Modalitäten typisierten Gebrauchssituationen entspringen und bestimmte kommunikative Funktionen erlauben“ (Stöckl 2016, 20). Scritte werden also in Hinblick auf bestimmte Typen erstellt und verstanden. Sie sind dabei abhängig von ihrer medial-materiellen Beschaffenheit, wobei die Kommunikationsfunktionen nicht festgelegt sind (vgl. Brinker u.a. 2018, 142). Zentral für einen analytischen Zugang zu den Texten ist, „dass Produzenten wie Rezipienten ein klares Bewusstsein davon benötigen, welchen Typ oder welche Sorte Text sie gestalten bzw. verstehen“ (Stöckl 2016, 20). Das bedeutet, wie Stöckl festhält, dass Textproduzenten und –empfänger „sicher gehen [müssen], dass ein multimodaler Text so beschaffen ist, dass er als Exemplar eines Typs oder einer Sorte erkannt und gedeutet wird“ (2016, 20).

Typisiertheit und Musterhaftigkeit in Abhängigkeit von situationell-kontextuellen, inhaltlichen, medialen oder funktionalen Aspekten, werden in Ansätzen behandelt, die sich mit ‘Texttypen’ oder ‘Textsorten’ sowie ‘Genres’ beschäftigen (vgl. Stöckl 2016, 20). Textsorten oder Genres werden in diesem Kontext als komplexe Kommunikations-Phänomene verstanden, die „aufgrund kommunikativer Bedürfnisse entstanden sind“ (Brinker u.a. 2018, 133), wobei dann die Einzeltexte/einzelnen Scritte Exemplare einer Textsorte darstellen (vgl. Brinker u.a. 2018, 133). Eine für diese Arbeit zweckmäßige Lesart des Begriffs Genre findet man im Bereich der Rhetorical Genre Studies, welche Genres als sozio-kognitive Kategorien fassen (vgl. Bawarshi/Reiff 2010, 78). Carolyn Miller beschreibt diese Kategorie folgendermaßen:

Genre refers to a conventional category of discourse based in large-scale typification of rhetorical action; as action, it acquires meaning from situation and from the social context in which that situation arose.(Miller 1984, 163)

Konventionalität, Typisierungsaspekte sowie situationelle und soziale Kontexte sind demnach wesentliche Faktoren für Genres. Bawarshi und Reiff, die Genres zusammenfassend „as typified ways of acting within recurrent situations, and as cultural artifacts that can tell us things about how a particular culture configures situations and ways of acting“ (2010, 78) beschreiben, vertiefen diese Annahmen, indem sie an die Ideen von Miller anknüpfen und sich auf Aussagen von Berkenkotter und Huckin (1993) beziehen (vgl. 2010, 78-80): Genres sind Rhetorik-Formen, die Handlungen und Praktiken normalisieren, indem sie Gemeinschaftsmitglieder befähigen an diesen Handlungen und Praktiken teilzunehmen und zwar „in fairly predictable, familiar ways in order to get things done“ (Bawarshi/Reiff 2010, 79).103 Trotz ihrer Konventionalität und Vorhersehbarkeit („fairly predictable“) sind es gleichzeitig dynamische Formen, weil sie an Nutzungsbedingungen gebunden sind, die sich ständig verändern können. Genres müssen sich an diese Veränderungen der Nutzungsbedingungen anpassen, wenn sie nicht obsolet werden wollen. Weiter müssen Genres fähig sein, sich an Variation anzupassen, nicht nur wegen möglicher Veränderungen im Bereich der Nutzungskonditionen, sondern auch, weil sie auf die „individually formed inclinations and dispositions“ (Bawarshi/Reiff 2010, 79) der Nutzer reagieren müssen, d. h. auf das, was Pierre Bourdieu als Habitus bezeichnet. Um zweckgerecht zu funktionieren, oszillieren Genres also zwischen Stabilität und Veränderung, dynamisiert durch sozial geschaffenem und geteiltem Weltwissen und individuell geformtem Wissen der Aktanten. Bawarshi und Reiff deuten Genres schließlich im Sinne der Situated Cognition, wonach das Genre-Wissen in enger Verbindung mit prozeduralem Wissen steht, da „how we think and how we know are related to one another“ (2010, 79). Auf Basis von prozeduralem sowie Hintergrundwissen (sowohl „content knowledge“ (2010, 80) als auch geteiltem Wissen) können die Akteure nicht nur an der Kommunikation teilnehmen, sondern auch an den Normen, Ideologien, sozialen Ontologien usw. einer Gemeinschaft/sozialen Gruppe (vgl. 2010, 80).104

Die Idee der sozio-kognitiven Sinnstiftung verfolgt auch Stine Lomborg, die Genres als „socio-cognitive devices for sense-making in everyday life“ begreift (2014, 45). Für Lomborg funktionieren Genres auf drei Ebenen (vgl. 2014 und Stöckl 2016, 21): aus pragmatischer Perspektive, da sie musterhafte Sequenzen kommunikativer Handlungen repräsentieren, auf kognitiver Ebene, weil sie musterhaft konfigurierte Wissensbestände darstellen und schließlich erscheinen sie in sozialer Hinsicht als semiotische Einheiten, die situationell und kontextuell variabel realisiert werden können. Dabei wird ein, für diese Arbeit essentieller, Punkt akzentuiert und zwar die Musterhaftigkeit, wobei sich die Aktanten an „normative orientations within a social situation“ (Lomborg 2014, 46) halten, die Realisierungen der Einzeltexte aber trotzdem variabel und individuell gestaltet werden können. Musterhaftigkeit oder Prototypikalität scheint also ein entscheidendes Moment zu sein.

Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass es sich bei Genres um strukturierte Komplexe handelt, in dem Sinne, dass die Einzeltexte als Typ-Exemplare eines Genres auftreten, wie ich dies bereits mit Brinker (s. o.) angedeutet habe (vgl. Schulze 2018, 168). Dabei haben Genres an sich keine Bedeutung, sondern generieren diese bspw. aus der Textoberfläche der (Einzel-) Texte, den Handlungen und ihrer Teilnehmer sowie der Situation und den kontextuellen Umständen (vgl. Schulze 2018, 170).
Aufgrund ihrer Komplexität, können Textsorten oder Genres nach verschiedenen Dimensionen gruppiert werden, abhängig vom Forschungsziel, aber auch rein intuitiv, wie Stöckl bemerkt – man denke etwa an die verschiedenen Bezeichnungen für (multimodale) Texte: „z. B. Live-Ticker (Situation), Expertenrunde (Kontext), Kochshow (Inhalt), Radio-Interview (Medium), Infografik (Funktion/Modalitat)“ (2016, 20). Genres werden also mit unterschiedlichen globalen Konzepten verbunden (vgl. Schulze 2018, 170). Welche Dimensionen müssen nun berücksichtigt werden? Stöckl nennt folgende (flexibel spezifizierbaren) Grunddimensionen (2016, 22): Situation und Kontext, (funktionale) Handlung und Form (in Bezug auf Struktur, Gestaltung, Formulierung usw.). Auch Schmitz bemerkt, dass die Wahl der Dimensionen abhängig ist von „Zweck und Erkenntnissinteresse“ und außer Textfunktion und Themenspezifik auch Verwendungsdomäne, Medium, Material oder weiteres umfassen kann (2016, 338-339). Laut Muntigl werden „Genres nicht nur von der Phonologie und Graphematik, der Grammatik und Semantik konstruiert […], sondern auch von einer Reihe multi-modaler (visueller) Ressourcen“ (2011, 333). Es ist also plausibel, die Dimensionen so zu wählen, dass deutlich wird, „wie Genres als multi-modaler Prozess entstehen“ (Muntigl 2011, 333). Nach welcher Dimension die Genres der Scritte Murali gruppiert werden und welche Rolle das Konzept der Prototypikalität einnimmt, möchte ich in den nachfolgenden Kapiteln diskutieren.

4.1. Theoretische Grundlagen der Genre-Prototypen

Um Missverständnisse zu vermeiden, müssen die Konzepte ‘Prototypikalität’ und ‘Genre’, wie sie im Kontext dieser Arbeit verstanden und verwendet werden, klar definiert werden, da sie den Rahmen für das Analyse-Tool geben.105

Wie oben erwähnt, definiere ich Scritte Murali als transgressive, visuell wahrnehmbare und medial bedingte Kommunikationsform im öffentlichen Raum, die in Form von klar abgegrenzten, multimodalen Texten erscheint, wobei Schriftsprache typischerweise als dominantes Zeichensystem auftritt. Die Einzeltexte oder Einzel-Scritte verbinden sich unter verschiedenen Gesichtspunkten zu Genres. Basierend auf den Ausführungen zu Beginn des Kapitels , verstehe ich Genres hier als komplexe, semiotische Textphänomene, die auf Basis von Wissensbeständen über typisierte Aktionen verstanden und produziert werden. Genres sind strukturierte, sozio-kognitive Komplexe, die in direkter Abhängigkeit von Situation und ihrer sozial-kontextuellen Einbettung stehen. Dabei sind sie konventionalisiert und basieren auf individuell geformtem und sozial geteiltem Wissen von Gemeinschaftsmitgliedern. Dieses Wissen betrifft mehrere Ebenen, da neben Sprach- und Weltwissen auch prozedurales Wissen bei Typisierungsprozessen, wie auch bei Erwartungs- und/oder Produktionsprozessen, eine Rolle spielt. Die Typisierung der Kommunikationsteilnehmer beruht v. a. auf drei, miteinander korrelierenden Quellen von Musterhinweisen (vgl. Kesselheim 2011, 339-340 und Stöckl 2016, 20): erstens Hinweise bezüglich der Strukturen und Verwendungsweisen von Zeichenmodalitäten und dabei besonders der Sprache, zweitens in Bezug auf die Wahrnehmung von weiteren textuellen, kontextuellen und situationellen Aspekten sowie drittens Erfahrungswissen zu textuellen Mustern und ihrer Verwendung. Die Polydimensionalität von Genres erlaubt nicht nur eine Betrachtung des Textphänomens aus verschiedenen Perspektiven, sondern lässt eine variable Gewichtung der Merkmale innerhalb der Dimensionen zu. SM-Genres haben musterhaften, prototypischen Charakter, der als Orientierungsrahmen für die Textnutzer dient, sowohl was Rezeptions-Erwartung, Produktion und allgemein das Verstehen betrifft (vgl. Sandig 2000 und Stöckl 2016, 21). Sie wirken innerhalb von sozialen Strukturen stabilisierend und sind gleichzeitig responsiv in Bezug auf (verschiedenste) Veränderungen und individuelle Varianten von Einzelnutzern. Die Einzeltexte sind also Exemplare eines Genres und können – abhängig von der für die Analyse gewählten Dimension – als eher peripherer oder eher zentraler Vertreter dieses Genres gelten.

Die Genres, die innerhalb der SM-Texte identifiziert werden können, weisen eine interne, ‘typische’ Struktur auf, welche in den Typisierungsprozessen als Orientierungsrahmen dient. Diese wurde bisher wiederholt als prototypisch oder musterhaft bezeichnet. Das Konzept der Prototypikalität baut in erster Linie auf die kognitionspsychologischen Arbeiten von Eleanor Rosch seit den frühen 1970er Jahren auf und wurde seitdem in verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen behandelt. Dabei wird oft übersehen, dass sich die Arbeiten von Rosch selber von den ersten, v. a. anthropologisch und psychologisch geprägten Ansätzen im Laufe der Jahre teils signifikant geändert haben und in den unterschiedlichen Ausführungen disparate Feinheiten aufweisen. Mangasser-Wahl identifiziert drei Entwicklungsphasen der Prototypentheorie bei Eleanor Rosch zwischen 1971 und 1988 (vgl. Mangasser-Wahl 2000b) und Georges Kleiber unterscheidet in seiner ausführlichen Diskussion zwischen einer „Standardversion“ und einer „erweiterten Version“ der Prototypensematik (vgl. Kleiber 1998). Er zeigt,

daß mehrere Konzeptionen der Prototypensemantik existieren, die sich erheblich unterscheiden: Einerseits gibt es Definitionsschwankungen innerhalb der Standardversion, andererseits wird mittels des Begriffs der Familienähnlichkeit der Übergang zur erweiterten Version vollzogen, die letzten Endes zu einer vielschichtigen Betrachtungsweise der Prototypen führt, in der sowohl der Prototypen- als auch der Kategorienbegriff nicht mehr genau denselben Bereich abdecken wie in der Standardversion.(Herv. im Orig.; Kleiber 1998, 8-9)

Hans-Jörg Schmid fasst zusammen, dass ‘eine’ Prototypentheorie eigentlich gar nicht existiert, sondern dass es sich hierbei um „ein Konglomerat von Ideen einer Vielzahl von Psychologen und Linguisten“ handelt (2000, 33). Wie Geeraerts treffend zusammenfasst, ist Prototypikalität also an sich schon ein prototypisches Konzept (vgl. 1989, 592), das unterschiedlich definiert werden und verschiedene Grundlagen haben kann, abhängig von Untersuchungsgegenstand und –ziel, den zugrunde liegenden theoretischen Modellen und Ansätzen sowie den zu untersuchenden Kategorien (vgl. Taylor 2015, 562-563). Es gilt also die spezifische Lesart von Prototypikalität bzw. Typikalität für die vorliegende Arbeit zu beschreiben und sie mit dem Untersuchungsgegenstand in Verbindung zu bringen. Ich orientiere mich dabei grundlegend an den Kernthesen, wie sie v. a. in den Ausführungen zur „Standardversion“ bei Kleiber (1998)106 vorkommen. Prototypikalität wird hier von folgenden Bedingungen107 bestimmt, welche ich im Anschluss speziell auf die Scritte Murali beziehen möchte:

  1. Kategorien können über unscharfe Grenzen verfügen und die Zugehörigkeit eines Mitgliedes zu einer Kategorie ist nicht binär (entweder-oder), sondern eher graduell (mehr-oder-weniger).
  2. Kategorien müssen nicht über die „Konjunktion notwendiger und hinreichender Bedingungen“ definiert werden (Kleiber 1998, 35), können aber anhand ihrer Merkmale beschrieben werden, wobei diese nicht alle zwingend vorliegen müssen. Eine Verbindung der Vertreter innerhalb einer Kategorie ohne gemeinsame Merkmale erfolgt über die Familienähnlichkeit.
  3. Den Merkmalen liegt eine Hierarchie zugrunde, d. h., sie sind zueinander unterschiedlich gewichtet, und sie treffen graduell (mehr-oder-weniger) auf Kategoriemitglieder zu.
  4. Prototypen sind die typischsten Vertreter einer Kategorie. Kategoriemitglieder werden aufgrund ihrer Ähnlichkeit zu diesem Prototypen zu zentraleren – den Prototypen ähnlicheren – oder peripheren Vertretern der Kategorie. Die Mitglieder ordnen sich also in einer Art Rangfolge (von weniger guten bis bestes Exemplar) um den Prototypen an.
  5. Es besteht eine interkategorielle Hierarchie, wobei die Kategorien der sog. Basisebene innerhalb der Kategorisierung priorisiert werden, da sie am merkmals- und informationsreichsten ist.

Wie bereits erwähnt, nehme ich an, dass sich Produzenten bei der Erstellung und Rezipienten beim Verstehen der Texte an Prototypen bestimmter Genres orientieren. Genres sind dann innerhalb der Kommunikationsform Scritte Murali als Kategorien zu verstehen, die über Prototypen verfügen, und die nach verschiedenen Dimensionen (s. o.) gruppiert werden können. Eine (logische) Möglichkeit wäre sie z. B. nach inhaltlichen Thematiken (dazu im nächsten Kapitel mehr) zu ordnen, also Scritte mit Inhalten zu Liebe, Politik, Emotionalem usw. Die Einzeltexte sind als Vertreter oder Mitglieder dieser Genres oder Kategorien (Liebes-Scritte, Politik-Scritte usw.) zu sehen, wobei die Struktur der Genres nach dem Konzept der Typikalität108 erfolgt. Wie sich auf Basis dieser Annahme, die oben genannten Thesen in Bezug auf die Scritte Murali-Genres konkretisieren, möchte ich nachfolgend kurz konkretisieren.

4.1.1. Unscharfe Grenzen und graduelle Zugehörigkeit

Rosch postuliert in ihren Arbeiten der zweiten Schaffensphase, dass

categories are not […] logical, bounded entities, membership in which is defined by an item’s possession of a simple set of criterial features, in which all instances possessing the criterial attributes have a full and equal degree of membership.(Rosch 1975b, 544)

Kategorie-Grenzen sind also nicht klar definierbar, woraus folgt, dass eine exakte Bestimmung der Zugehörigkeit eines (peripheren) Vertreters zu einer Kategorie nicht immer möglich ist und nicht immer klar ist, wo eine Kategorie aufhört und die nächste beginnt (vgl. Kleiber 1998, 35).109 Kleiber begründet diese Konzeption der unscharfen Kategoriegrenzen damit, dass die Zugehörigkeit eines Exemplars zu einer Kategorie mit dessen Repräsentativität gleichgesetzt wird: „Der Repräsentativitätsgrad wird also als Zugehörigkeitsgrad interpretiert, und der Prototyp erscheint aufgrund seines Status als bester Vertreter auch als das Exemplar mit dem höchsten Zugehörigkeitsgrad (was sich bereits aus der Anordnung des Prototyps im Zentrum der Kategorie erkennen ließ)“ (1998, 34). Periphere Vertreter sind also weniger repräsentativ und auch weniger genau bestimmt, im Vergleich zu zentraler(en) Vertretern.

George Lakoff vertrat in diesem Zusammenhang die These, dass Kategoriezugehörigkeit nicht binär (wahr oder falsch), sondern graduell sei, da die Frage, ob ein Element zu einer Kategorie gehört, nicht einfach mit ja oder nein beantwortet werden kann, sondern es bestehen Abstufungen (vgl. 1973). Dies verdeutlichte er anhand von Satz-Beispielen (der Art: Typ X ist ein Vogel), die er gradiert mit wahr bis absolut falsch beantwortet110:

  1. A robin is a bird. (true)
  2. A chicken is a bird. (less true than a)
  3. A penguin is a bird. (less true than b)
  4. A bat is a bird. (false, or at least very far from true)
  5. A cow is a bird. (absolutely false) (Lakoff 1973, 460)

Dieses Beispiel soll die Annahme verdeutlichen, dass es keine klar definierten Kategorie-Grenzen gibt, weshalb man auf sog. fuzzy sets, also „unscharfe Mengen“, wie es bei Kleiber heißt, zurückgreift, „um die Vagheit der Kategorien und Begriffe zu erfassen“ (Kleiber 1998, 35).111

Wie Mangasser-Wahl zusammenfasst, ist nach Rosch diese kategorielle Unschärfe möglich, aber nicht zwingend vorhanden (vgl. 1996, 88), und liegt möglicherweise daran, dass periphere Mitglieder „mehr Eigenschaften mit Mitgliedern angrenzender Kategorien teilen, als dies für prototypische Mitglieder zutrifft“ (1996, 88). Zentralere, prototypische Vertreter dagegen verfügen über eine große (oder die größte) Anzahl von „kategoriespezifische[n] Eigenschaften“ (Mangasser-Wahl 1996, 88).

Speziell auf die Scritte Murali bezogen, bedeutet dies, dass die Genres – die sich um bestimmte Prototypen herum positionieren – über keine klar definierten Grenzen verfügen, weshalb Einzeltexte möglicherweise mehr als einer Kategorie zugeordnet werden können oder es nicht ganz klar ist, zu welchem Genre die Scritta zugehörig ist. Die Zugehörigkeit ist dabei eben graduell, was dazu führt, dass ein Einzeltext bspw. über verschiedene Grade an Zugehörigkeit (vgl. die Wahrheitsabstufungen bei Lakoff oben) in mehr als einer Kategorie verfügen kann. Abhängig von der Anzahl (und Qualität, s. u.) der kategoriespezifischen Attribute die vorliegen, liegt die Scritta näher am zentralen Prototypen oder ist weiter von ihm entfernt, also peripher. Teilen die Einzeltexte überdies Attribute anderer Genres, so können sie eventuell auch mehr als einer Kategorie zugeordnet werden.

Diese Thesen sollen anhand einiger Beispiele verdeutlicht werden.

Laziale albanese ASR (ScriMuRo)

Laziale albanese ASR (ScriMuRo)

Zwei mögliche Genres, die für die Scritta in Abb. 33 gelten, wären Politik und Ultras112. Auf eine Scritta aus dem Ultras-Bereich sind wir schon in Abb. 26 gestoßen, wobei dort die Hinweise oder Eigenschaften – blaue Schrift, Typographie, Lexeme, Standort – auf Produzenten aus dem Bereich der Ultras-Gruppierungen des S.S. Lazio verweisen. In Abbildung 33 sind bestimmte Eigenschaften erkennbar, die ebenfalls auf Produzenten aus dem Ultras Bereich (diesmal zugehörig zur A.S. Rom) hindeuten. Hinsichtlich der Frage nach der Typikalität dieser Scritta für ein (oder eben mehrere) Genre(s) und damit einhergehend in Bezug auf die unscharfen Grenzen und der graduellen Zugehörigkeit, ist nun entscheidend, dass erstens neben den Attributen, die auf die Zugehörigkeit zu einem Ultras-Genre hinweisen, auch Merkmale erkennbar sind, die spezifisch für das Politik-Genre sind, und zweitens, dass die Attribute im Vergleich zu einem Prototypen graduell einzuordnen sind.113 Für ein Genre Ultras sprechen neben den subsidiären Merkmalen der roten Farbe, in Anlehnung an die Vereinsfarben des A.S. Rom, und der speziellen Typographie, v. a. die verwendeten Token Laziale und ASR (A.S. Roma), wobei letzteres quasi als Unterschrift der Scritta zu deuten ist, um anzugeben, wer diese Scritta angefertigt hat114 und wer diese Aussage (Laziale albanese) zu verantworten hat. Für die Zugehörigkeit zu einem Genre Politik spricht die Verwendung des Token Albanese bzw. die syntaktische Verbindung Laziale + Albanese115. Diese Konstruktion kann intuitiv dahingehend interpretiert werden, dass jemand – in diesem Fall recht explizit markiert, nämlich die Ultras des A.S. Rom – jemand anderen – nämlich die Laziali, also Anhänger des S.S. Lazio – als Albaner bezeichnet. Im Kontext der Ultras-Rivalitäten kann dies nur negativ gedeutet werden (im Sinne einer Beleidigung), woraus sich schließen lässt, dass es sich um Fremdenfeindlichkeit handeln muss. Betrachtet man Scritte des rechtsextremen Politik-Genres (siehe DEFAULT und DEFAULT), so tritt Fremdenfeindlichkeit relativ frequent auf und kann durch eine Konstruktion, wie sie hier vorliegt, ausgedrückt werden. Wir nehmen also zunächst an, dass diese Art von Konstruktion und ihre Funktion ein typisches Merkmal für das Politik-Genre ist.

Das Konzept der graduellen Zugehörigkeit, bezogen auf die vorliegende Scritta (Abb. 33), ergibt sich nun aus dem Vergleich mit einem Genre-Prototypen anhand der gegebenen Attribute. Es wird also gefragt, über wie viele der genrespezifischen Attribute die Scritta verfügt und zwar sowohl in Bezug auf das Genre Politik als auch auf jenes Ultras? An dieser Stelle haben wir noch keine Genre-Prototypen erfasst, um die Scritta vergleichen zu können, aber allein die Tatsache, dass die Scritta Merkmale zweier Genres teilt, lässt vermuten, dass sie nicht ganz nah am Prototypen (weder Politik, noch Ultras) liegen kann, der Zugehörigkeitsgrad also geringer ist, im Vergleich zum Prototypen. Eine binäre Zuordnung ist also nicht möglich – die Scritta ist weder ausschließlich ein Exemplar des Genres Politik, noch des Genres Ultras. Diese Grundauffassung hat, wie oben bereits erwähnt, zur Folge, dass auch die Genres der Scritte Murali nicht mehr scharf voneinander getrennt sind, man also nicht genau bestimmen kann, wo ein Genre aufhört und ein anderes beginnt.

Würde man bspw. die obige Scritta (Abb. 33) mit Scritte wie in Abb. 26 und Abb. 27 vergleichen, so würde die Zugehörigkeit zum Genre Ultras bei Abb. 26 als ‘wahr’, für die Scritta in Abb. 33 mit ‘weniger wahr als für Abb. 26’ und schließlich ‘absolut falsch’ für die Scritta in Abb. 33 zutreffen. Bei den Produktions- und Rezeptionsprozessen der Teilnehmer in Bezug der Scritte Murali, sind es weniger die Kategorien oder Genres und ihre Grenzen, die als Orientierungspunkt dienen, sondern es sind die zentralen, ‘besten’ Vertreter der Genres (die Prototypen), mit denen die Teilnehmer die Einzeltexte vergleichen, um letztere dann zu kategorisieren.

Andrea Volpe duce 666 (ScriMuRo)

Andrea Volpe duce 666 (ScriMuRo)

Die Scritta aus Abb. 34 lässt sich aufgrund verschiedener, kategoriespezifischer Hinweise zu einem Genre Religion (hier konkret Satanismus) zuordnen: die verwendeten Symbole (auf dem Kopf stehende Kreuze links und rechts von der Schrift sowie oben rechts in Kombination mit einem Kreis), die Verwendung der Zahl 666 (gemeinhin bekannt als ‘Zahl des Tieres’ oder ‘Zahl des Antichristen’ und ein klarer Verweis auf Satanismus; vgl. 666-Wikipedia) und der Name Andrea Volpe116. Jedoch gibt es zwei Hinweisquellen, die auch eine Verbindung zu rechtsextremen Gedankengut – und damit zum Genre Politik – vermuten lässt. Zunächst verweist die Verwendung des Lexems duce, also ‘Führer’, und zwar in syntaktischer Verbindung mit dem Namen Andrea Volpe117 (etwa im Sinne von ‘Andrea Volpe ist der/unser Führer’ oder ‘Andrea Volpe soll/sollte der/unser Führer sein’), auf das Politik-Genre, da dieses Lexem (wie man in den Korpus-Auswertungen sehen wird) in dieser Konstruktion typisch für diesen Bereich ist. Weniger eindeutig verweist das zweite Merkmal auf die Kategorie Politik: eines der auf dem Kopf stehenden Kreuze ist in Kombination mit einem Kreis dargestellt, wobei die Linien des Kreuzes über den Kreis hinaus reichen. Damit wird es einem sog. Keltischen Kreuz ähnlich, welches sich lediglich dadurch unterscheidet, dass der Punkt an dem sich die beiden Kreuzlinien treffen beim Keltischen Kreuz relativ genau in der Mitte des Kreises liegt (in recht ausgearbeiteter Form in der Paolo di Nella–Scritta in Abb. 29 zu sehen). Eine eindeutige bzw. sich gegenseitig ausschließende Kategorie-Zugehörigkeit ist also nicht möglich, sondern kann nur graduell geschehen.

Laziale ebreo (ScriMuRo)

Laziale ebreo (ScriMuRo)

Die kurze Scritta LAZIALE EBREO in Abb. 35 verdeutlicht besonders gut das Konzept der kategoriellen Unschärfe. Die einzigen zwei Token verweisen jeweils auf eine Zugehörigkeit zu einem Genre (Laziale zu Ultras, Ebreo zu Politik), die syntaktische Konstruktion dagegen wäre in ihrer Grundstruktur (Eigenname + Substantiv) sogar für beide Genres ein typisches Merkmal. Die Scritta ist daher nicht eindeutig zu einem der beiden Genres zu zuordnen.118 Entscheidend ist hier, dass der Text nicht nur (typische) Merkmale aus zwei Genres enthält, sondern gleichzeitig nur wenige Merkmale mit den Prototypen der beiden Genres teilt, nämlich lediglich die spezifische Lexik und teilweise die typische Konstruktion (also beides Merkmale aus der Basiskategorie MitteilungJAK, auf paradigmatischer und syntagmatischer Ebene).

4.1.2. Merkmale nicht zwingend und Familienähnlichkeit

Texte der Scritte Murali verfügen über bestimmte Attribute – z. B. die Verwendung bestimmter semiotischer Ressourcen, syntagmatische und paradigmatische Merkmale oder Ortsdaten – welche vom Produzenten (bewusst) gewählt wurden und den Rezipienten dazu dienen (können), die Texte zu kategorisieren und auf ihre Funktion(en) hin zu interpretieren. Diese Merkmale müssen jedoch nicht zwingend vorliegen, damit der Text einem Genre zugeordnet werden kann. Dass Kategorien nicht über die Verbindung von notwendigen und hinreichenden Bedingungen definiert werden müssen, lässt sich, wie Kleiber bemerkt, logisch von den eben getroffenen Aussagen zur ersten Bedingung (siehe DEFAULT) hinsichtlich der unscharfen Grenzen ableiten:

Wenn der Repräsentativitätsgrad dem Zugehörigkeitsgrad entspricht, wenn also die Kategorien unscharf sind, so können die in einer Kategorie zusammengefassten Exemplare nicht aufgrund der Konjunktion notwendiger und hinreichender Bedingungen zu dieser Kategorie gehören.(Kleiber 1998, 35)

Das bedeutet, dass z. B. bei den Scritte aus dem Bereich Liebe ein Merkmal die Verwendung von Herzen (♥) sein kann, dies aber nicht bei allen Liebes-Scritte der Fall sein muss. Anders als beim Modell der notwendigen und hinreichenden Bedingungen, wie Kleiber es nennt (vgl. 1998), ist die Zugehörigkeit eines Exemplars (in diesem Fall einer Scritta) zu einer Kategorie nicht mehr davon abhängig, ob ein bestimmtes Merkmal zutrifft oder nicht. Rosch und Mervis sprechen von einem „all-or-none phenomenon“ innerhalb der digitalen Merkmalsmodelle der Kategorisierung, welche Kategorien als „logical bounded entities“ (1975, 573) verstehen und die Kategoriezugehörigkeit eines Vertreters an dessen „possession of a simple set of criterial features, in which all instances possessing the criterial attributes have a full and equal degree of membership“ (1975, 573-574). Die bisher ausgeführten Annahmen lassen sich offensichtlich nicht mit dieser von Charles Fillmore als „checklist theory of meaning“ (vgl. 1975) bezeichnete Auffassung in Einklang bringen. Es gibt kein minimales Set von zwingend vorhandenen, distinkten Merkmalen, anhand welchem die Teilnehmer einzelne Scritte den Kategorien zuordnen. Dass Exemplare zur selben Kategorie gehören können, obwohl sie nicht alle über die gleichen Merkmale verfügen, erklären Rosch und Mervis (vgl. 1975) mit dem Prinzip der Familienähnlichkeiten von Ludwig Wittgenstein, das ursprünglich als Erklärung von Wortbedeutungen entworfen wurde (vgl. 1977) und auf das ich weiter oben (Kapitel und Kapitel ) bereits kurz eingegangen bin:119

Wittgenstein (1953) argued that the referents of a word need not have common elements in order for the word to be understood and used in the normal functioning of language. He suggested that, rather, a family resemblance might be what linked the various referents of a word. A family resemblance relationship consists of a set of items of the form AB, BC, CD, DE. That is, each item has at least one, and probably several, elements in common with one or more other items, but no, or few, elements are common to all items.(Rosch/Mervis 1975, 574-575)

Dieses Erklärungsprinzip lässt sich problemlos mit der grundlegenden These von Rosch, dass Kategorien in einen zentralen, prototypischen und periphere, nicht-prototypische Vertreter strukturiert sind, verbinden (vgl. Kleiber 1998, 37) und Rosch und Mervis konnten empirisch belegen, dass „Prototypen die innerhalb von Kategorien vorhandene Familienähnlichkeit maximieren“ (Mangasser-Wahl 1996, 91). Innerhalb der Standardversion der Prototypentheorie erklärt Wittgensteins Prinzip vor allem, warum Kategoriemitglieder weder arbiträr noch über das Vorhandensein distinkter Merkmale bei allen Mitgliedern gruppiert werden. Der Zusammenhalt entsteht durch Ähnlichkeiten zwischen den Vertretern deren Attribute sich überschneiden und zwei oder mehreren Mitgliedern gemein sind, sprich, jedes Mitglied hat mindestens eine, wahrscheinlich aber mehrere, Eigenschaft(en) mit einem oder mehreren anderen Vertretern der gleichen Kategorie gemeinsam (vgl. Rosch/Mervis 1975, 575; Kleiber 1998, 36-37). Die Verbindung über Familienähnlichkeiten erklärt dann speziell für solche Fälle, bei denen große Unterschiede zwischen zwei oder mehreren Exemplaren besteht, warum diese trotzdem zur gleichen Kategorie gehören können. Dies hängt u. a. damit zusammen, dass „solche Vertreter Attribute mit anderen Vertretern teilen, die zwar keine hohe Gewichtung haben, aber trotzdem den Zusammenhalt der Kategorie fördern“ (Schmid 2000, 41) – womit wir beim nächsten, zentralen Punkt angelangt wären: die Gewichtung und Gradierung der Merkmale.

4.1.3. Gewichtung und Gradiertheit der Merkmale

Das Charakteristikum der unscharfen Grenzen und auch der graduellen Zugehörigkeit der Exemplare zu einer Kategorie (siehe DEFAULT) hängt direkt mit quantitativen und qualitativen Maßstäben der Attribute zusammen und spiegelt die gestufte Strukturiertheit der Kategorien120 wieder (vgl. dazu Rosch 1975b und Rosch/Mervis 1975 sowie Mangasser-Wahl 1996, 88). Die Zugehörigkeit zu Kategorien bzw. die zentrale bis periphere Anordnung eines Exemplars innerhalb eines Genres hängt nicht nur von der Quantität der geteilten Attribute zusammen, sondern kann auch durch die Qualität der Merkmale beeinflusst werden (vgl. Mangasser-Wahl 2000b, 96). Neben vielen Merkmalen, können also auch besonders gute oder wichtige Merkmale über den Status eines Exemplars entscheiden. Dies wird bspw. anhand der Symbole bzw. bildgraphischen Zeichen121 deutlich: Die Verwendung von Symbolen allgemein – entscheidend ist dann die Quantität – kann typisch sein, in dem Sinne, dass Prototypen eines Genres die Verwendung von Symbolen als Merkmal in sich tragen und Einzelexemplare u. U. näher am Prototypen liegen, wenn sie auch Symbole darstellen. Entscheidender ist jedoch die Qualität der Symbole und zwar sowohl der semantische Inhalt des Symbols (Wofür steht das Symbol?) als auch die Qualität in Bezug auf die ‘Lesbarkeit’. Je besser das Symbol (wie auch allgemein die verwendeten Zeichen) sichtbar ist und eindeutig als solches erkannt werden kann, desto mehr beeinflussen die Zeichen die Zugehörigkeit und umgekehrt. Angedeutet wurde dies bereits in der Beschreibung zur Scritta in Abb. 34, worin das Symbol rechts oben im Bild sowohl als umgekehrtes Kreuz als auch, in Kombination mit dem Kreis, als abgewandelte Form eines Keltischen Kreuzes gelesen werden kann, wodurch eben auf Satanismus und Rechtsextremismus gedeutet wird. Die Qualität der Zeichen ist dabei durch verschiedene Faktoren bedingt, die vom Produzenten nur zum Teil mit beeinflusst werden können. So liegt es zunächst offensichtlich an den Fähigkeiten des Produzenten, ob die Symbole später erkannt werden oder nicht. Danach spielt die Witterung eine nicht unerhebliche Rolle, da die Zeichen auf diese Weise möglicherweise recht schnell schlechter oder gar nicht mehr erkennbar sind (vgl. dazu auch DEFAULT). Ebenso können die Zeichen teilweise oder komplett entfernt werden und schließlich ist die Lesbarkeit (und damit auch die Qualität) abhängig vom Symbol- bzw. Zeichenwissen der Rezipienten – kennen diese den Inhalt des Symbols nicht, so wird es auch nicht verstanden.

All dies muss der Produzent bedenken, kann diesen Sachverhalt aber auch zu seinem Vorteil nutzen, etwa um Botschaften so zu ‘verschlüsseln’, dass sie nur von einem bestimmten Rezipientenkreis verstanden wird, oder um durch Kombination (wie im Andrea Volpe-Beispiel mit dem Satanisten-Kreuz in Verbindung mit dem Kreis) mehrere Inhalte anzudeuten.

Es muss für den Untersuchungsgegenstand der Scritte Murali weiter zwischen der Qualität der visuellen Sichtbarkeit und der Qualität der semantischen Inhalte unterschieden werden. Wie Mangasser-Wahl (1996, 2000b) zeigt, gilt für Rosch in Bezug auf die semantischen Merkmale das Prinzip der Gradiertheit, parallel zur Struktur der Kategorien allgemein (vgl. Rosch 1973b, Rosch 1975b; sowie die Bemerkungen zu Punkt 4 in Kapitel ). Dabei lässt sich bei Rosch eine dichotome Stufung der attributes erkennen, die zwar nicht explizit ausformuliert ist, von Mangasser-Wahl jedoch herausgestellt wurde (vgl. 1996, 91-92, 2000b, 94-97). So bedeutet die Gradiertheit auf Ebene der Merkmale zum einen, dass diese untereinander „gewichtet“ sind, und zum andern, dass sie intern „gradiert“ sind. Das Gewichten von Attributen untereinander, legt der Merkmalsstruktur von Kategorien demnach eine hierarchische Struktur zugrunde, da es dann wichtigere und weniger wichtige (also qualitativ höher oder niedriger zu wertende) Merkmale gibt. Das Phänomen des ‘Gradierens’ dagegen bezieht sich auf die interne Merkmalsebene, d. h., Merkmale können graduell (mehr oder weniger) auf Exemplare zutreffen.122

Betrachten wir erneut die Scritta Laziale albanese ASR aus Abb. 33, so werden die verschiedenen Rollen der quantitativen und qualitativen für eine Zuordnung evident.
Die Scritta gestaltet sich für den geübten Blick – also für jene Rezipienten, die über das nötige Hintergrundwissen verfügen – in den Bereichen der Typographie und der Farbwahl auffällig. Die rote Schriftfarbe kann auf Ultras des A.S. Rom hinweisen (im Gegensatz zu blauer Farbe für Anhänger des S.S. Lazio), wobei die Qualität (‘Rot’) nur im Verbund mit anderen Attributen, die auf das Genre Ultras verweisen, ihre Bedeutung erhält.123 Eindeutiger, d. h. kategoriespezifischer, ist das Attribut der Typographie, die sich an dem sog. Ultras-liberi-Font (oder fascio-Font)124 orientieren (vgl. UltrasLiberiFont-VICE und Abb. 36).

Ultras Liberi Font (???)

Ultras Liberi Font (UltrasLiberiFont)

In Bezug auf die Qualität lässt sich nun festhalten, dass von den insg. 18 Graphen der Scritta lediglich zwei der acht möglichen (<L>, <A>, <Z>, <I>, <E>, <B>, <N>, <S> und <R>) Schriftzeichen an dem verbreiteten Font orientieren und zwar relativ eindeutig <N> und weniger eindeutig <R>.125 Typischer und damit eindeutiger wäre, wenn auch die Graphen <L>, <A>, <E> und <B> in der Ultras-typischen Typographie vorliegen würden. Die Qualität des Typographie-Attributen ist also relativ niedrig zu werten in Bezug auf ihre Gewichtung beim Zuordnen. Im Vergleich dazu ist die Qualität126 der Typographie der Scritta Un ultras non muore mai Maurizio vive! (Abb. 26) höher, da mehr Graphen (<N>, <R>, <S>, <M>, <!>) in typischer Form abgebildet sind. Von hoher Qualität, weil besonders gut ausgearbeitet, wäre der Striscione in Abb. 37.

Gli amici ti salutano-Scritta in UltrasLiberi Font realisiert (ScriMuRo)

Gli amici ti salutano-Scritta in UltrasLiberi Font realisiert (ScriMuRo)

Als besonders wichtiges Attribut, also qualitativ hoch anzusetzen, sind die Sprachzeichen, wie bereits mehrmals erläutert wurde, und dabei eben v. a. die Lexik.127 Im Konnex mit der Quantität wird die Entscheidung über die Zuordnung stark beeinflusst und so werden Scritte wie Laziale albanese ASR v. a. über die semantischen Inhalte bzw. deren Informationswert der Lexeme und deren Quantität zugeordnet. Zwei von drei Token verweisen eindeutig auf das Genre Ultras, nur eines (und auch nur auf syntaktischer Ebene innerhalb der Konstruktion n + albanese) auf Politik. Diese Asymmetrie zugunsten des Genres Ultras wird dabei nur relativ gering durch andere Attribute verstärkt, da sowohl Qualität als auch Quantität dieser Attribute nicht ausreichend groß sind.

4.1.4. Prototypen als typische Vertreter

Diese Auffassung betrifft neben der generellen Struktur der (Genre-)Prototypen, den Kategorisierungsprozess der Exemplare, wobei in den Punkten 1-3 schon auf einige wichtige Faktoren, die dabei von Belang sind, eingegangen wurde.

Der heutzutage inflationäre Gebrauch des Begriffs Prototyp in verschiedensten Wissenschaftsbereichen, verlangt zunächst eine Definition desselben, wobei bereits klar geworden sein sollte, dass es sich offensichtlich nicht um den alltagssprachlichen Gebrauch des Terminus mit der Bedeutung „[vor der Serienproduktion] zur Erprobung und Weiterentwicklung bestimmte erste Ausführung (von Fahrzeugen, Maschinen o.Ä.)“ (Prototyp-Duden) handelt. Basierend auf ihren ersten Arbeiten (1971, 1972) – damals unter dem Namen Eleanor Rosch Heider – zur kognitiven Bedeutung und Kategorisierung von Fokalfarben und ihren davon abgeleiteten Hypothesen, erwähnt Eleanor Rosch im Jahr 1973 für den Bereich von perzeptuellen Kategorien erstmals die „natural prototypes“ (1973b), deren Konzeption sie anschließend auch auf semantische Kategorien überträgt (vgl. Mangasser-Wahl 1996, 86-87). Ein Prototyp gilt demnach als „bestes Exemplar bzw. Beispiel, bester Vertreter oder zentrales Element einer Kategorie“ (Kleiber 1998, 31), wobei die Exemplare innerhalb einer Kategorie nicht den gleichen Stellenwert haben, sondern als bessere oder schlechtere Vertreter gelten (vgl. Kleiber 1998, 31):

[M]any natural categories are internally structured into a prototype (clearest cases, best examples) of the category with nonprototype members tending towards an order from better to poorer examples.(Rosch 1975b, 544)

Die graduelle Repräsentativität der Vertreter deckt sich also mit der internen Struktur der Kategorien selbst und der Prototyp wird zum Zentrum der Kategorie, um welches sich die einzelnen Vertreter hin anordnen. Dies geschieht in Abhängigkeit von ihrem Repräsentativitätsgrades (siehe Punkt 1 in DEFAULT) und führt dazu, dass wenig repräsentative Exemplare am Rande der Kategorie (also peripher) verortet sind und sich die Vertreter mit steigender Repräsentativität dem zentralen Prototypen annähern (vgl. Kleiber 1998, 34).128

Man muss sich hier bewusst sein, dass Prototypen – also die besten Exemplare – „keine individuelle[n] Exemplar[e]“ sind (Kleiber 1998, 32). Dies liegt auch daran, dass, wenn einzelne Entitäten als Prototypen fungieren würden, keine interindividuelle Stabilität garantiert wäre, d. h. am Beispiel von Kleiber dargestellt, dass eventuell jeder Katzenbesitzer seine eigene Katze als bestes Exemplar für die Kategorie Katze angeben würde (vgl. 1998, 32).129 Kleiber fasst zusammen:

Eine Kategorie ist eine offene, nicht-kontingente Klasse, was zur Herausbildung von besten Exemplaren führt, die ebenfalls nicht-kontingent sind, d. h. zu Unterkategorien bzw. -klassen oder allgemeinen Begriffen. Wenn der Prototyp einen Wert besitzen soll, der auf Kategorieniveau liegt, so muß er den beschränkten und kontingenten Einzelfall übersteigen, den ein Individuum darstellt. Aus diesem Grund zielen auch die Schemata der „besten Exemplare“ nicht darauf ab, ein individuelles Beispiel wiederzugeben, sondern wiederum eine Kategorie, einen „Typ“ zu erfassen.(Kleiber 1998, 33)

Konkret auf die Scritte Murali bezogen, bedeutet dies, dass eine individuelle, tatsächlich vorliegende Scritta nicht als kategorialer Prototyp dienen kann. Der Prozess der Kategorisierung, sprich die Zuordnung der Exemplare zu einer Genre-Kategorie, basiert dabei auf dem Grad der Ähnlichkeit der individuellen Scritta zum nicht-kontingenten Prototyp:

A prototype is a typical instance of a category, and other elements are assimilated to the category on the basis of their perceived resemblence to the prototype; there are degrees of membership based on degrees of similarity.(Herv. SL; Langacker 1987, 371)

Wie bereits erwähnt, steht dieses Konzept im Kontrast zum Modell der notwendigen und hinreichenden Bedingungen (s. o.) und so werden einzelne Scritte nicht kategorisiert, indem einzelne Attribute abgefragt werden, sondern mit einem (imaginären) Prototypen verglichen werden. Die prototypischen Exemplare fungieren dabei als „cognitive reference points“, sprich als kognitive Orientierungspunkte, um die Zugehörigkeit der anderen Vertreter beurteilen zu können (vgl. Rosch 1975b, 544-545). Diese Perspektive impliziert, dass der Kategorisierungsprozess nicht mehr analytisch abläuft, wie bei NHB-Modellen, sondern global (vgl. Kleiber 1998, 38).130

Die Feststellung, dass ein individueller Scritta-Text nicht als Prototyp fungieren kann, führt zur Frage, was denn nun eigentlich ein Prototyp ist und was diese Auffassung für die Scritte Murali bedeutet.131 Ausgangspunkt ist zunächst die Unterscheidung, wie sie Kleiber anstellt, „zwischen dem Objekt bzw. Vertreter der Kategorie (also der Unterkategorie, die das beste Exemplar darstellt) einerseits und der psychischen Repräsentation bzw. der kognitiven Vorstellung dieses Objekts andererseits“ (1998, 40), wodurch der Prototyp als „Bewusstseinsinhalt“ oder kognitive „Repräsentation des besten Exemplars bzw. Objekts“ (Kleiber 1998, 40 und 41) verstanden wird.132 Für die Kommunikationsteilnehmer heißt das, dass der Prototyp eines Scritte Murali-Genres, woran sie sich bei der Kategorisierung orientieren – um letztlich die Funktion der Scritte ‘richtig’ interpretieren zu können –, ein kognitives Bild, eine abstrakte Vorstellung ist, dem keine konkrete Scritta entsprechen muss.

Das Verständnis von Prototypen als kognitive Bewusstseinsinhalte, wirft eine weitere entscheidende Frage auf und zwar nach dem Ursprung des Prototyps, d. h., warum erscheint den Teilnehmern gerade diese oder jene Entität als typischer oder bester Vertreter einer Kategorie und nicht eine andere? Die Antwort auf diese Frage verleiht dem definitorischem Rahmen eine andere Grundlage und ist von zentraler Bedeutung für die Anwendung der Prototypen-Theorie auf den vorliegenden Untersuchungsgegenstand.133
Ein Erklärungsansatz für die Wahl bestimmter Exemplare, basiert auf der wesentlichen Bedeutung der Merkmale innerhalb der Kategorien, wie dies bspw. bei Langackers Zitat (s. o.) der Fall ist. Geht man von diesem Ansatz aus, so müssen logischerweise die typischen Eigenschaften und die Vergleichsprozesse in der Analyse in entsprechendem Umfang berücksichtigt werden, was wiederum die Entscheidung erfordert, was typische Eigenschaften sind (vgl. Kleiber 1998, 42). Ein weiterer – und letztlich der entscheidende – Faktor134, der Prototypen als ‘besten Vertreter’ erfasst, ist die Typizität. Prototypen sind deswegen die besten Exemplare, weil sie die ‘besten’ (im Sinne von ‘typischsten’) Eigenschaften bündeln135 (vgl. Kleiber 1998, 42), wobei wir wieder bei der Frage nach den kategoriespezifischen Merkmalen landen.

Prototypen sind demnach weniger als die besten Vertreter zu sehen, sondern definieren sich „als aus typischen Attributen zusammengesetzte [abstrakte] Entität[en]“ (Kleiber 1998, 43), im Sinne von kognitiven Bewusstseinsinhalten, die auf psychischen Prozessen, wie z. B. Vergleichen, basieren. Anzumerken ist hierbei, dass es nicht falsch ist, Prototypen als ‘beste Exemplare zu bezeichnen, da die kategoriespezifischen Merkmale (welche die Grundlage der Prototypen sind) tatsächlich die Kategorie am besten repräsentieren (vgl. Kleiber 1998, 43). Grundlegend ist, dass man sich der Verfahrensrichtung dieser Lesart bewusst ist, wenn man von besten oder typischen Exemplaren und Prototypen spricht, da sie von der weitverbreiteten – und keineswegs falschen, sondern lediglich in umgekehrter Richtung ablaufenden – Prototypen-Auffassung abweicht: Geht man von Exemplaren als Prototyp aus, wie das bei dem gemeinhin bekannten Standard-Beispiel „Spatz als Prototyp für Vogel“ der Fall ist, leiten sich die typischen Kategorie-Attribute von der kognitiven Repräsentation dieses prototypischen Exemplars ab. Bei Prototypen verstanden als abstrakte Einheiten dagegen, bilden die kategoriespezifischen Merkmale die Basis für die Prototypen, wovon dann z. B. über Vergleichsoperationen festgestellt werden kann, dass ein Spatz ein prototypischer Vogel ist (vgl. Kleiber 1998, 43).

Diese Definition – Prototyp als abstrakte Einheit, welche auf der Bündelung kategoriespezifischer Attribute basiert – lässt sich problemlos mit der Bedingung, dass Prototypen nicht durch individuellen Exemplare verifiziert werden müssen, vereinen. Real vorhandene Scritta-Texte, die besonders nah am abstrakten Prototyp liegen, sind dann selbst nicht die Prototypen, sondern stellen materialisierte „Erscheinungsformen“ des Prototyps dar, über dessen Merkmalskombination sie verfügen (vgl. Kleiber 1998, 44). Diese definitorische Lesart deckt sich aber auch mit oben genannten Bemerkungen zur Gewichtung und Gradierung der Merkmale, da die tatsächlich vorliegenden Scritte nicht zwingend alle Merkmale aufweisen müssen, um zu einer Kategorie zu gehören, sondern die Quantität in Kombination mit der Qualität der Merkmale ist entscheidend, was letztlich auch dazu führen kann, dass Scritte mehreren Kategorien angehören können, wenn ihnen Attribute anderer Kategorien inhärent sind (siehe das Prinzip der unscharfen Grenzen, Punkt 1).136 Schließlich aber ist diese Definition mit dem Erklärungsprinzip der Familienähnlichkeiten (DEFAULT) äußerst kompatibel: die miteinander verwandten, sich überschneidenden Merkmale, welche das Familiennetz bilden, tauchen hier als eben jene typische Merkmale auf, welche den Prototypen ausmachen:

Der Prototyp erscheint nun dort, wo die Überlappung am ausgeprägtesten ist. Die Randphänomene sind diejenigen, die die wenigsten typischen Attribute mit dem Prototyp gemein haben. Der Vergleichsprozeß erscheint dann als ein globaler Vergleich mit dem Prototyp, d. h. mit der Schnittmenge der für die Kategorie typischen Eigenschaften.(Kleiber 1998, 45)

Besonders deutlich wird dies unter Zuhilfenahme des Schemas in Abb. 38, eine Adaption der Zeichnung von Givón (1986, 79).

Schnittmengen Schema nach Givón (???)

Schnittmengen Schema nach Givón (1986, 79)

Der Prototyp wird durch die Schnittmenge (4) aller vier typischen Attribute (A-D) im Zentrum der Zeichnung repräsentiert. Danach nehmen die Merkmals-Kombinationen stufenweise von drei – also drei typische Attribute gemeinsam – bis null ab (Schnittmengen 2 und 3; Attribute A-D). Die real existierenden Scritte Murali-Texte werden nun mit dem Prototypen verglichen und je nachdem, wie viele der Merkmale sie mit diesem teilen, d. h. welcher Schnittmengen-Gruppe sie angehören (2 oder 3 bzw. gar keiner, wenn sie nur über ein Attribut verfügen), stellen sie prototypischere oder peripherere Exemplare dar. Selbst wenn keine Scritta existiert, die 1:1 dem abstrakten Prototypen entspricht, so ordnen sich die real vorhandenen Texte in einer radialen Struktur, um diesen Prototypen an, wodurch eine Rangfolge unter den Scritte entsteht. Es gibt also ‘bessere’ (typische, zentrale) und ‘schlechtere’ (weniger typische, periphere) Exemplare innerhalb der Genrekategorien oder, anders ausgedrückt, die Scritte repräsentieren besser oder schlechter ‘ihr’ Genre. Wie bereits aus dem Schaubild erkennbar ist, gibt es jeweils mehrere Kombinationsmöglichkeiten für die Schnittmengen 2 und 3: AB, BC, CD, DA und ABD, ABC, BCD, CDA. Dies erklärt die Zugehörigkeit von Scritte zum gleichen Genre, obwohl sie nicht alle über die gleichen Attribute verfügen und verdeutlicht die fundamentale Grundlage der Familienähnlichkeiten für die Struktur. Bezüglich der Rangfolge ist in diesem Zusammenhang anzumerken, dass Vertreter, die über Attributskombinationen der ‘Klassen’ 2 und 3 verfügen, nach diesem Schema theoretisch über den gleichen Status innerhalb der Prototypikalitätsskala verfügen. Dabei muss man in der Praxis jedoch bedenken, dass – wie in Punkt 3 erläutert (s. o., DEFAULT) – die Merkmale untereinander gewichtet sind und sie auch graduell auf die Mitglieder zutreffen können. Dadurch verschiebt sich logischerweise die Repräsentativität, wenn bspw. Attribut A charakteristischer ist als Attribut B und Attribut D charakteristischer als B, aber weniger gewichtet als A. Selbst wenn man in solch einem Beispiel ignorieren würde, wie sehr die einzelnen Attribute qualitativ und quantitativ auf die Scritte zutreffen, so wären, allein aufgrund der höheren Gewichtung der Attribute A und D (im Vergleich zu B), Exemplare, die der Schnittmenge AD entsprechen, typischere Vertreter als Exemplare mit der Attributskombination AB.

4.1.5. Interkategorielle Hierarchie und Basisebene

Die fünfte Bedingung, unter welcher hier die Prototypentheorie mit Hinblick auf die spätere Analyse verstanden wird, steht zwar direkt mit den anderen vier Punkten in Verbindung, hebt sich von ihnen jedoch insofern ab, als sie sich auf eine andere Dimension der Kategorisierung bezieht. Punkte 1 bis 4 beziehen sich, wie man sehen konnte, auf die interne Struktur der Kategorien, welche Kleiber als „horizontale Dimension“ bezeichnet – Punkt 5 dagegen betrifft die „vertikale Dimension“ (1998, 30), welche interkategoriale Aspekte zusammenfasst. Beide Dimensionen bzw. die in ihnen angesiedelten Thesen bilden die zwei großen Stützpfeiler der Prototypentheorie nach Rosch und spielen auch für ein Analyse-Modell der Scritte Murali eine zentrale Rolle.

Ausgangspunkt der Bedingung, wie sie für Punkt 5 (s. o.) formuliert wurde, ist, dass Kategorien137 untereinander augenscheinlich hierarchisch organisiert sind. Roger Brown – einer der ersten, der sich mit dieser Fragestellung auseinandersetzten – schrieb in seinem Artikel How shall a thing be called?: „The dog out on the lawn is not only a dog but is also a boxer, a quadruped, an animate being“ (1958, 14). Schnell wird klar, dass die Ausdrücke (dog, boxer, quadruped, animate being) allesamt auf den Hund zutreffen, dabei aber keineswegs synonym verwendbar sind, weil sie sich auf unterschiedlichen Ebenen befinden. Rosch und Kollegen (Rosch/Mervis 1975; Rosch u.a. 1976) konnten in ihren Studien belegen, dass Kategorien tatsächlich in einer Hierarchie angeordnet sind und dabei eine Ebene – die Basisebene – von besonderer Bedeutung (auch für die Prototypentheorie) ist.

Bei Rosch u.a. wird eine Hierarchie auf drei Ebenen138 vorgeschlagen und zwar nach superordinate level (übergeordnete Ebene), basic level (Basisebene) und subordinate level (untergeordnete Ebene). Die Gültigkeit dieser Klassifikation konnte in mehreren Experimenten nachgewiesen werden (vgl. Rosch/Mervis 1975, Rosch u.a. 1976, Rosch 1978). Innerhalb dieser vertikalen Klassifikation, wäre

  • Tier auf der übergeordneten Ebene
  • Hund auf der Basisebene und
  • Boxer auf der untergeordneten Ebene.139

Dies erklärt auch, warum Sprecher in Standardsituationen eher sagen würden „Im Garten ist ein Hund“ und nicht „Im Garten ist ein Lebewesen“ oder „Im Garten ist ein Boxer“ (vgl. Kleiber 1998, 59).

Für den Bereich der Scritte Murali, gehe ich von einer Klassifikation aus, welche Scritte Murali als übergeordnete Kategorie, die einzelnen Genres (bisher exemplarisch nach Thematiken, wie Politik, Liebe, Ultras usw. gruppiert) als Basiskategorien und feinkörnigere Abstufungen wie Rechtsextreme Politik als untergeordnete Kategorie ansetzt.140

Dass Basiskategorien (Objekte der Basisebene) die inklusivsten Kategorien sind und einen privilegierten Status innerhalb der Hierarchie einnehmen, begründen Rosch u.a. mit vier zentralen Eigenschaften, welche gleichzeitig den Charakter der Basisebene wiedergeben (vgl. 1976, 382):

  1. Basisobjekte teilen eine signifikante Zahl an Attributen mit anderen Mitgliedern der selben Kategorie.
  2. Sie verfügen über ähnliche motorische Programme (motor programs),
  3. haben ähnliche Formen und
  4. können anhand der Durchschnitts-Formen der Klassenmitglieder identifiziert werden.

Die Kombination dieser vier grundlegenden Eigenschaften wird als „information-rich bundles of perceptual and functional attributes” (Rosch u.a. 1976, 382; vgl. Rosch/Mervis 1975) – kookkurrierende, informationsreiche Attributsbündel – zusammengefasst und zieht einige Konsequenzen für die Basisebene nach sich. Die für eine Erfassung der Scritte Murali relevanten Auswirkungen, werde ich nachfolgend knapp zusammenfassen, wobei ich den Ausführungen bei Kleiber (1998, 59-62) folge, welche nach drei Perspektiven gruppiert sind.

In „perzeptorischer Hinsicht“ wird die Basisebene priorisiert, „aufgrund der Wahrnehmung einer ähnlichen, globalen Form, der Vorstellung durch ein einfaches gedankliches Bild, das für die gesamte Kategorie gilt, und aufgrund der schnellen Identifizierung“ (Kleiber 1998, 62). Am Beispiel der kategorialen Ebenen Tier und Hund, wird deutlich, dass es keine allgemeine Form für Tier gibt, sehr wohl aber für Hund. So einfach lässt sich diese These nicht auf Scritte MuraliGenres übertragen, sondern es erfordert einen genaueren Blick auf die Gegebenheiten.141 Rosch und Kollegen bemerken in den Beschreibungen zu ihrem Experiment 3 (vgl. 1976), dass „[a]ppearance is, perhaps, the most difficult of all characteristics of objects to define. Shape is a very general and important aspect of objects“ (1976, 386). Voranzumerken ist, dass sich Rosch u.a. auf „the most common taxonomies of man-made and biological objects” beziehen (1976, 386). Scritte Murali bzw. ihre Genres sind offensichtlich nicht biologischer Natur, sondern „man-made“, wobei jedoch berücksichtigt werden muss, dass Scritte Murali-Genres im Vergleich zu den in Roschs Experimenten verwendeten Objekten (Möbel, Stühle, Fahrzeuge usw.) weitaus unüblicher und schwerer zu fassen, zu verstehen sind. Trotzdem liefert die vorangestellte Ausführung bei Rosch bereits den Schlüssel, wie die Form für den Bereich der Scritte Murali-Genres nutzbar gemacht werden könnte. Für die Wissenschaftler gehören zu „shape“ auch die „structural relationships of the parts of an object to each other”, also bspw. neben der visuellen Darstellung von Stuhlbeinen und Sitzfläche, auch die Art und Weise, wie diese Stuhl-Teile in Verbindung gebracht werden (1976, 386-387). Bei Scritte Murali-Genres sind es v. a. diese strukturellen Beziehungen, die eine globale Ähnlichkeit zwischen den Mitgliedern desselben Genres/derselben Kategorie zeigen und die Genres daher als Basiskategorie erscheinen lassen. Die Verbindungen beziehen sich dabei auf die Attribute der Objekte. Form – als Bedeutungsaspekt für Objektkategorien – ist untrennbar mit den Attributen (wie auch den motorischen Programmen, s. u.) verbunden (vgl. Rosch u.a. 1976, 386). Konkreter ausgedrückt, wären dann solche strukturellen Attributs-Relationen, die bei den Mitgliedern eines SM-Genres als ähnlich wahrgenommen werden, z. B. die Kombinationen aus bestimmten bildgraphischen Zeichen, syntaktischen Konstruktionen und spezifischen Lexemen oder Lexem-Gruppen. Betrachtet man die exemplarischen Beschreibungen aus den Punkten 1-3 zur horizontalen Dimension (s. o.), so könnte das für eine Basiskategorie Liebe(sscritta) z. B. bedeuten, dass die global perzipierte Form Herzen und Lexeme wie amare in der Konstruktion ti + amo verbinden muss. Schwieriger wäre es dies an Umrissen der Texte festzumachen, wie dies in den Experimenten bei Rosch u.a. (1976) überprüft wurde. Entscheidend sind daher die Verbindungen zwischen den kategoriespezifischen Merkmalen.

Mit der Form im direkten Zusammenhang steht auch die bildliche Vorstellung der Basiskategorien, welche für übergeordnete Kategorien nicht möglich ist. Wieder ist es einleuchtend, dass man sich problemlos einen Stuhl vorstellen (abstrakt) oder zeichnen (konkret) kann, was bei Möbel nicht der Fall ist – man wird sich immer einen oder mehrere konkrete Vertreter dieser Kategorie (dann also wieder aus Basisebene) bildlich vor Augen halten (vgl. Kleiber 1998, 59-60). Dies funktioniert für Scritte Murali-Basiskategorien erneut nur, wenn man als „average shape“ (Rosch u.a. 1976, 387, Experiment 4) die eben genannten strukturellen Attributs-Beziehungen zulässt. Hierbei sind die wieder die Beschreibungen zu den Versuchsanordnungen hilfreich (vgl. Rosch u.a. 1976). Experiment 4 sollte überprüfen, „whether these same basic level objects would be the most inclusive categories in which shapes are sufficiently similar to render the shape of an average of more than one member of the category identifiable as a category member“ (Rosch u.a. 1976, 399). Dass dies – also die Vorstellung einer einfachen bildlichen Form, die für eine gesamte Kategorie gilt (s. o., vgl. Kleiber 1998, 62) – auch bei Scritte Murali-Kategorien der Fall ist, wird sich im Analyseteil und der Auswertung der Ergebnisse zeigen, wobei es besonders interessant sein wird, die Heatmap-Ergebnisse, die sich so gesehen auf diese formalen, umrisshaften Aspekte beziehen, auszuwerten.

Ein weiterer Aspekt aus perzeptorischer Perspektive, der für die Priorität der Basisebene spricht, ist jener der schnelleren Identifizierung (im Vergleich zu Objekten aus den anderen beiden Ebenen). Schmids Fazit zu Benennungsaufgaben spricht schließlich dafür, Scritte Murali-Genres als Basiskategorie zu verstehen, selbst wenn dieser Untersuchungsgegenstand teils weit von den bei Rosch verwendeten Testobjekten abweicht, da man zwischen zwei Arten von Kategorisierungsprozessen innerhalb der Basiskategorien ausgehen muss:

Die erste Stufe beruht wesentlich auf der schnellen und ganzheitlichen Wahrnehmung des gestalthaften Gesamteindrucks des zu kategorisierenden Objekts. Stimmt das Ergebnis dieses holistischen Wahrnehmungsprozesses mit dem im Gedächtnis gespeicherten mentalen Bild von prototypischen Vertretern überein, so wird außerordentlich schnell kategorisiert und entsprechend benannt.(Schmid 2000, 46)

Bei den Scritte Murali kann dies aus oben genannten Gründen eventuell problematisch sein. Wichtig ist daher der zweite Kategorisierungstyp, den Schmid erwähnt: Sollte die erste Stufe nicht erfolgreich abgeschlossen werden, so wird das Objekt in visuelle und funktionale Attribute aufgedröselt, auf deren Basis dann die Zuordnung geschieht, wobei dafür nicht zwingend ein „kumulatives Checklistenverfahren die Entscheidung steuern muss“, sondern eventuell einzelne, besonders saliente Merkmale ausschlaggebend sind (vgl. Schmid 2000, 42). Es mag also lediglich ein Symbol in Herzform ausreichen, um eine Scritta zuordnen zu können.

Die Schwierigkeit, Scritte Murali-Genres anhand ihrer Formaspekte als Basiskategorien zu verstehen, liegt sicherlich auch daran, dass eines der wesentlichen Charakteristika, die in der Definition festgehalten wurden (Kapitel ), ist, dass Scritte Murali nicht reguliert sind und ihre Form (theoretisch) frei wählbar ist. Eine konventionelle Form, wie dies für andere Textformen gilt, ist hier also generell nicht zu vermuten.142

Die nächste Auswirkung auf die Basisebene basiert auf Punkt b) der konstitutiven Eigenschaften der Basisebene (s. o.) und betrifft die sog. „motorischen Programme“. Dieser Punkt steht in direkter Verbindung zu Aspekten, welche die Form (also perzeptorisch) und die Attribute betreffen, und geschieht aus funktionaler Perspektive (vgl. Rosch u.a. 1976, 386 sowie Kleiber 1998, 60 und 62).

Der etwas seltsam anmutende Ausdruck „motorische Programme“ (im Original bei Rosch et al motor patterns/programs oder motoric uses; vgl. 1976) gestaltet sich auf den ersten Blick ebenso problematisch für die Scritte Murali-Genres, wie schon die eben diskutierten perzeptorischen Aspekte. Laut Rosch und ihren Kollegen, zählen zu den Objektattributen die Art und Weise, wie Menschen üblicherweise („habitually“) mit den Objekten interagieren oder diese nutzen (1976, 386), oder wie Kleiber es ausdrückt, das Exemplare von Kategorien „einen ähnlichen Typ der Interaktion steuern“ (1998, 60). Die exemplarischen Objekte, die genannt werden (und auch Teil der Experimente sind), veranschaulichen diese These auf logische Manier: Objekte der Basiskategorie (und auch untergeordneten Kategorie) wie Stühle (oder Klappstühle) stimmen in den Handlungen, welche die Objekte ansteuern, – nämlich sich darauf zu setzen – überein. Für übergeordnete Kategorien (Möbel) ist das nicht der Fall (vgl. Rosch u.a. 1976, 386; Kleiber 1998, 60). Entscheidend ist dabei möglicherweise, dass die Experimente mithilfe von neun Stimuli (sechs nicht-biologische und drei biologische) durchgeführt wurden: Musikinstrument, Werkzeug, Kleidung, Baum, Fisch, Vogel usw. Trauben wurden bspw. gegessen, um die muskulär-motorischen Bewegungen als Attribut der Objekte zu erfassen (vgl. Rosch u.a. 1976, 394 und 388). Übertragen auf Scritte Murali, stellt sich nun die Frage, welche Art von Interaktionstyp angesteuert wird, bzw. in alltagstauglicher Version: Was mache ich, wenn ich mit einer Scritta konfrontiert werde?

Ein möglicher Zugriff auf die Scritte Murali aus dieser Perspektive eröffnet sich durch Ansätze die sich generell mit Embodiment beschäftigen. Bereits mit Rosch und Lloyd (1978), spätestens aber seit den 1980er Jahren, beschäftigen sich Forscher mit dieser Thematik, welche seitdem auch zu einem der zentralen Bereiche der kognitiven Linguistik geworden ist. Wie so oft, gibt es auch für diesen Begriff unzählige Beschreibungen und abhängig von Forscher und Forschungsziel, variieren die Konzepte, die mit Embodiment gemeint sind. Die oben genannten angesteuerten Interaktionen müssen für unsere Zwecke in einem Sinn gedeutet werden, welcher über reine sensori-motorische Aspekte hinausreicht, – wie dies in Ansätzen der letzten Jahre auch geschehen ist. Grundlegend ist dabei, dass mit body nicht nur neuro-physiologische Aspekte gemeint sind, sondern den Begriff so weit zu fassen, dass er den Körper in „its full phenomenological complexity, as the place where affect and emotions are articulated” versteht (Violi 2008, 59). Eine Eröffnung des Verständnisses in diese Richtung erlaubt es uns die Frage, wie die Teilnehmer mit Scritte Murali interagieren, anhand der emotions- und affekt-gesteuerten Handlungen zu beantworten.

Bodily states are always, and at the same time, pathemic states, endowed and infused with feelings and emotions. Body is where emotions have their primary space, and if we do not take this aspect of embodiment into account in our analysis, we miss a crucial dimension of meaning making, and risk ending up with a totally inadequate and reduced conception of the body itself.(Violi 2008, 70)

Rezipienten reagieren auf Liebes-Scritte anders, als sie dies bspw. bei politischen Botschaften tun, wobei die Reaktionen für den Großteil der Rezipienten nicht motorisch auffällig sind, sondern eben auf emotional-affektiver Ebene.143 Die Art und Weise, wie Teilnehmer auf die verschiedenen Scritte-Kategorien reagieren, ist dabei stark sowohl von sozio-kulturellen Faktoren, wie auch von individueller Erfahrung bzw. Weltwissen abhängig – dazu an späterer Stelle noch genauer. Das bedeutet, dass je nachdem über welches Hintergrundwissen die Teilnehmer verfügen und welche persönlichen Erfahrungen sie gemacht haben, fällt die Reaktion auf die Scritte aus, vorausgesetzt natürlich, dass sie die Scritta überhaupt rezipieren und nicht (un-/bewusst) ausblenden. Wie genau die Teilnehmer interagieren bzw. reagieren, kann an dieser Stelle nicht bestimmt werden, da diese Fragestellung zu weit vom Thema wegführen würde, und daher möchte ich auch keine Vermutungen dazu anstellen. Ich gehe jedoch davon aus, dass es vordergründig darum geht, ob sich die Teilnehmer angesprochen fühlen oder nicht. Wenn dies nicht der Fall ist, dann würde eventuell für die Kategorien allgemein gelten, dass gleichgültig auf sie reagiert wird. Dies würde natürlich gegen die These sprechen, dass es sich bei Scritte-Genres um Basiskategorien handelt. Jedoch hängt das meiner Meinung nach damit zusammen, dass es sich hier um ganz anders gestaltete Objekte handelt – und zwar abstrakte Konstrukte, die emotional-affektive Aspekte der Teilnehmer ansteuern, und die v. a. erst innerhalb einer Kommunikationssituation Sinn ergeben – als dies bei Objekten wie Tisch oder Kleidung der Fall ist. Intuitiv lässt sich sicherlich annehmen, dass Scritte Murali-Genres, wie Politik, Ultras und Liebe, zueinander unterschiedliche Interaktionen erfordern, wobei diese Interaktionen dann für Mitglieder der jeweiligen Kategorien ähnlich ausfallen.144 Nichtsdestotrotz ist diese Auswirkung der motor programs bzw., wie hier geschehen, weiter gedeutet als emotional-affektive Handlungssequenzen, insgesamt als problematisch anzusehen, wenn es darum geht, die Genres als Basiskategorien zu fassen.

Die letzte Perspektive, die Kleiber bezüglich der Auswirkungen nennt, ist die kommunikative Ebene (vgl. 1998, 60-62). Hier stehen besonders die Benennung und die Kontextneutralität im Vordergrund.

Ein Objekt wird in dem meisten Fällen mit einem Ausdruck der Basisebene bezeichnet. Dieses wesentliche sprachliche Merkmal der Basisebene zeigt sich deutlich bei verschiedenen Versuchen. Sprecher, die man fragt, was eine bestimmte Zeichnung eines Objektes darstellt, greifen vorzugsweise auf Ausdrücke der Basisebene zurück.(Kleiber 1998, 60)

Rein intuitiv ist dies bereits mehrmals in diesem Kapitel geschehen und zwar jedes Mal, wenn von Liebes-Scritte (oder allgemeiner Liebes-Graffiti) usw. die Rede ist.145 Die Tatsache, dass man Scritte wie in Abb. 27 und 29 jeweils als Liebes-Graffiti bzw. –Scritta und Politik-Graffiti und nicht einfach als Graffiti bezeichnet – zumindest an dieser Stelle der vorliegenden Arbeit146 – spiegelt die Annahme wieder, dass Basiseben die Bezeichnungen für die Objekte liefern.

Bedeutender als die bisher zu Punkt 5 ausgeführten Effekte bezüglich der Basisebene, ist eigentlich die Erklärung für diese Auswirkungen, welche letztlich auch in der fünften Bedingung (s. o.) als Beschreibung der Basiskategorien aufgenommen wurde:

[T]he basic level of abstraction in a taxonomy is the level at which categories carry the most information, possess the highest cue validity, and are, thus, the most differentiated from one another.(Herv. SL; Rosch u.a. 1976, 383)

Mitglieder von Basiskategorien teilen eine signifikante Menge an Attributen (vgl. Eigenschaft a) der Basisebene; s. o.), den sog. information-rich bundles of attributes, was zu einem besonderen Informationsreichtum führt. Belegt wurde diese These, ebenfalls durch Experimente von Rosch und zwar indem die Teilnehmer gebeten wurden, die ihrer Meinung nach charakteristischen Eigenschaften von (vorgegebenen) Alltagsgegenständen aufzulisten (vgl. Rosch u.a. 1976, Experiment 1; Rosch/Mervis 1975). Diese Experimente der Attributenauflistung dienten nicht nur dazu, um die Thesen über die Basisebenen zu bestätigen, sondern schlugen eine weitere Brücke zwischen der Proto-/Typikalität und den Basiskategorien (vgl. Schmid 2000, 41).
Im Vergleich zur Basisebene, weisen die übergeordneten Ebenen kaum Merkmale auf, die all ihren Mitgliedern gemeinsam sind. Die untergeordnete Ebene dagegen, tendiert dazu über etwas mehr Attribute zu verfügen, als dies bei den Vertretern der Basiskategorien der Fall ist. So können kaum globale Attribute für eine übergeordnete Kategorie Möbel gefunden werden, für Basiskategorien wie Stuhl oder Schrank dagegen schon. Mitglieder, welche der Basiskategorie Stuhl untergeordnet sind – bspw. Schreibtischstuhl – , weisen dann einige zusätzliche, nämlich spezifischere Merkmale auf, als dies bei der Basisebene der Fall ist. Es nimmt der Informationsgehalt also nicht mit jeder Ebene zu, sondern der entscheidende Sprung geschieht zwischen der übergeordneten und Basisebene (vgl. Kleiber 1998, 62-63). Der Übergang zur untergeordneten Ebene erfordert innerhalb der Kategorisierungsprozesse eine erhöhte kognitive Leistung bei vergleichsweise geringem Nutzen dieses Mehraufwands, weshalb die Basisebene auch am ökonomischsten ist. Untergeordnete Kategorien weisen zwar mehr Attribute auf, jedoch ist die kognitive Ökonomie der Ebene nicht ausbalanciert, da diese zusätzlichen Informationen bei der Kategorisierung nicht wirklich von Vorteil sind. Übergeordnete Kategorien bieten auf der anderen Seite einfach nicht genügend Informationen, um die Kategorien voneinander abzugrenzen (vgl. Schmid 2000, 41; Rosch u.a. 1976, 384). So fasst Rosch zusammen, dass „the basic categorization is the most general and inclusive level at which categories can delineate real-world correlational structures” (1976, 384).

Auf den Gegenstandsbereich der Scritte Murali bezogen, ergibt sich aus dem Faktor der kookkurierenden information-rich bundles of attributes zunächst eine grundlegende Struktur, wie sie in Abb. 39 schematisch zusammengefasst ist.147

Basisebene der Scritte Murali

Basisebene der Scritte Murali

Die übergeordnete Ebene sind die Scritte Murali allgemein, welche über bestimmte Attribute (d) verfügen und zwar jene, die in der Definition (DEFAULT) zusammengefasst wurden. Diese Attributen gelten auch für die Kategorien der Basisebene, also den Scritte Murali-Genres, wobei diese jedoch über weitaus mehr Merkmale (hier exemplarisch a) und b), jeweils für die Genres Politik und Ultras) und damit Informationen verfügen, wobei diese Kategorien einige Attribute (c) teilen. Auf der untergeordneten Ebene erscheinen dann Kategorien, welche jeweils mit den Basiskategorien bestimmte Attribute (e) gemein haben, jedoch über einige, spezifische Merkmale zusätzlich verfügen (f und g).
Von den vier Eigenschaften, die Rosch u.a. den Basiskategorien zugeschrieben haben (vgl. 1976; s. o.), sind es v. a. die Attribute (siehe Eigenschaft a), welche zur gezeigten Kategorisierungsstruktur in Abb. 39 führen. Eigenschaften b-d (die gemeinsamen motorischen Programme und Formen sowie die Durchschnittsform der Klassenmitglieder; s. o.) dagegen müssen für den Untersuchungsgegenstand Scritte Murali zumindest anders gedeutet werden, um bei der Kategorisierung die gleiche Bedeutung einzunehmen.

4.1.6. Der (kulturelle) Kontext und weitere Anmerkungen

Beschäftigt man sich mit Prototypikalität, so besteht die Gefahr, dass man zur irrtümlichen Annahme gelangt, es handle sich bei Prototypen und prototypisch organisierten Kategorien um allgemein gültige Strukturen, d. h. Strukturen, die unabhängig vom Kontext gültig sind. Diese Annahme entspricht bereits bei kognitiven Kategorien von so alltäglichen Objekten wie Stuhl oder Kleidung nicht der Realität. Weder die Prototypen, noch ihre Kategoriegrenzen sind starr, sondern können sich ändern, abhängig vom konkreten Kontext in den sie eingebunden sind bzw. in welchem die Teilnehmer die Kategorien prozessieren (vgl. Ungerer/Schmid 2006, 45).148 Wie in Kapitel dargestellt wurde, handelt es sich bei den Scritte Murali um eine Kommunikationsform, die zu einem hohen Maße vom Kontext – und dabei besonders vom Ort – mitbestimmt wird. Diese Voraussetzung legt nahe, dass kontextuelle Faktoren auch innerhalb der kognitiven Kategorisierungsprozesse der SM von grundlegender Bedeutung sind. Erkennbar war dies auch in den angeführten Beispielen der Unterkapitel von und erklärt sich daran, dass Rezipienten die Scritte zwar mit einem abstrakten Prototypen vergleichen, dies in Hinblick auf die Funktion der Scritte – also um die Scritta zu ‘verstehen’ – jedoch immer anhand des konkret vorliegenden Kontextes vollziehen. Es geht an dieser Stelle nicht darum, die Ausführung zu kontextuellen Faktoren aus DEFAULT zu wiederholen, sondern die Konsequenzen des Kontextes speziell für die Kategorisierungsprozesse von Scritte Murali festzuhalten. Selbstverständlich gibt es Überschneidungen für die Konzepte und Prinzipien, die hinter dem Begriff Kontext stehen und doch muss man sich bewusst sein, dass wir uns hier aus einer anderen Perspektive mit den SM beschäftigen: die in DEFAULT angeführten Beschreibungen zum Kontext fanden im Rahmen der gesamten Kommunikationskonstellation statt, mit dem Zweck analytische Basisdimensionen zu fixieren, wobei Kontext bezüglich der objektiven Ortsdaten (in Form von Koordinaten) und des interpretierten Raumes zu deuten ist. Die Kategorisierungsprozesse beim Verarbeiten der SM unterliegen natürlich den kontextuellen Basisbedingungen, da sie ein bzw. der zentrale Schritt für das Verständnis der Scritte seitens der Teilnehmer sind. Innerhalb dieser kognitiven Dimension der Prototypenbildung muss der Faktor Kontext jedoch als mentales Phänomen verstanden werden (vgl. Ungerer/Schmid 2006, 47). Dazu sollen nachfolgend einige grundlegende Eckpunkte zusammengefasst werden.

Mit Ungerer und Schmid (2006) ist zunächst terminologisch zwischen ‘Kontext’ und ‘Situation’ zu differenzieren: ersteres umfasst den Bereich der mentalen Phänomene, letzteres bezieht sich auf „some state of affairs in the ‚real world’” (2006, 48). Der Begriff Situation beschreibt demnach die Interaktion von Objekten in der Welt, wobei diese Situationen dann bei den Teilnehmern die kognitiven Konzepte dieser Objekte aufrufen. Die kognitive Repräsentation der Interaktion(en) zwischen diesen kategorialen Konzepten wird als Kontext bezeichnet (vgl. Ungerer/Schmid 2006, 48-49). Obwohl hier klar von ‘Kontext’, wie er in Kapitel beschrieben wurde, unterschieden werden muss, weil es strenggenommen nicht um die kommunikative Situation geht, ist diese Lesart von ‘Kontext’ als kognitive Repräsentation nicht als isoliertes Phänomen zu verstehen. Die Interaktionen zwischen den kognitiven Konzepten sind mit abgespeichertem Wissen verknüpft, das unmittelbar abgerufen und in Beziehung gesetzt wird. So wird nicht nur kontext-spezifisches Hintergrundwissen zu den aktuell relevanten Kategorien aktiviert, sondern auch Wissen über weitere Kategorien und Kontexte, die in irgendeinem Zusammenhang mit dem aktivierten Kontext stehen. Zu den unterschiedlichsten Phänomenen, mit denen der Mensch tagtäglich interagiert, sind unzählige und miteinander verknüpfte Konzepte und Kontexte mental abgespeichert. Begrifflich können diese Wissensstrukturen als cognitive models zusammengefasst werden, wobei diese im engen Zusammenhang mit ähnlichen Konzepten, wie z. B. den oben erwähnten Frames, stehen (vgl. Ungerer/Schmid 2006, 49). Die kognitiven Modelle sind grundlegend dadurch charakterisiert, dass ihr Umfang nicht begrenzt ist, da immer weitere Kategorien und Kontexte aktiviert werden können, wodurch Beschreibungen dieser Modelle auch nie vollständig sein können, sondern immer nur einen Ausschnitt des Modells darstellen. Ebenso tendieren kognitive Modelle dazu, Netzwerke zu bilden, wie dies auch für die Kontexte (im Sinne von mentalen Repräsentationen) gilt, und schließlich sind diese Modelle überall zu finden (vgl. Ungerer/Schmid 2006, 50). D. h.,

[in] every act of categorization we are more or less consciously referring to one or several cognitive models that we have stored. Only in the very rare case when we encounter a totally unfamiliar object or situation will no appropriate cognitive model be available, but even then we will presumably try to call up similar experiences and immediately form a cognitive model.(Ungerer/Schmid 2006, 51)

Die Kontexte und kognitiven Modelle, die bei der Interaktion mit Objekten abgerufen werden, können die kategorialen Strukturen und Prototypen grundlegend beeinflussen und die Anordnung von Exemplaren als zentrale oder periphere Vertreter von Grund auf ändern. Ungerer und Schmid zeigen dies anhand von einfachen Beispielen zur Kategorie Hund (vgl. 2006, 45-46): In einem kontext-neutralen Experiment wäre es wahrscheinlich, dass der deutsche Schäferhund als prototypischer Vertreter der Kategorie Hund ermittelt würde.

  • Sie brachte ihren Hund zum Friseur, um seine Locken neu machen zu lassen.
  • Vom Beginn des Rennens an, jagten die Hunde den Hasen.

Durch einfache Satzkonstruktionen wie in 1. und 2. kommt es nicht nur zu einer Verschiebung der kategorialen Prototypen – für 1) wäre eine Art Schoßhund, für 2) ein Rennhund typisch – sondern alle anderen Hundearten würden peripher eingeordnet werden müssen. Der kontext-neutrale Prototyp am Beispiel des Schäferhunds, wäre im Kontext von Beispielsatz 1 nicht mehr ansatzweise in Zentrumsnähe zu finden (vgl. Ungerer/Schmid 2006, 46). Eine mögliche Erklärung dafür, dass sich die Kategorie-Prototypen sowie die gesamte kategoriale Struktur in der Anordnung ihrer Mitglieder verändert, findet sich im Bereich der kategoriespezifischen Attribute und zwar in zweifacher Weise: zum einen kann die Gewichtung bestimmter Attribute durch den Kontext abgeändert werden, d. h. Attribute, die in kontext-neutralen Kategorien typisch und damit von hohem Gewicht sind, können in bestimmten Kontexten an Bedeutung verlieren. Zum anderen können Attribute durch Kontexte nicht nur prominenter, sondern sogar neu eingeführt werden.149 So fassen Ungerer und Schmid zusammen:

With the introduction of new attributes and the re-evaluation of the weights of existing ones the attribute list for a member of a category changes completely. The result is that previously peripheral examples are equipped with large bundles of heavily weighted attributes and turned into good examples or even prototypes, while well-established good examples are reduced to the status of marginal members.(Ungerer/Schmid 2006, 47)

Die unterschiedliche Gewichtung der Attribute begründet Lakoff damit, dass es sich bei den Attributen bzw. Eigenschaften (properties) nicht um etwas objektiv in der Welt existierendes handelt, das für alle Lebewesen gleich ist, sondern diese Eigenschaften sind als interactional properties zu verstehen, sprich, sie sind Ergebnis unserer Interaktion „as part of our physical and cultural enviroments“ (1987, 51). Diese interaktionalen Eigenschaften bilden Erfahrungsbündel und können sich in Prototypen und Basiskategorien widerspiegeln (vgl. Lakoff 1987, 51).

Kognitive Modelle als “cognitive, basically psychological, view of the stored knowledge about a certain field” (Ungerer/Schmid 2006, 51) können zu einem hohen Grad nur idealisiert beschrieben werden, da das Hintergrundwissen von Person zu Person verschiedenartig ausgeprägt ist und auf individuellen Erfahrungen beruht. Somit geht man bei der Beschreibung der Modelle von der Annahme aus, dass größere Personengemeinschaften über das gleiche Grundwissen verfügen, so z. B. über Hunderennen. Eng mit den cognitive models der Kognitiven und Psycholinguistik verbunden, sind die sog. cultural models aus der Sozio- und Anthropologischen Linguistik. Letztgenannte Modelle können als kognitive Modelle verstanden werden, die von Personen geteilt werden, welche zur gleichen sozialen (Unter-) Gruppe gehören. Andersherum bedingen kulturelle Modelle die kognitiven Modelle besonders in bestimmten Bereichen, die spezifisch für bestimmte kulturelle Gesellschaftsgruppen sind. Kognitive Modelle erlauben demnach größere individuelle Varianz, kulturelle Modelle dagegen sind durch einen vereinenden Aspekt charakterisiert – beide Modelle sind also als zwei Seiten derselben Medaille zu verstehen. Kulturelle Hintergründe beeinflussen nachhaltig die konzeptuellen Strukturen und letztlich auch die Wahl von Prototypen für Kategorien (vgl. Ungerer/Schmid 2006, 51-52).

Bei der Kategorisierung von Scritte Murali als Teil des Verstehensprozesses der Gesamtbotschaft, sind diese kontextuellen Aspekte von großer Bedeutung. Die ‘Situation’, im Sinne von Interaktionen von Objekten in der Welt (s. o.), bezieht sich dabei nicht nur auf die Textebene der Scritte, sondern beginnt bereits beim ‘Objekt’ der Scritta an sich, wodurch beim Rezipienten mentale Konzepte zu dieser Kommunikationsform aufgerufen werden, mit Merkmalen, wie sie in der Definition der Scritte Murali (siehe DEFAULT) zusammengefasst wurden, also ‘transgressiv’, ‘nicht-reguliert’, ‘öffentlich sichtbar’, ‘informell-privat’ usw.. Der Standort muss dabei ebenfalls als Objekt gedeutet werden, mit dem weitere Objekte – namentlich die Rezipienten und die Scritta an sich, die eine symphysische Verbindung mit dem Träger an diesem konkreten Standort eingeht – interagieren. Auch auf Texteebene interagieren Objekte und rufen mentale Konzepte oder Kategorien auf. Die Interaktion zwischen den Objekten auf Textebene und auf Ebene der materiell-medialen, ortsgebundenen Scritta als Gesamteinheit bilden komplexe ‘Kontexte’ (hier im Sinne von mentalen Phänomenen; s. o.), die in kognitive und kulturelle Modelle eingebettet sind und mit deren Hilfe die Scritta interpretiert werden kann – abhängig vom individuellen und kulturell bedingten Wissen der Teilnehmer.

Benvenute e benvenuti al Tufello (ScriMuRo)

Benvenute e benvenuti al Tufello (ScriMuRo)

In einem Beispiel wie die Scritta rechts im Bild aus Abb. 40, rufen sowohl die Objekte auf Textebene (Tufello, quartiere und das politische Symbol) als auch die Gesamtscritta in Verbindung mit ihrem Standort, entsprechende Konzepte und mit ihnen verbundene Kontexte (also die mentale Repräsentation der inter-konzeptuellen Interaktionen) auf, welche wiederum in ein weitverzweigtes Netz von Wissensstrukturen integriert sind. Entscheidend ist an dieser Stelle, dass eben diese Kontexte und kognitiven wie kulturellen Modelle die wahrgenommene Typikalität der Scritta und den mental repräsentierten Prototyp ändern können und zwar auf Basis der Attribute. Für die Scritta, wie sie hier vorliegt wäre ein mögliches Szenario bei der Kategorisierung folgendes: Im Vergleich zu einem Prototyp der allgemein für Scritte Murali gilt (also themen- und ortsunabhängig) wäre an dieser Scritta bspw. die Anonymität der Produzenten und die materiell-mediale Realisierung. Ebenso typisch wäre für ein Genre Politik die Verwendung von politischen Symbolen150 und bestimmter lexikalischer Elemente (libero und ribelle). Für eine vom prototypischen Zentrum entferntere Anordnung der Scritta würde die relative Länge und ‘Ausführlichkeit’ der Scritta sprechen, ebenso wie die Grußformel(n) Benvenuti/e und der präparierte Untergrund der Scritta.151 Die Scritta wäre daher eventuell auf einer mittleren Stufe innerhalb des Prototypenfeldes anzusetzen, da den typischen Attributen ebenso viele untypische gegenüberstehen. Berücksichtigt man bestimmte Kontexte und geht man von bestimmtem Hintergrundwissen und zwar v. a. auf kultureller Ebene (also hinsichtlich der cultural models) aus, so verschiebt sich der Prototyp und die gesamte kategoriale Struktur. Mit dem Wissen, dass sich die Scritta an einer der zentralen Straßenkreuzungen des Stadtviertels Tufello in Rom befindet und Tufello seit mehreren Jahrzehnten für seine strikt linkspolitische Orientierung bekannt ist, werden die Attribute neu evaluiert und untypische Attribute werden zu typischen. Dabei ist es dienlich, dass der Rezipient nicht nur über ortsspezifisches Wissen verfügt, sondern außerdem Wissen über lokal überaus aktive politische Gruppierungen besitzt, welches er mit der Scritta in Verbindung bringen kann (und zwar als potentielle oder vielmehr höchstwahrscheinliche Produzenten). Weiß der Rezipient, dass diesen Gruppierungen mehr oder weniger inoffiziell das Recht zugesprochen wird Scritte in ‘ihrem’ Gebiet zu erstellen, so ändert sich das Gewicht von Attributen wie Länge des Textes und präparierter Untergrund.

Stefano Cucchi vive-Scritta (ScriMuRo)

Stefano Cucchi vive-Scritta (ScriMuRo)

Ähnliches gilt für die Scritta in Abb. 41. Wie wir bereits bei einem anderen Beispiel (Maurizio vive; Abb. 26) sehen konnten, ist die syntaktische Konstruktion (Eigenname + vive) typisch für Scritte. Aufgrund der Kürze und Abwesenheit von politischen Symbolen, ist spezifisches, kulturelles Hintergrundwissen nötig, um die Scritta als typisch oder untypisch kategorisieren zu können. Der Fall von Stefano Cucchi, der in Rom 2009 zu Tode kam, während er sich in Polizeigewahrsam befand, beschäftigte nicht nur landesweit die italienischen Medien (vgl. MorteDiStefanoCucchi-Wikipedia), sondern hat seitdem auch die Aufmerksamkeit politischer Linksgruppierungen auf sich gezogen, die die teils ungeklärten Todesumstände Cucchis der Polizeigewalt und Staatsmacht zuschreiben. Wiederholt taucht der Name in diesem Diskurs seitens linker, teils extremer, Gruppierungen auf. Die Scritta befindet sich, wie die vorige Scritta (Abb. 41), in Tufello, dem von linkspolitischen Gruppen dominierten Stadtviertel in Rom, wodurch die Scritta trotz den nicht vorhandenen, expliziten Hinweisen auf das Genre Politik eine typische (politische) Scritta auf Basis der kognitiven und kulturellen Modelle zu den Objekt-Konzepten zu Tufello und Stefano Cucchi. Stärker gewichtet wird möglicherweise auch die rote Schriftfarbe, die eine emotional-konnotative Nähe zur linkspolitischen Szene wiedergeben kann. Würde eine solche Scritta in Blau geschrieben und v. a. in einem Territorium zu finden, welches gemeinhin für seine rechts-politische Gesinnung bekannt ist – man denke bspw. an das Quartiere Africano und die dort befindliche Paolo di Nella-Schrift in Abb. 29 – so würde die Schrift aufgrund der Einbettung in diese abweichende kognitiven und kulturellen Wissensstrukturen sicherlich als untypisch eingeordnet werden.

Regiment Asow-Scritta (ScriMuRo)

Regiment Asow-Scritta (ScriMuRo)

Besonders deutlich wird die Bedeutung des kulturellen Wissens im nächsten und letzten Beispiel (Abb. 42). Für eine Zuordnung zu einem Genre Politik stehen lediglich zwei Token (der in kyrillischer Schriftsprache dargestellte Eigenname Asow (ukr. Азов) und das Symbol darunter) und eventuell der Standort zur Verfügung. Zunächst lässt die Zeichenanordnung (Eigenname oben und Symbol darunter) auf eine politische Scritta schließen. Dieses Attribut wird für viele der Rezipienten, die nicht über das nötige Hintergrundwissen zu den Konzepten von ASOW und dem durch das Symbol dargestellten Inhalt verfügen, mit einem höheren Gewicht bemessen, allein aufgrund der Tatsache, dass nicht genügend weitere Attribute vorliegen. Besitzt der Rezipient Wissen zu den beiden Token, so kann er oder sie problemlos die Scritta zum Genre Politik zuordnen, mit dem entsprechenden Prototypen vergleichen und dahingehend in der Struktur verorten. Dann wird erkennbar, dass Азов (Asow) gekürzt für das Regiment Asow steht, eine für ihre rechtsextreme Gesinnung bekannte, paramilitärische Kampfeinheit, die im Ukraine-Konflikt gegen prorussische Separatisten gekämpft haben, und die in ihrem Abzeichen das Symbol der Wolfsangel verwenden (vgl. RegimentAsow-Wikipedia). Die Wolfsangel wird aufgrund ihrer Verwendung von SS-Divisionen während der Nazi-Zeit als rechtsextremes Erkennungszeichen eingestuft (vgl. WolfsangelSymbol-Wikipedia). Dieses Wissen lässt die Verwendung von kyrillischem (im Vergleich zum italienischen) Zeichensystem von einem eigentlich besonders untypischen zu einem typischeren Attribut werden. Das gleiche gilt für das (im Vergleich zu anderen rechtsextremen Symbolen, wie das keltische Kreuz oder dem Hakenkreuz) eher selten auftretende Symbol der Wolfsangel, da es besonders typisch ist, den Namen der Organisation und dem Erkennungssymbol zu kombinieren.

Die Beispiele aus den Abb. 40-42 stammen aus dem Bereich des Genres Politik. Die Auswirkungen von kognitiven und kulturellen Modellen gelten jedoch auch für die anderen Bereiche, wie z. B. die Liebesscritte aus oben genannten Beispielen. Das Prinzip ist dabei das gleiche, jedoch sind die Prozesse offensichtlich anders gestaltet, da Kontexte wie ‘jemandem seine Gefühle mitteilen’, ‘Liebesbotschaften übermitteln’ usw. sicherlich zu einem weitaus geringerem Maße an lokale oder spezifische Wissensnetzwerke, wie z. B. Rechts- oder Linksextremismus, gebunden sind, sondern für den Großteil der europäischen Bevölkerung ab einem gewissen Alter anzunehmen ist.

Nachdem der theoretische Rahmen für die Genre-Prototypen festgelegt wurde und die Lesart der Bedingungen exemplarisch an Scritte-Beispielen vertieft wurde, stellt sich nun die Frage nach welchen Kriterien oder nach welcher Dimension die Genre-Prototypen gruppiert werden. Dies möchte ich im folgenden Kapitel ausführen und begründen.

4.2. Abgrenzung der Genres nach Domänen

Besonders die Ausführungen zur Basisebene – und dabei v. a. die beispielhaften Bezüge auf die Scritte Murali – (siehe DEFAULT) implizieren, dass die Genres und ihre Prototypen nach bestimmten Gruppen geordnet sind. Rein intuitiv wurden die exemplarischen Scritte demnach innerhalb möglichen Genres wie etwa ‘Liebe’ oder ‘Politik’ verortet. Wie oben beschrieben (siehe DEFAULT), verstehe ich Genres als strukturierte, sozio-kognitive Komplexe, die bei der Typisierung (sowohl für das Erstellen als auch das Verstehen) einen zentralen Orientierungspunkt darstellen und nach verschiedenen Kriterien voneinander abgegrenzt werden können. Hinsichtlich des Analyse-Modells muss an dieser Stelle Wahl für eine bestimmte Dimension erklärt werden und gleichzeitig auf Vor- und Nachteile und etwaige weitere (sinnvolle) Möglichkeiten hingewiesen werden.

Ausgangspunkt ist dabei, dass Scritte Murali als Kommunikationsform verstanden werden, die in Form von multimodalen, ortsgebundenen Texten erscheinen. Beim „Umgang mit [diesen] Kommunikationsangeboten“ (Stöckl 2016, 20)“ sind Typisierungsleistungen grundlegend und machen es dem Teilnehmer erst möglich, die Scritte in Bezug auf ihren Botschaftsgehalt (oder, etwas abstrakter, die Funktion) zu interpretieren. Schmitz fasst verschiedene Möglichkeiten bei der Einteilung von Textsorten zusammen, wobei sich die gewählten Dimensionen abhängig vom „Zweck und Erkenntnisinteresse“ der Forscher zeigen (2016, 338). So können neben den ‘klassischen’ Einteilungen nach mündlich – schriftlich, monologisch – dialogisch usw. (vgl. Schmitz 2016, 338) auch nach Textfunktion (z. B. Information, Appell, Obligation usw.), Themenspezifik, Kommunikationsbereichen oder den Relationen zwischen den Modi gruppiert werden (vgl. Schmitz 2016, 339). Solche Gruppierungen spiegeln sich auch in den in Kapitel wiederholt erwähnten Bezeichnungen für Graffitiformen wieder, wie sie in der oben zitierten Literatur auftaucht (vgl. Northoff 2005, Lohmann 2017, Skrotzki 1999 usw.): Toilettengraffiti (Ort), Kindergraffiti (Produzenten), Protestgraffiti (Funktion und/oder Inhalt), Wortgraffiti (Zeichensystem) usw. Solche Gruppierungen sind aufgrund der fehlenden Systematik für wissenschaftliche Zwecke nur bedingt nutzbar – bspw. sind Wort- und Protestgraffiti sicherlich auch innerhalb der Toilettengraffiti zu finden –, was sicherlich auch an der unzureichenden Definition von Graffiti und den Unterformen liegt. Nichtsdestotrotz sind solche Gruppierungen auf eine bestimmte Art sinnvoll, auch wenn sie aus wissenschaftstheoretischer Sicht etwas willkürlich erscheinen mögen. Adamzik bemerkt ganz richtig, dass empirische, mit Korpora arbeitende Studien die Auswahl der Abgrenzungsmerkmale nicht willkürlich treffen, sondern diese induktiv, d. h. „durch das Beschreibungsobjekt geleitet“, wählen (2008, 167). Genau dies ist auch in der vorliegenden Arbeit der Fall, da die Wahl die Genres nach Domänen zu gruppieren, ganz intuitiv während der intensiven Arbeit mit dem Sprachmaterial hervorgegangen ist. Dies zeigt sich auch bis zu einem gewissen Grad, wenn man die Beispiele der vorherigen Kapitel betrachtet, da die Zuordnung einer Scritta wie Giulia ti amo ♥ zu einem Genre ‘Liebe’ logisch erscheint, ohne dies wissenschaftlich begründen zu müssen.152

Auf den ersten Blick scheint es, dass die Genre-Einteilung nach Politik, Ultras usw. nach der Abgrenzung nach Themenspezifik erfolgt, dass es sich also z. B. um ein Genre mit der Thematik Liebe handelt. Dies ist allerdings nur zum Teil richtig. In Kapitel wurde bereits darauf verwiesen, dass das Textthema (i. S. v. Information) für den „normalen Sprachbenutzer“ von vorrangigem Interesse ist, da er/sie davon die Gesamtbotschaft ableiten kann und dies „intuitiv am leichtesten“ geschieht, da man Themen direkt am Sprachmaterial ablesen kann (Adamzik 2016, 207). Entscheidend ist hier nun, dass sich das Textthema eben auf die Textebene bezieht und eine Erfassung des Textthemas nur unter Miteinbeziehung der Funktion und Kontext des Textes erfolgen kann (vgl. Adamzik 2016, 218). Eine „Vororientierung über den Inhalt“ (Adamzik 2016, 223) geschieht generell nicht ausschließlich über die konkret dargestellten Zeichen, sondern zu einem großen Teil über die evozierten kognitiven Konstrukte: „Bereits ein inhaltlich spezifisches Stichwort reicht aus, um kognitive Schemata zu aktivieren, die miteinander zusammenhängende Konzepte und Verbindungen zwischen ihnen aufrufen“ (Adamzik 2016, 223). Was bei Adamzik hier als „Schemata“ und „zusammenhängende Konzepte“ bezeichnet wird, habe ich bereits in Kapitel mit dem Konzept der Frames angesprochen und auch die Ausführungen zu cognitive und cultural models in Kapitel und Kapitel beziehen sich auf solche Prozesse.

Eben jene mentalen Konzepte sind es, unter welchen sich die Genres gruppieren und nicht die Textthemen. Anders ausgedrückt: Eine Scritta wie in Abb. 43, die im Vergleich zu einem mental repräsentierten Prototypen mehr oder weniger typisch ist, wird nicht zu einem Genre Politik zugeordnet, weil das Textthema Politik ist, sondern weil bestimmte Merkmale kognitive Wissensbestände aufrufen, die sich unter dem Begriff Politik bündeln lassen.

Achtung Banditen (ScriMuRo)

Achtung Banditen (ScriMuRo)

Die Bedeutung des individuellen und kulturellen Wissens wird hier besonders deutlich und erklärt gleichzeitig, weshalb man diese Scritta (als normaler Zeichenbenutzer) intuitiv einem Politik-Genre zuordnen würde: Das einzige Merkmal, von dem man annehmen kann, dass das Wissen darüber von einer relativ großen Personengemeinschaft geteilt wird (siehe DEFAULT), ist das semantisch spezifische Symbol des Hammer und Sichels. Das Wissen, dass es sich dabei um ein linkspolitisches Symbol handelt, wird durch dieses Zeichen aktiviert und reicht aus, um beim Betrachter eine Kategorisierung des Textes zu einem Genre Politik (mit der spezifischen Unterkategorie Linkspolitisch) zumindest vermuten zu lassen. Liegt entsprechendes Wissen zur Lokalität des Standortes (die Scritta befindet sich im oben beschriebenen Stadtviertel Tufello) vor, so erfolgt die Zuordnung schneller und sicherer – einfach weil der Standort beim Rezipienten die Erwartungshaltung für (links-) politische Scritte enorm steigert. Verfügt der Betrachter über spezifisches Wissen zu historisch-kulturellen Hintergründen des (links-) politischen Spektrums153 und über ausreichende sprachliche Kompetenzen154, besteht mit großer Wahrscheinlichkeit kein Zweifel für den Betrachter, dass es sich um eine politische Scritta handelt, d. h., dass die Zuordnung zum Politik-Genre zweifelsfrei logisch ist. Subsidiäre Merkmale, wie die rote Schriftfarbe, verstärkt die Zuordnung insofern, als die Farbe Rot aus historisch-kulturellen Gründen konnotativ mit Kommunisten verbunden wird.

Nichtsdestotrotz stellt sich die Frage, warum ausgerechnet nach solchen Kategorien (Politik, Liebe usw.) gruppiert werden sollte und nicht nach bspw. der Funktion.155 Meiner Ansicht nach ist eine mögliche Begründung dafür, dass eine Differenzierung zwischen Experten- und Laienwissen bzw. Experten- und Laienkategorisierung je unterschiedliche Arten des Umgangs mit Scritte Murali-Texten ergibt. Taylor unterscheidet zwischen expert categories, die sich über „the imposition of a set of criteria for category membership“ definieren, und folk categories (bzw. natural categories) des alltäglichen Lebens, „[which] are structured around prototypical instances and are grounded in the way people normally perceive and interact with the things in their environment“ (2003, 75). Experten tendieren dazu Abgrenzungskriterien zu erstellen, um klare Grenzen ziehen zu können und befriedigende Definitionen liefern zu können – wobei auch Sprachwissenschaftler keine Ausnahme bilden (vgl. Taylor 2003, 75). Ausgangspunkt ist also, wie Laien (i. S. v. ‘normalen Sprachbenutzern’) den Kommunikationsangeboten zu begegnen.

Um der chaotischen und überwältigenden Menge an Stimuli, der man im öffentlichen Raum ausgesetzt ist, Herr zu werden, muss selektiert und bestimmte Stimuli ausblendet oder ignoriert werden. Zu den Stimuli im öffentlichen Raum gehören dann auch Scritte Murali bzw. auf einer höheren Ebene Graffiti mit ihren vielen Unterformen. Kategorisierung spielt dabei eine entscheidende Rolle, da wir so Objekte, Aktionen und Events ordnen und uns entscheiden können, wie wir mit diesen Angeboten umgehen. Kommt der Betrachter nun zum Punkt, dass er eine Scritta aus welchen Gründen auch immer liest, so erfordert das Wesen der Scritte Murali, dass sich der Rezipient einen ersten Überblick über den Gegenstand verschafft – zunächst also die Frage nach dem ‘Was liegt hier überhaupt vor’. Wie gesagt, nicht nach den vertexteten Inhalten, sondern i. S. v. ‘Wie kann ich das Ganze benennen bzw. kategorisieren?’. Anders als bei anderen Kommunikationsangeboten im öffentlichen Raum, wie Straßenschildern, Werbetafeln, Zeitungskästen usw., ist bei den Scritte Murali die Kategorie eben nicht vorgegeben (da sie nicht reguliert sind) und eine Vororientierung ist daher nötig.156 Kategorisierung ist eine Frage des Sortierens innerhalb eines bestimmten Kontextes und dessen Anforderungen (vgl. Harnad 2005, 28). Die Anforderungen des Kontextes bei den Scritte Murali lässt zumindest vermuten, dass die Rezipienten bei einem Großteil der Scritte begrenzt Zeit haben, um das Objekt zu benennen, da sie sich in Bewegung befinden oder sich nur für eine begrenzte Zeit in Scritta-Nähe aufhalten.

Meiner Meinung nach ist für den Betrachter die Funktion der Scritta erst nach diesem Schritt der Gruppierung von Belang, da die Interpretation der Funktion (‘WOZU wurde diese Scritte erstellt?’) stark von der jeweils zugeordneten Domäne abhängt. Anders ausgedrückt: Der ‘normale Sprachbenutzer’ begegnet einer Liebes-Scritta anders als einer politischen Scritta, da die Domänen auf unterschiedliche Art und Weise mit seinem Leben zu tun haben. Eine solche Gruppierung gibt die Grundlage, die Scritta dementsprechend zu interpretieren, wie wir mit Objekten und Aktionen innerhalb der Domänen normalerweise interagieren.

Wie bei der Kategorisierung allgemein (vgl. Harnad 2005, 32), orientieren sich die Teilnehmer für eine erste Vorgruppierung der Scritta an den Merkmalen des vorliegenden Sprachmaterials und dabei v. a. an jenen, die semantisch besonders ‘aufgeladen’, sprich relativ deutlich abgegrenzt sind, und somit weniger Interpretationsspielraum bieten. Die Semantik sprachlicher Zeichen gibt die Kategorien sozusagen vor (s. o.; vgl. Adamzik 2016, 207 und 223). Funktionen, etwa im Sinne von ‘Soll mich überzeugen’ bzw. abstrakter ausgedrückt als ‘Appellieren’, ‘Informieren’ usw., sind dabei als Handlungen, die wiederum Teil von events sind, zu verstehen. Solche Handlungen oder events sind in einem Kategorisierungsprozess jedoch nicht so klar abzugrenzen wie Objekte (seien sie konkret oder abstrakt). D. h., die perzeptuellen und funktionalen Attribute von Objekten sind nicht nur unmittelbarer (direkter ablesbar), sondern im Vergleich zu den Attributen von Handlungen sind sie auch klarer definiert (vgl. Hanson/Hanson 2005, 12). Ganz abgesehen davon sind Kategorisierungsprozesse von Handlungen und events komplexer als die von Objekten, da sie „fusions of objects, organism and action categories“ darstellen (Ungerer/Schmid 2006, 109).157

Diese theoretischen Ausführungen werden recht schnell deutlich, wenn wir uns ein konkretes Beispiel vor Augen halten. Betrachtet man die oben gezeigte Scritta (Abb.33) Laziale albanese ASR, so ist es offensichtlich, dass eine Gruppierung dieser Scritta nach ihrer Funktion seitens eines ‘neutralen’ Betrachters weniger schnell erfolgen kann und auch bei weitem weniger klar ist, als für ein Mitglied einer Ultragruppierung. Für die Funktion müssen eben alle Merkmale miteinander abgeglichen und auf Basis der individuellen Wissenskonfigurationen interpretiert werden. Durchaus einfacher und schneller geschieht eine Gruppierung nach Domänen: Das sprachliche und semantische Wissen zu der Zeichenkombination ASR reicht aus, um den Text in einer Domäne des Fußballs zu verorten, da die inhaltliche Bedeutung von A.S. Rom keiner subjektiven Interpretation bedarf, um eine abstrakte Repräsentation abzurufen. Das Wissen zu laziale und albanese bedarf mehr Interpretationsarbeit, da ich zwar die Objekte den entsprechenden Kategorien zuordnen kann, die syntaktische Verbindung der beiden jedoch erst die richtige Kategorie (in etwa Fremdenfeindlichkeit) verrät. Die interpretierten Funktionen der Scritta sind dagegen höchst subjektiv, d. h., die Interpretation kann von Person zu Person völlig unterschiedlich ausfallen.158 Das Grundwissen, das für größere Personengruppen angenommen wird (siehe dazu Kapitel ), kann aus Sicht der Produzenten in erster Linie für die semantischen Inhalte der sprachlichen Zeichen vorausgesetzt werden. Dies ist für die Kategorisierung und letztlich für den gesamten Produktions- und Rezeptionsvorgang von großer Bedeutung, da die Teilnehmer davon ausgehen, dass bestimmte Merkmale ‘objektiv’ sind und nicht auf einer rein individuell-subjektiven Interpretation basieren. Dabei ist mit ‘objektiven’ Merkmalen weder gemeint, dass diese Merkmale nicht subjektiv gedeutet werden, noch, dass sie den Objekte per definitionem inhärent sind. Die Merkmale erscheinen lediglich als objektiv, weil die Teilnehmer annehmen (können), dass sie von größeren Personengruppen ähnlich wahrgenommen bzw. verstanden werden (vgl. Kleiber 1998, 66-68). Eines der aus dieser Sicht ‘objektivsten’ Merkmale sind die sprachlichen Zeichen mit ihren semantischen Inhalten.159

Zuletzt möchte ich kurz auf die Bezeichnung der Gruppen, nach welchen auf eben beschriebene Art und Weise geordnet wird, eingehen. Terminologische Abgrenzungen sind an dieser Stelle besonders wichtig, da die Bezeichnungen mit der Analyseebene zusammenhängen und die oftmals voneinander abweichenden Bezeichnungen in der Fachliteratur der entsprechenden Wissenschaftsbereiche erschweren das Verständnis, auf welche perspektivische Ebene man sich bezieht (vgl. Busse 2012, 698). Möglich wäre es diese als thematische Gruppen zu bezeichnen, ich meine jedoch, dass dabei zu sehr der Eindruck erweckt wird, es handle sich um die Textthematiken. Einen aus meiner Sicht geeigneten Begriff findet man bei Langacker (1987) und den von ihm beschriebenen domains und zwar in der grundlegenden Bedeutung des Begriffs der sog. abstrakten Domänen. Langacker bemerkt dazu in einer Fußnote, dass „[an] abstract domain is essentially equivalent to what Lakoff […] terms an ICM (for idealized cognitive model) and what others have variously called a frame, scene, schema or even script(Herv. im Orig; 1987, 150).160 Nach Taylor kann prinzipiell jede Konzeptualisierung oder Wissenskonfiguration, ganz gleich wie schlicht oder komplex sie sein mag, als semantische Domäne fungieren, auf deren Hintergrund Bedeutung beschrieben und verstanden wird (2003, 88). Langacker definiert Domänen als „coherent area[s] of conceptualization relative to which semantic units may be characterized“, wobei „[three-dimensional] space, smell, color, touch sensation, etc.“ sog. basic domains darstellen und Konzepte oder konzeptuelle Komplexe mit jedweder Art von Komplexität als abstract domains fungieren können (1987, 488). Nun können manche Einheiten mit Bezug auf lediglich eine Domäne erklärt werden, wahrscheinlicher ist es jedoch, dass sprachliche Formen auf dem Hintergrund mehrerer Domänen gleichzeitig verstanden werden – dies wird als domain matrix bezeichnet (vgl. Taylor 2003, 89; Cienki 2010, 183). In der Fachliteratur finden sich zahlreiche Beispiele, um diesen Ansatz zu verdeutlichen. Langacker stellt es am Beispiel der Knöchel dar: KNÖCHEL kann nur auf dem Hintergrund der Domäne FINGER verstanden werden, FINGER nur anhand der Domäne HAND, HAND anhand von ARM und ARM anhand von KÖRPER (vgl. 1987, 147-148).

Für den Bereich der Scritte Murali heißt das, dass die Domänen (-Matritzen), auf deren Hintergrund die Einheiten oder Token verstanden werden, als Abgrenzungsinstrument fungieren. Vereinfacht gesagt, ist eine Domäne für das Token ASR FUSSBALL, wobei andere Domänen wie SPIELER, VEREINSFARBEN oder FANGRUPPIERUNGEN damit verbunden werden. Mit dem Bewusstsein, dass es sich um eine transgressive und inoffizielle Kommunikationsform handelt und daher nicht zum offiziellen Kommunikationskanal des A.S. Rom als Fußballverein zählt, scheint eine Zuordnung der Scritta zu einer Domäne ULTRAS sinnvoll. Ähnliches gilt für Symbole wie keltische Kreuze oder Hammer und Sichel, die über die Domäne POLITIK verstanden werden. Innerhalb der Vororientierung sind solche weitgefassten Wissenskomplexe erstmal ausreichend, um sich einen ersten Überblick zu verschaffen. Bei ‘Interesse’ können dann alle weiteren Attribute skrutiniert – wobei die evozierten Frames/Domänen/Schemata/kognitiven161 Modelle eine fundamentale Rolle spielen – und die Funktionen interpretiert werden.

Eine weitere Beobachtung, die besonders für den Ansatz der Basiskategorien von Bedeutung ist und, nachdem die Genre-Gruppen auf dieser Ebene zu vermuten sind (siehe DEFAULT), an dieser Stelle erwähnt werden sollte, bezieht sich auf die sog. ‘Teil-von’-Merkmale. Nach Rosch und ihren Kollegen (1976) handelt es sich bei den Kategorien der Basisebene um die informativste Ebene und dies liegt auch daran, dass die Basisebene im Gegensatz zu den anderen Ebenen von solchen Teil-von-Merkmalen dominiert ist, d. h., dass hier besonders viele, distinkte Merkmale zu finden sind, die auf Bestandteile von Objekten verweisen (vgl. Kleiber 1998, 69-70). Ungerer und Schmid bemerken im Zusammenhang mit type-of und part-whole Hierarchien, dass

Although they do not allow the quantification of instances of a certain category, uncountable terms like TRAFFIC, DEMOCRACY (or TELEVISION, SPORTS, RECREATION, etc.) are well suited to absorb everything that we connect with these categories. In this way, partonymic links contribute an important share to the construction of cognitive models and the networks in which they are assembled […].(Ungerer/Schmid 2006, 90)

Genau dies ist es, was im Rahmen der Vororientierung letztendlich geschieht: Termini wie LIEBE, ULTRAS, POLITIK usw. erlauben es dem Betrachter alle Scritte, die über besonders saliente und informationsreiche Merkmale mit den entsprechenden Kategorien in Verbindung stehen, diesen Domänen zu zuordnen.162

Betrachtet man den Sachverhalt aus Sicht der frame-semantischen Ansätze163, so muss grundlegend festgehalten werden, dass im Rahmen dieser Arbeit die Zuordnung zu den Frames (oder eben Domänen) nicht aus sprachhandlungstheoretischer Sicht geschieht – was durchaus möglich wäre -, sondern dass kognitive (oder epistemische)164 Organisationsabläufe im Vordergrund stehen. Dies bedeutet, dass bei der kategorialen Vorsortierung nicht der illokutionäre Gehalt des Text(teils) ausschlaggebend ist, sondern die Zuordnung von Attributen und Werten zu Kategorien. Die sprachlichen Einheiten (oder Token) evozieren somit Frames bzw. (implizit oder explizit) werden durch diese Token spezifische Bezugs- oder Referenzstellen beim Rezipienten aufgerufen, sog. slots oder Leerstellen (vgl. Ziem 2008, 299). Diese slots entsprechen den Attributen und können „vorausgesetzte und prototypisch erwartbare Füllwerte der Leerstellen“ (Ziem 2008b, 98) vorgeben (default values) oder explizit – d. h. auf der Textoberfläche – innehaben (sog. fillers). Fillers entsprechen also den konkret – d. h. in den Scritte-Texten – vorliegenden Informationseinheiten, default values liegen dagegen nicht konkret vor, sondern sind lediglich typischerweise erwartbare Füllwerte/Fillers (vgl. Ziem 2008b, 98).165 Tatsächlich evozieren nicht alle Token Frames, sondern bestimmte Kernelemente der Texte (i. S. v. Schlüsselausdrücken) aktivieren die entsprechen Wissensstrukturen (vgl. Fraas/Meier 2013, 139)166 – in der vorliegenden Arbeit werden diese Kernelemente als frame-identifier bezeichnet (siehe DEFAULT). Die Alltagserfahrungen spielen bei der Ermittlung dieser Leerstellen eine wichtige Rolle, wobei die Leerstellen, nach Ziem, als sinnvolle Fragen (in Bezug auf das Bezugsobjekt) zu begreifen sind (vgl. 2008, 304). Fillmore gibt schon in einer seiner frühen Arbeiten ein Beispiel dieser möglichen Fragen anhand des Verbes ‘schreiben’: Was wurde geschrieben? Worauf hast du geschrieben? usw. Handelt es sich dabei um einen Brief so werden wiederum eine Vielzahl an Leerstellen bzw. Fragen möglich: Wem schreibst du? Wann schickst du den Brief ab? usw. (vgl. Fillmore 1977, 64-65). Die Frames lassen sich demnach rekurrent in immer weitere Frames einbetten oder mit diesen verknüpfen, wobei mit steigendem Abstraktionsgrad der Frames auch die Fragen abstrakter werden und v. a. die Anzahl der möglichen Fragen sinkt (vgl. Ziem 2008, 306). Demnach ist es auch möglich, „die Menge möglicher Fragen so zu strukturieren und in Teilmengen zu gruppieren, dass sich letztlich eine überschaubare Menge an Fragen resp. Leerstellen ergibt“ (Ziem 2008, 306). Busse fasst dazu zusammen:

Sprachverstehen ist durchgängig Aktivierung von Frame-förmig organisierten Elementen und Strukturen des verstehensrelevanten Wissens. Einzelne Wörter evozieren Frames, und die Kombinationen von Wörtern schränken die Bereiche und den Umfang der evozierten Frames ein, indem sie durch Kontextualisierung einzelne der möglichen Attribute (Slots) der aktivierten Frames fokussieren (und latent andere ausblenden bzw. in den Hintergrund rücken) und / oder mögliche Filler / Werte für einzelne Attribute evozieren, oder auch zur Aktivierung völlig anderer Frames für das Nachbar-Wort veranlassen. Dabei interagieren i.e.S. sprachbezogene Frames (z. B. auf Wortarten und andere sprachliche / grammatische Phänomene bezogene Frames) mit anderen Weltwissens-Frames, indem die jeweils aktivierten Frames sich in ihrer Aktivierung gegenseitig beeinflussen. Dies geschieht als ein probabilistischer fortlaufender Abgleich-Prozess […], bei dem spontan evozierte Frames auch verworfen und durch passendere alternative Frames ersetzt werden können.(Busse 2012, 704)

Entscheidend für die Zuordnung der Scritte zu Domänen ist nun, dass die, durch die Token oder -kombinationen evozierten, Teil-Frames über interpretierende Prozesse in jeweils übergeordnete, abstraktere Frames zusammengefügt werden. (Solche taxonomischen Hierarchien i. S. v. Schema-Instanzbeziehugen, sind in der Linguistik allgemein bekannt als Hyperonymie- und Hyponymiebeziehungen.) Psycholinguistische Forschungsarbeiten haben gezeigt, dass die Bildung solcher Frame-förmigen Wissenskomplexe durch „fortlaufendes Springen zwischen kompositionellen („bottom-up“) und deduktiv-ganzheitlichen oder gestalthaften („topdown“) kognitiven Aktivitäten“ vollziehen (???) – siehe hierzu die oben stehenden Ausführungen zur domain matrix und dem KNÖCHEL-HAND-Beispiel.

Offensichtlich sind solche verstehensrelevanten Zuordnungen immer stark subjektiv geleitet, da die Interpretation der Zeichen(folgen) durch die Rezipienten im konkreten Kontext interpretiert werden und dies auf Basis der sozio-biografischen Erfahrungen, der Interessen und Intentionen seitens der Rezipienten geschieht.167 Wissenschaftliche Analysen, die mit Instrumenten aus der Frame-Semantik arbeiten, können somit das Sprachverstehen nur anhand von Grundstrukturen rekonstruieren oder sich auf ausschnitthafte Einzelanalysen beschränken (vgl. Busse 2012, 705). Im Fall der vorliegenden Arbeit handelt es sich also um die wissenschaftliche Rekonstruktion solcher grundlegende Verstehensprozesse, die aus Sicht eines Rezipienten (nämlich des Verfassers dieser Arbeit) vorgenommen werden. Der komplexe Gesamtprozess des Sprachverstehens in Bezug auf Wissensstrukturen wird im Bereich der Frame-Theorie als Framing bezeichnet, wie Fraas und Meier zusammenfassen: „Framing betrifft den Prozess der Aktivierung kognitiver Strukturen in konkreten Kommunikationssituationen, also den Prozess der Kontextualisierung, Bedeutungskonstitution und Interpretation, der mit Komplexitätsreduktion, Kategorisierung, Perspektivierung, Selektion und Salienz verbunden ist“ (2013, 140). Für die Scritte Murali ist dabei das erweiterte Konzept des sog. visual framing von besonderer Bedeutung, da auf den drei Prozessebenen des Framing nicht nur sprachliche Zeichen von Bedeutung sind, sondern auch multimodale Merkmale der Texte miteinbezogen werden, der konkrete Kontext zentral ist – bei den Scritte, wie ich wiederholt erwähnt habe, betrifft dies v. a. den Standort – und schliesslich um die „Perspektivierung hinsichtlich der kommunikativen Auswahl“ (Fraas/Meier 2013, 141). Die erste Ebene bezieht sich auf die Prozesse der Bedeutungskonstitution innerhalb des Sprachverstehens, wobei im Rahmen des visual framing neben den lexikalischen Zeichen im Text auch bildgraphische Zeichen, Farben, Erstellungswerkzeug usw. (siehe dazu anschließend Kapitel ) der Bedeutungskonstitution der Texte beitragen. Framing ist auf einer zweiten Ebene aus soziologischer Sicht relevant, da es (das Framing) die interpretatorischen Prozesse von vorliegenden Situationen beschreibt (vgl. Goffman 1974), d. h., „[hier] werden Frames als kognitive Strukturen gesehen, die im Gedächtnis Organisationsprinzipien alltäglicher sozialer Situationen speichern und im Bedarfsfalle zur Verfügung stellen, wodurch alltägliches Handeln erst möglich wird“ (Fraas/Meier 2013, 141). Auch bei diesem Prozess spielen nicht nur sprachliche Aspekte eine Rolle, wenn sich der Rezipient frägt „what is it that’s going on here?“ (Goffman 1974, 8). Die dritte Prozessebene liegt im Bereich der Kommunikationswissenschaften und Wissenssoziologie sowie der Social Movement Theory, wobei hier von Belang ist, dass Sprachbenutzer in der Sprachgemeinschaft bewusst Kommunikationsstrategien erarbeiten und sich gewisse Modi-Kombinationen zu Nutze machen, um Gesellschaftszustände hervorzuheben und die Interpretation und Sichtweise auf die gleichen hervorzuheben (vgl. Fraas/Meier 2013, 141-142).168 Für die Abgrenzung der Genres ist es unerheblich, ob man die im Rahmen dieses komplexen Prozessverbundes (Framing) aktivierten Wissensstrukturen nun frames, idealized cognitive models (ICM) oder domains nennt – in der vorliegenden Arbeit handelt es sich dabei lediglich um eine terminologische Festlegung.

Entscheidend – und dies v. a. in Hinblick auf die Zuordnung bei der Erstellung des Korpus (siehe DEFAULT und DEFAULT) – sind zwei oben bereits erwähnte Aspekte: erstens die Abstraktionsprozesse bei der Verarbeitung des Sprachmaterials und zweitens die subjektive Basis der Interpretations- und Verstehensarbeit. Um eine Scritta vorsortieren zu können, d. h., sich einen Überblick schaffen zu können, müssen die Teil-Frames der Gesamtscritta in übergeordnete Zusammenhänge gebunden werden, um die Komplexität zu vermindern und das Sprachmaterial (vorläufig) „auf einer höheren Stufe kognitiv verarbeiten“ zu können (Ziem 2008b, 101). Es handelt sich also um eine vertikale, paradigmatische Dimension der Frame-Organisation, die hier der horizontalen Dimension vorsteht, wobei letztere „die Verschränkung von Frames entlang der syntagmatischen Organisation sprachlicher Einheiten thematisiert“ (Ziem 2008b, 101). Diese übergeordneten Frame-Komplexe (oder Matrix-Frames, Matrix-Domänen oder im Kontext dieser Arbeit eben vereinfacht bezeichnet als Domänen) sind insofern wichtig, da „vertikal verschränkte Frames danach fragen, inwiefern der Bedeutungsgehalt der anvisierten sprachlichen Einheiten durch übergeordnete – und mithin ‘abwesende’ Frames – mitbestimmt wird“ (Ziem 2008b, 102). Der zweite bedeutende Aspekt betrifft das Moment der Subjektivität bei den Verarbeitungsprozessen. Grundlegend werden Frames auch als „Alltagstheorien über Gegenstände und Verhältnisse in der Welt“ verstanden, d. h., Erfahrungen werden verarbeitet und gespeichert (vgl. Busse 2012, 547). Erfahrung kann dabei als kollektives oder individuell-persönliches Konzept gesehen werden, wobei

Frames (a) ordnen Erfahrungen einem Typ zu, (b) geben der Erfahrung eine Struktur, und (c) geben ihr Kohärenz. Das ‘Framing’ […] erzeugt ‘selektierte, gefilterte, und verallgemeinerte Erfahrungen’; die Wörter verweisen auf die so bearbeiteten Erfahrungen und strukturieren so das enzyklopädische und das semantische Gedächtnis zugleich. Diese Organisation der Erfahrungen verändert sich […] akkumulativ mit der Zunahme der Zahl von Situationen der ‘Einzelerfahrung’ und führt zu einer weiteren Ausdifferenzierung, möglicherweise auch zu zusätzlichen Abstraktionsstufen der Frame-Struktur. Gerade der für die Frame-Theorie so wichtige Aspekt der ‘Ausfüllung von Leerstellen’ ist nach dieser Auffassung eng an persönliche kommunikative und Lebenswelt-Erfahrungen der Individuen gebunden.(Herv. SL; Busse 2012, 548)

Dies bedeutet, dass die Scritte sowohl auf den persönlichen (lebensweltlichen, wie kommunikativen) Erfahrungen von Einzelpersonen als auch auf kollektiv (i. S. v. sozial geteiltem) vorhandenem Wissen (siehe auch DEFAULT) kategorisiert wird. Die Spracheinheiten – aber auch bildgraphische Zeichen – „sozialisieren“ diese Kategorisierungsleistungen169, „indem sie deren Ergebnisse ‘kommunizieren’, aber auch, indem sie dafür ‘Kristallisationspunkte’ abgeben“ (Busse 2012, 550) – konstruiert werden die Wissenskonstrukte aber immer individuell.170 Die Rekonstruktion dieser Kategorisierungsprozesse im Rahmen dieser Arbeit und somit auch der konkreten Zuordnung der Scritte zu Domänen (siehe DEFAULT) geschieht genau auf diesem Hintergrund, nämlich durch die Interpretation der kommunizierten Ergebnisse. Dies bedeutet in der konkreten Situation dann aber auch, dass die Zuordnung der Scritte zu Domänen (oder Frames) sowie die Verbindung der Frames unter einander – also sowohl in horizontaler als auch vertikaler Dimension – niemals allgemeingültig gelten kann, da sie stark von der Einzelperson abhängig ist.171 Dass Frame-Aktivierung grundlegend auf Erfahrungen gründet, bedeutet gleichzeitig, dass die Relevanz der Sprachzeichen – oder eben Scritte und deren Domänen – mitentscheidend ist, sprich, ob die Domänen der Scritte von höherer oder niedrigerer Bedeutung im (praktischen oder geistigen, also allgemein lebensweltlichen) Alltag der Sprachbenutzer ist (vgl. Busse 2012, 550).

Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass die oben beschriebenen Abläufe als idealisiert und stark vereinfacht verstanden werden müssen. Die Prozesse sind höchst komplex und geschehen in der kommunikativen Wirklichkeit nicht nur auf oft unbewusste Art und Weise, sondern werden nachhaltig durch die individuellen Wissensbestände und Lebensumstände der Rezipienten beeinflusst. Idealisiert ist demnach die Annahme, dass generell für größere Rezipientengruppen solche Prozesse angenommen werden können. Für die Realität bedeutet dies bspw., dass die Betrachter den Scritte nicht wort-wörtlich Domänen ‘zuschreiben’, sondern entscheidend ist, dass bei den kognitiven Kategorisierungsprozessen auf solche Domänen zurückgegriffen wird. In der kommunikativen Wirklichkeit kommt es außerdem nicht selten dazu, dass Scritte keiner solchen Domäne zugewiesen werden können oder eine Zuordnung nicht eindeutig oder nur äußerst vage erfolgen kann. Dies geschieht insbesondere dann, wenn keine distinkten Zeicheneinheiten mit deutlichem Zeicheninhalt vorliegen, wenn die Zeicheninhalte auf mehrere Domänen in gleichem Maße verweisen oder verschiedene Zeicheneinheiten auf völlig unterschiedliche Domänen deuten. In solchen Fällen können andere Attribute, die weniger salient und von geringerem semantischen Gehalt sind (wie bspw. der Ort, Farbe oder die Typographie), von großer Bedeutung sein, da über sie die entsprechenden Domänen und Wissensstrukturen inferiert werden können, um schließlich die Scritta deuten zu können. So mag Wissen über das Stadtviertel, in welchem sich die Scritta befindet, die vorliegende Farbwahl, typographische Aspekte oder die räumliche Nähe zu anderen (deutlicheren) Scritte Hinweise darauf liefern, dass die Scritta in den Domänen XY zu verorten ist. In der Scritta Gli amici ti salutano Ciao Edoardo (siehe Abb. 37) fehlen bspw. eindeutige Hinweise auf Ultras oder politische Symbole. Die saliente und recht spezifische Typographie (oben beschrieben als Fasciooder Ultras-Font; siehe DEFAULT) lässt jedoch vermuten, dass es sich um eine Scritta aus einer der Domänen ULTRAS oder POLITIK172 (oder eventuell beiden) handelt.

4.3. Attributsklassen der Genre-Prototypen

Der letzte Schritt in der Erstellung eines Analyse-Modells für Scritte Murali bezieht sich auf die Fixierung der Attributsklassen, nach welchen die domänen-spezifischen Prototypen gebildet werden. In den Kapiteln über die theoretischen Grundlagen der Prototypen (siehe DEFAULT) und der Zuordnung zu Domänen (siehe DEFAULT), ist wiederholt die zentrale Bedeutung der Attribute allgemein, aber auch ihrer Distinktivität und Spezifik, herausgestellt worden. Aufbauend auf diesen Beobachtungen, möchte ich nachfolgend in knapper Form die Attribute für die Genre-Prototypen speziell für Scritte Murali zusammenfassen.173

Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wurden keine Experimente durchgeführt, um die wesentlichen oder typischen Merkmale der SM-Prototypen zu ermitteln174, sondern die Attribute müssen aus den vorliegenden Korpusdaten zum Sprachmaterial ermittelt werden. Bei der Annotation (siehe dazu genauer DEFAULT) wurde versucht möglichst alle visuell direkt ablesbaren Merkmale zu erfassen und den Merkmalswert für jede Scritta bzw. jedes Token einzutragen. Basierend auf den bisher erfolgten Ausführungen zu den theoretischen Grundlagen, können die Attribute an dieser Stelle gruppiert werden. Besonders die Bedingungen, dass Prototypen über informationsreiche Attributsbündel verfügen, die nicht zwingend vorliegen müssen, graduell auf die Scritte zutreffen können und untereinander verschiedenartig gewichtet werden, spielen dabei eine entscheidende Rolle.

Loffa/Lotta studentesca (ScriMuRo)

Loffa/Lotta studentesca (ScriMuRo)

An der Scritta in Abb. 44 exemplarisch dargestellt, lassen sich folgende Attributsklassen unmittelbar ablesen:

  • Sprachliche Zeichen und diesen untergeordnet die Klassen
    • Lexik (Wortfelder/Schlüsselwörter/Frames)
    • Sprachen175 und dialektale Varianten
    • Kürzungsverfahren176
    • Wortarten177
    • Syntagmatik178
  • Bildgraphische Zeichen179
  • Tokenzahl180 (sowohl sprachliche als auch bildgraphische Zeichen)
  • Farbe181
  • Typographie182
  • Träger183
  • Erstellungswerkzeug184

Ein weiteres Merkmal, dem eine zentrale Bedeutung zugeschrieben werden muss (siehe DEFAULT), ist der Standort der Scritta. Jedoch ist dieser nicht wirklich ‘ablesbar’ (d. h., es sind keine Koordinaten an der Scritta unmittelbar ablesbar), sondern eher ‘erfahrbar’.185 Der Betrachter ist sich bewusst in welchem Stadtviertel und/oder an welchem Punkt genau er sich in diesem Gebiet befindet und in welches die Scritta eingebettet ist. Hier im Beispiel ist die Scritta auf einer Begrenzungsmauer des Liceo Augusto an der Grenze des Stadtviertels Appio Latino angebracht. Der Rezipient kann sich dessen bewusst sein – abhängig davon, zu welchem Grad er oder sie über Hintergrund Informationen zum Standort verfügt und v. a. wie viel Bedeutung er oder sie dem Standort beim Verstehensprozess der Scritta zuschreibt. Die genauen Ortsdaten sind zwar im Korpus mit erfasst, werden jedoch erst in einem nächsten Schritt berücksichtigt, d. h., dass die Genre-Prototypen in Hinblick auf die Ortsdaten interpretiert werden und dies in unterschiedlichen Konstellationen.

Wie aus den grundlegenden Bedingungen der Prototypikalität in Kapitel hervorgegangen ist, sind die Attribute bzw. Attributsklassen in Bezug auf die Typikalität der Exemplare nicht gleichwertig, sondern stehen in Abhängigkeit von quantitativen und qualitativen186 Maßstäben, was eine Gewichtung der Attribute zur Folge hat (siehe DEFAULT). Auf Basis dieser theoretischen Grundlage, können die oben genannten Attributsklassen nun unterschiedlich gewichtet werden, wobei zu beachten ist, dass sich diese Gewichtung zunächst ganz generell auf die Prototypikalität bezieht und daher die Qualität der Attributsklassen entscheidend ist. Die Frage lautet also, welche der oben genannten Attribustklassen für die Bildung eines Prototypen wichtiger und welche weniger wichtig sind und warum dies der Fall ist. Die Quantität wird an dieser Stelle noch ausgeklammert, da sie sich auf die konkreten, statistischen Werte der Korpus-Auswertung bezieht, d. h., die Frage welche Attributsklassen höher gewichtet werden müssen, da sie bspw. (auch im Vergleich zu anderen Genre-Prototypen) auffällig häufig auftreten, kann erst nach der Auswertung interpretiert werden. Qualitative Maßstäbe dagegen können bereits im theoretischen Rahmen des Analyse-Modells zur Gewichtung der Attributsklassen herangezogen werden.

Zwei Faktoren sind für die ‘Gewichtsgruppen’ der Attributsklassen ausschlaggebend: erstens die Annahme, dass der Informationsreichtum der Attribute ein zentraler Aspekt bei der Protoypenbildung ist (siehe DEFAULT und besonders DEFAULT), und (daran anschließend) zweitens, die semiotischen Parameter der Attributsklassen (siehe DEFAULT), anhand welcher sich der informative Gehalt – also die Semantik – der Attributsklassen erklären lässt.

Auf die Ausführungen zu den Zeichenmodalitäten von Hartmut Stöckl (2016) bin ich bereits zu sprechen gekommen, da sie für eine Abgrenzung von Scritte Murali besonders geeignet sind. Aus semiotisch-dimensionaler Perspektive betrachtet, lassen sich Informationen zum Ausdruckspotenzial und damit einhergehend zur Gewichtung der oben aufgeführten Attributsklassen ableiten. Besonders interessant sind dabei offensichtlich Ansätze, welche sich unter der Dimension der Semantik zusammenfassen lassen, aber auch die Dimensionen der Syntax und Pragmatik liefern wertvolle Hinweise auf den Informationsgehalt der Klassen. Im Bereich der form-bezogenen Aspekte (also aus der Dimension der Syntax) nehmen die sprachlichen Zeichensysteme eine herausragende Stellung ein, da sie über „eine große Menge distinkter Einzelzeichen“ (Lexik) verfügt, anhand welcher „vielfältige und systematische Sinnbezüge“ (Paradigmatik) hergestellt werden und zu „größeren Aussageeinheiten verknüpft“ werden können, woraus sich die wesentliche „semantisch-kommunikative Stärke von Sprache“ ergibt (Stöckl 2016, 11). Ganz grundlegend ist dabei das Ausdruckspotenzial der Zeichenmodalitäten, welches demnach bei Sprache enorm ist. Der (zumindest im Vergleich zu anderen Zeichenmodalitäten) klare Bezug zu Referenzobjekten und Konzepten (oder, weiter gefasst, Frames), die Effabilität und die Möglichkeit über Wortarten, Lexik und Kombinatorik, Narrationen, Explikationen und Argumentationen auszudrücken, deutet darauf hin, dass sprachliche Zeichen – und den darunter zusammengefassten Attributsklassen, die sich letztlich genau auf dieses Potenzial der sprachlichen Zeichen beziehen – als besonders informationsreiches Attributsklasse gelten müssen und somit von hohem Gewicht sind (vgl. Stöckl 2016, 17).

Ebenfalls als Token gelten die bildgraphischen Zeichen, worunter zunächst alle nicht-sprachlichen Zeichen (also auch Symbole, wie Hakenkreuze, oder Ikone/‘Abbilder’, wie z. B. in Stencil-Scritte) zusammengefasst sind. Ikone (i. S. v. Bildern) verfügen zwar nicht über die Möglichkeit distinkte Einzelzeichen mit klarer Referenz linear zu verketten, wie dies bei sprachlichen Zeichen der Fall ist, aber sie sind aus semantischer Sicht aufgrund „ihre[s] graphischen Darstellungsreichtum[s]“ äußerst ausdrucksstark, da sie „informatives Explodieren“ und außerdem „konnotative Bedeutungen und emotionale Anmutungen ermöglich[en]“ (Stöckl 2016, 14). In jedem Fall sind bildgraphische Zeichen ebenfalls von hoher semantischer Dichte und deshalb von zentraler Bedeutung. Die Attributsklasse Tokenzahl bezieht sich sowohl auf sprachliche als auch bildgraphische Zeichen und wird demnach als ebenfalls zentrale Attributsklasse gewertet.

Deutlich wird die unterschiedliche Gewichtung nun, wenn man die anderen Attributsklassen (Farbe und Typographie, Träger und Erstellungswerkzeug) mit den sprachlichen und bildgraphischen Zeichen in Bezug auf ihr semantisches Ausdruckspotenzial vergleicht. Zweifelsohne können Typographie und Farbwahl der Zeichen bei der Sinngenerierung bzw. beim Verständnisprozess der Botschaft von erheblicher Bedeutung sein, wie teilweise schon in den Beispielen der vorangegangen Kapitel deutlich geworden ist (man denke bspw. an den Fascio-Font). Jedoch sind diese Designmodi (vgl. Schmitz 2016; Spitzmüller 2016; Stöckl 2004) ausschließlich an die Token gebunden187 und ihre Referenz ist im Vergleich zu den sprachlichen und bildgraphischen Zeichen bei weitem nicht so eindeutig. Die blaue Farbe der Scritta in Abb. 26 mag bspw. eine unterstützende Rolle in Bezug auf die Kategorisierung zu einem Genre ULTRAS spielen, ist von der Gewichtung her jedoch eindeutig den sprachlichen Zeichen (v. a. der Lexik und Syntagmatik) untergeordnet. Oder anders ausgedrückt: Die Verwendung der Farbe Blau unterstützt die Kategorisierung und letztlich das Verständnis der Scritta, wäre für sich allein genommen jedoch kaum von ausreichendem semantischem Gehalt – im Gegenteil zur Verwendung der spezifischen Lexeme Ultra und der Konstruktion [NPR vive].188 Die in den Scritte verwendeten Farben erhalten ihre Semantik, wenn sie denn von hoher Bedeutung ist, lediglich über die sprachlichen und bildgraphischen Zeichen und nicht autonom. Extremfälle wie der Fascio-Font im Bereich der Typographie sind eventuell von der Semantik eindeutiger (der Fascio-Font verweist recht genau auf bestimmte Referenzbereiche), ergibt jedoch ebenfalls nur in Kombination mit den noch eindeutigeren sprachlichen Zeichen Sinn. Diesen Attributsklassen sind also von sekundärer Bedeutung189 und demnach geringer zu werten, als die Attributsklassen der Token.

Zuletzt sind die technisch-materiellen Attributsklassen der Trägeroberfläche und der Erstellungswerkzeuge zu gewichten. Die Bedeutung der beiden Attributsklassen im Verbund gesehen ist hierbei nicht von Interesse, da sie sich auf die Scritte Murali als Kommunikationsform und daher auf die übergeordnete Ebene bezieht. Das Verfahren mithilfe bestimmter Werkzeuge (Stift, Sprühdose usw.) auf dafür nicht vorgesehenen Flächen Zeichen zu erstellen, mag per se von Bedeutung sein190, spielt aber für die domänen-spezifische Bildung von Prototypen keine Rolle, da es sich dabei nicht um ein genre-spezifisches Attribut handelt. Für sich betrachtet scheint die Trägerfläche zunächst keine Bedeutung zu tragen, da sich die Produzenten bei der Erstellung offensichtlich an die vorhandenen Trägerflächen halten müssen. Jedoch besteht die Möglichkeit, dass Tazebao oder Sticker verwendet werden, was dahingehend bedeutungsvoll sein kann, dass der Aufwand der Erstellung und des Anbringens etwas über die (Stellung der) Produzentengruppe (im Stadtviertel) aussagt. Trotzdem bleibt das semantische Potenzial auch hier weit hinter jenem der sprachlichen und bildgraphischen Zeichen. Mit der Klasse der Erstellungswerkzeuge verhält es sich ähnlich – die Auswahl der Werkzeuge ist begrenzt und gilt letztlich für alle Scritte Murali – aber die Wahl des Werkzeuges impliziert die visuell sichtbare Größe der Scritta (im Vergleich zum sonstigen Sichtfeld): Eine Scritta wie im Paolo di Nella-Beispiel (siehe Abb. 29) anhand eines Filzstiftes zu erstellen entbehrt jeder Logik. Die (relative) Größe mag für die Typikalität einer Scritta von Bedeutung sein, ist jedoch – ähnlich wie die Klassen der Farbe und der Typographie – ebenfalls an die Token gebunden und für sich genommen nicht von Bedeutung. Attribute dieser technisch-materiellen Dimension nehmen daher eine subsidiäre Stellung ein und sind von geringerem Gewicht.

Die quantitativen Aspekte in Bezug auf die Attribute (siehe DEFAULT), geben nicht nur den methodischen Rahmen vor (d. h., wie die Attributsklassen ausgewertet werden sollen), sondern begründen gleichzeitig die Typikalität der Attributswerte. Dies wurde in den Ausführungen zu Givóns Schema in Kapitel bereits angedeutet: Nach Givón tendieren typische Attribute dazu bei den Exemplaren zu koinzidieren (vgl. 1986, 79), sprich, der Prototyp wird über die Schnittmenge der am häufigsten auftretenden Attributsklassen (oder –dimensionen) ermittelt (vgl. Kleiber 1998, 52). Konkret bedeutet dies, dass die Werte der attributiven Klassen der domänen-spezifischen Genres nach ihrer Häufigkeit interpretiert werden. Aus prototypen-semantischer Perspektive wird die Vorhersehbarkeit – die sich aus der (relativen) Häufigkeit der Token(folgen) rekonstruieren lässt – von Eigenschaften/Attributen für Exemplare einer Kategorie und der daraus resultierenden Kategoriezugehörigkeit als cue validity bezeichnet (vgl. Rosch/Mervis 1975, Lakoff 1987, Kleiber 1998).191

Frequente Kollokationen (i. S. v. zwei Token, die frequent und/oder überzufällig oft nahe zusammen im Korpus auftreten; vgl. Bubenhofer 2009) oder Mehrworteinheiten (i. S. v. zwei oder mehr Token, die frequent und/oder überzufällig oft nahe zusammen im Korpus auftreten; vgl. Bubenhofer 2009), überzufällig frequente Lexeme (bspw. Schlüsselwörter) oder die auffällig häufige Verwendung von dialektalen Varianten wären dann Beispiele für typische Attribute der Genre-Prototypen. Gleichzeitig kann ein binäres Zutreffen von Bedeutung sein: Attribute sind nicht nur dann typisch, wenn sie bei einem Genre auffällig oft auftreten, sondern auch, wenn sie ausschließlich bei einem Genre zu finden sind, selbst wenn dies nur einen geringen Teil in Bezug auf die prozentualen Anteile der anderen Attributswerte ausmacht. Anders ausgedrückt bedeutet dies z. B., dass die Konstruktion [Maurizio vive] in Liebes-Scritte nie auftaucht, sondern ausschließlich in der Domäne ULTRAS, gleichzeitig in diesem Genre jedoch nicht besonders frequent ist im Vergleich zu anderen Kollokationen oder Bi-Grammen der Art [NPR vive]. Ein weiteres Beispiel wäre die exklusive Verwendung der baskischen Sprache im Genre POLITIK, die zwar exklusiv im Genre POLITIK, dabei jedoch äußerst selten verwendet wird – trotzdem spricht dies bis zu einem gewissen Grad dafür, dass die baskische Sprache typisch für das Politik-Genre ist bzw. typischer als für andere Genres, da es dort nie auftritt. Die statistischen Werte müssen demnach in Relation zu ihren jeweiligen attributiven Dimensionen und anderen Genres ausgewertet und interpretiert werden. Ebenfalls von Bedeutung kann die Anzahl der möglichen Attributswerte sein, da z. B. die Anzahl der potentiell auftretenden Sprachen für die Genres unterschiedlich ausfallen kann und dies letztlich etwas über die Prototypikalität dieser Attributsdimension aussagt. So mag es für ein Genre typisch sein, dass die Palette der verwendeten Sprachen weitaus breiter ist, als jene eines anderen Genres, bei welchem lediglich zwei oder drei Sprachen verwendet werden. Wie genau die Werte in Relation zu setzen und schließlich zu deuten sind, soll nicht im Vornherein festgelegt werden, sondern ergibt sich induktiv nach der Berechnung der Häufigkeiten.

5. ScriMuRo – Das Scritte Murali a Roma – Korpus

Die in den vorangegangenen Kapiteln beschriebenen Genre-Prototypen werden anhand von authentischem Sprachmaterial erstellt, statistisch ausgewertet und Sprachmuster extrahiert. Grundlegend ist dafür die Sammlung der Scritte und die Übertragung in ein für den Forschungszweck geeignetes Korpus. Nachstehend wird auf alle wichtigen Prozesse der Entstehung des Korpus eingegangen und auf etwaige Problematiken hingewiesen. Wie zu sehen sein wird, war die Genese des Korpus eine der zeitaufwendigsten Teilschritte dieser Arbeit. Vorauszunehmen ist, dass sich beim Entstehungsprozess des Korpus induktive und deduktive Vorgehensweisen wechselseitig beeinflusst haben. So wurden bspw. bestimmte Annotationsklassen nur deshalb erstellt, weil bereits beim Sammeln und Sichten des Sprachmaterials bestimmte (Sprach-) Muster zu vermuten waren. Andererseits wurden Klassen annotiert, ohne vorheriges Wissen, ob auffällige oder überzufällig häufig auftretende Muster in diesen Bereichen zu finden sein werden. Das zeitaufwendige Fotografieren jeder einzelnen Scritta und der anschließenden Sortierung der Fotografien, stellte sich als wertvolle Hilfe bei der Determinierung der Annotationsklassen – wobei es sich letztendlich um die Attributsklassen der Prototypen handelt – heraus, da das Material bereits im Vorfeld gesichtet wurde. Dies und die Tatsache, dass ein längeres Verweilen in bestimmten Arealen für die Sammlung nötig war und somit auch ein Stück weit die kulturellen und ortsspezifischen Kontexte erfahrbar wurden, spielten eine ganz entscheidende Rolle für die gewählte Methodik dieser Forschungsarbeit.

5.1. Feldforschung

5.1.1. Erhebungsgebiet und Zeitrahmen

Tutta la nostra gran zodisfazzione
De noantri quann’èrimo regazzi
Era a le case nove e a li palazzi
De sporcajje li muri cor carbone.

Cqua ddiseggnàmo o zziffere o ppupazzi,
O er nodo de Coridano e Ssalamone:
Llà nnummeri e ggiucate d’astrazzione,
Oparolacce, o ffiche uperte e ccazzi.

Oppuro co un bastone, o un zasso, o un chiodo,
Fàmio a l’arricciatura quarche sseggno,
Fonno in maggnèra c’arrivassi ar zodo.

Quelle so bbell’età, pper dio de leggno!
Sibbe cc’adesso puro me la godo,
E ssi cc’è mmuro bianco io je lo sfreggno.(Belli 1997, 352)

Bereits vor knapp 200 Jahren spricht der berühmte römische Dichter Giuseppe Giachino Belli in seinem Sonett Un Ber Gusto Romano von der Verbreitung von Scritte Murali in Rom. Die italienische Hauptstadt bietet sich aus verschiedenen Gründen für die Erforschung von Scritte Murali an. Wie aus Bellis Sonett erkennbar wird, ist das Phänomen der Scritte Murali keine neuzeitliche Erscheinung in Rom. Die hohe Bevölkerungsdichte, die verschiedensten kulturellen Einflüsse durch die demographische Konstellation und sozio-politischen Hintergründe der Stadt machen Rom zu einer Stadt, aus deren Kommunikation im öffentlichen Raum Scritte Murali nicht mehr wegzudenken sind. Neben Anhängern der zwei großen Fussballmannschaften (A.S. Rom und S.S. Lazio) nutzen auch verschiedene (teils extreme) Gruppierungen der politischen Szene die Flächen der Stadt, um zu kommunizieren. Da sich das Stadtgebiet Roms über ca. 1285 km² erstreckt, ist es undenkbar eine Bestandsaufnahme der gesamten Scritte im Stadtgebiet zu erstellen.

In einer ersten Phase im Rahmen einer kleineren Forschungsarbeit wurden ca. 230 Fotografien im Stadtgebiet Rom angefertigt. Dabei war bereits im Vorfeld das Attribut der Ortsabhängigkeit als zentrale Analysekategorie vermutet worden, weshalb sich die Feldforschung auf zwei Laufwege mit insgesamt ca. 20 km Länge sowie auf ein kleineres Stadtviertel im Nordosten Roms, beschränkte. Die Laufwege orientierten sich an Ausschnitten die beiden U-Bahn-Linien Metro A und B.192 Beabsichtigt wurde dabei, Stadtviertel übergreifend Scritte zu sammeln, etwaige Variationen (sowohl in Bezug auf den Inhalt als auch die Form) der Scritte selbst analysieren zu können und v. a. Unterschiede aufgrund der Orte herausstellen zu können. Alle in diesen Gebieten gefundenen Scritte, wurden in den Gesamtkorpus ScriMuRo aufgenommen.

Da sich in dieser ersten Forschungsarbeit die Hypothese der Ortsabhängigkeit bestätigte, wurde in einer zweiten Phase die Feldforschung stark erweitert. Um eine geeignete Datenbasis für die Fragestellung zu schaffen, wurden weitere Gebiete gezielt dokumentiert. Für die Wahl der geographischen Eingrenzung spielten verschiedene Faktoren eine entscheidende Rolle. So gaben die Erkenntnisse und Erfahrungen aus der ersten Forschungsarbeit die Richtung vor. Die Recherche zu geeigneten Gebieten lief dann neben Online-Recherchen und der Suche über Google Street View v. a. über persönliche Kontakte mit ortsansässigen Personen. Im Fokus lagen Gebiete, die einerseits über eine möglichst hohe Anzahl von Scritte verfügen und sich andererseits untereinander in formaler und inhaltlicher Hinsicht voneinander abheben. Außerdem musste bei der Wahl berücksichtigt werden, dass die gesamten Gebiete vollständig und zu Fuß abgelaufen werden müssen193 und v. a. dass alle gefundenen Scritte in einem anschließenden, äußerst arbeitsaufwendigen Schritt digitalisiert werden müssen (siehe DEFAULT). Erschwert wurde die Erhebung des Sprachmaterials u. a. dadurch, dass sie zwar reichlich Scritte vorweisen, sie aber aufgrund der sozialen und demographischen Hintergründe, Fremden gegenüber eher verschlossen sind. So war es teilweise nicht möglich für längere Zeit im Stadtviertel Tufello zu fotografieren, da dieser Bereich besonders stark von linken und links-extremen politischen Gruppierungen dominiert wird, welche aus diversen Gründen nicht-ortsansässigen Personen gegenüber äußerst skeptisch eingestellt sind. Ich wurde mehrmals aufgefordert, das Gebiet zu verlassen, was möglicherweise (und verständlicherweise) auch daran liegt, dass das Fotografieren der Hauswände eines gesamten Straßenzuges eher kritisch beobachtet wurde.194 Nichtsdestotrotz konnte das gesamte Stadtviertel abgelaufen und alle Scritte dokumentiert werden.

Um in einem, für die vorliegende Arbeit, realistischen Rahmen zu bleiben wurden über einen Zeitraum von ungefähr vier Wochen insgesamt 13 Stadtbezirke in Rom dokumentiert, wobei ca. 150 km zu Fuß abgelaufen wurden. Anzumerken ist, dass in Bezug auf die Ortsabhängigkeit auch das Nicht-Vorhandensein von Scritte zu berücksichtigen ist, da sich die Frage stellt, aus welchen Gründen gerade an diesen Orten keine Schriften zu finden sind. Lückenlos abgelaufen wurden die Bezirke Tufello und Teile von Monte Sacro, Prati Fiscali (östlich der Station Conca D’Oro), Val Melaina und teilweise Serpentara, das Quartiere Africano im Stadtviertel Trieste, San Lorenzo, das Gebiet süd-östlich der Piazza Bologna (Nomentano), Pigneto und Teile des nördlich der Vatikanstadt gelegene Gebietes Prati zwischen den U-Bahn-Stationen Cipro und Ottaviano. Neben den oben erwähnten, sich kreuzenden Laufwegen entlang der Teilabschnitte der Metro-Linien wurden außerdem der grenznahe Bereich um die Vatikanstadt sowie der Großteil der Stadtviertel Garbatella, Gianicolense/Monte Verde und die Umgebung der Universität Sapienza.

IK (Interaktive Karte) 1: Erhebungsgebiete des ScriMuRo – Vollbild195

5.1.2. Quellenmethodische Eingrenzung

Beim Ablaufen der Stadtgebiete war es das Ziel, möglichst alle Scritte im öffentlichen Raum zu dokumentieren. Was dabei konkret als Scritta Murale galt, wurde in Kapitel ausführlich beschrieben: alle Graffitiformen, deren Kommunikationsform typischerweise nicht dominant poetisch, sondern primär informationsübermittelnd, ist – d. h. keine American Graffiti, Tags oder Pieces (s. o.). Scritte Murali auf mobilen Trägern (bspw. Fahrzeugen) wurden nicht dokumentiert196, wobei Striscioni, Sticker oder Tazebao nicht als mobile Träger gelten, sondern (normalerweise) am selben Ort für längere Zeit angebracht werden. Ansonsten gab es keine Einschränkungen, was die Träger anbelangt: Scritte an Handgeländern, Straßenschildern oder auf der Straße, wurden ebenso dokumentiert.

Jede Scritta wurde mit dem Smartphone abfotografiert und dabei mit einem GPS-Tag, also den geographischen Koordinaten, versehen, um den Standort der Scritta zu rekonstruieren zu können. Offensichtlich handelt es sich bei den GPS-Koordinaten strenggenommen nicht um den Standort der Scritte, sondern um den Standort der Kamera, mit der die Scritta fotografiert wurde. Der Abstand zwischen Kamera und Scritta betrug dabei im Schnitt ca. 2 Meter, abhängig von der Größe der Scritta und dem genauen Anbringungsort.197 Es muss darauf hingewiesen werden, dass es bei der Erhebung des Sprachmaterials von Beginn an nicht das Ziel war, die Scritte im Verhältnis zu den Trägerobjekten zu analysieren. Es wurde beispielsweise nicht ein ganzes Wohnhaus fotografiert, um die Dimensionen der angebrachten Scritte untereinander und im Verhältnis zur Gesamtgröße des Hauses zu vergleichen, wie dies teilweise bei anderen Forschungsarbeiten, die sich mit Schrift im öffentlichen Raum beschäftigen geschieht.198 Über das Attribut des Erstellungswerkzeuges (Sprühdose, Filzstift usw.) kann die Größe zumindest in ein grobkörniges Raster abgeleitet werden, jedoch wird das Attribut der Größe im Kontext dieser Forschungsarbeit als subsidiär betrachtet (siehe DEFAULT).

Entscheidend für die vorliegende Arbeit ist, dass der Standort nicht i. S. v. Koordinaten (wie dies bei den GPS-Tags der Fall ist) von Bedeutung ist, sondern der Standort als Referenzpunkt innerhalb einer vielschichtigen Kontextebene. Wie in Kapitel bereits angedeutet, ist das Attribut Standort kein greifbares oder ablesbares Merkmal der Scritta, sondern der Standort wird individuell vom Betrachter mehr oder weniger stark als bedeutendes Attribut interpretiert. Dieser Prozess ist eng mit den in Kapitel beschriebenen Kategorisierungsprozessen verknüpft. Für Touristen mögen viele der Scritte in Rom sowohl inhaltlich als auch formal identisch erscheinen. Dies liegt möglicherweise daran, dass sie die Scritte (dann i. S. v. Graffiti allgemein) kontext-neutral rezipieren, wobei der Kontext hier entscheidend durch den Standort geprägt wird – soweit zumindest die Annahme in dieser Forschungsarbeit. Wie bereits in Kapitel beschrieben, ist eine Besonderheit der Scritte Murali, dass sie einerseits nur an einem spezifischen, geographisch definiertem Ort perzipiert werden können – dies sind letztlich die GPS-Daten der Fotografien, da sie eben von diesem Ort aus perzipiert wurden – und gleichzeitig werden diese objektiven Koordinaten innerhalb der Kommunikationssituation zu subjektiv interpretierten Parametern umgedeutet.199 Um in den oben erwähnten Stadtvierteln die Straßen möglichst lückenlos dokumentieren zu können, wurden, falls nötig, Trackingtools verwendet, anhand welcher die Laufwege ausgelesen und miteinander abgeglichen wurden (siehe Abb. 45 und Abb. 46).

Ein Ausschnitt der Laufwege im Gebiet des Quartiere Africano. Der Screenshot zeigt die gelaufenen Wege über GPS-Tracking und diente dazu, die lückenlose Dokumentation des Gebietes sicherzustellen. So konnten etwa am Folgetag, die bisher noch nicht gelaufenen Abschnitte dokumentiert werden.

Ein Ausschnitt der Laufwege im Gebiet des Quartiere Africano. Der Screenshot zeigt die gelaufenen Wege über GPS-Tracking und diente dazu, die lückenlose Dokumentation des Gebietes sicherzustellen. So konnten etwa am Folgetag, die bisher noch nicht gelaufenen Abschnitte dokumentiert werden.

Beispiel 2 der Laufwege mehrerer Stunden.

Beispiel 2 der Laufwege mehrerer Stunden.

Fotografien, die aufgrund von kurzzeitigem Verlust des GPS-Signals während der Erhebung, über keine Koordinaten verfügten, wurden zeitnah mit den entsprechenden Koordinaten versehen. In einigen Fällen war es wegen der Umgebung oder der Größe der Scritta nicht möglich, den gesamten Text in einem Foto zu erfassen. So standen manchmal Fahrzeuge, Bäume oder Sonstiges im Blickfeld. Diese Bilder wurden ebenfalls in der Nachbereitung mit Hilfe von Bild-Bearbeitungsprogrammen zusammengefügt.

Beispiel eines physischen Hindernissen bei der Erfassung der Scritta vor Ort und der anschließenden Digitalisierung. (ScriMuRo)

Fehlender Teil aus der oben dargestellten Scritta, die teilweise von einem Fahrzeug verdeckt wird. (ScriMuRo)

Es wurden knapp 2500, mit Geotag versehene, Bilder erstellt, wovon schlussendlich 2314 Bilder für das Korpus verwendet wurden. Da auf einigen Fotografien mehrere Scritte abgebildet sein können, stehen 3294 Scritte für das Korpus zur Verfügung. (Für eine genaue Beschreibung des Korpus siehe Kapitel ).

5.2. Korpuskompilierung

5.2.1. Ausgangslage zur Digitalisierung

Nach der Erhebung stand der nächste zeitaufwendige Arbeitsschritt an: die Digitalisierung des abgebildeten Sprachmaterials und die Überführung in ein Korpus. Digitalisierung meint hier „wesentlich die digitale Tiefenerschließung des Materials durch systematische und transparente *Strukturierung* und Kategorisierung verstanden“ (Herv. im Orig.; Lücke 2016). Ganz in diesem Sinne war es Ziel, das Sprachmaterial möglichst umfangreich zu annotieren und die verschiedensten Aspekte in einem passenden Format zu erfassen. Aufgrund des Wesens der Scritte Murali stellte sich diese Aufgabe als besonders herausfordernd dar, wie ich nachfolgend zusammenfassend zeigen möchte.

Ausgangslage war, dass es zu diesem Zeitpunkt kein Programm gab, welches die sichtbaren Schriftzeichen automatisch in ein digitales Format übertragen konnte. Die sog. OCR (Optical Character Recognition) Technologie ermöglicht es, Texte, die auf Bildern abgebildet sind, automatisiert zu erkennen und in Dateien abzulegen. Jedoch stoßen solche Programme bereits bei handgeschriebenen Texten oft an ihre Grenzen, wobei die Möglichkeit besteht, die Programme zu trainieren und bestimmte optische Zeichen jeweils einem digitalen Zeichen zu zuordnen. Dies funktioniert allerdings nur dann befriedigend, wenn die in den Bildern enthaltenen Zeichen bis zu einem Mindestmaß identische Formen aufweisen. Bei Scritte Murali ist das aufgrund der unzähligen Produzenten, ihren abweichenden Schreibweisen und den grundlegend frei wählbaren Formen nicht der Fall. Ein weiteres Problem für ein solches automatisiertes Verfahren, stellen auch die sog. Lakunen dar. Damit sind Text- oder Zeichenlücken gemeint, die z. B. durch die Zerstörung der Trägerfläche, durch absichtliches Entfernen oder der Beschaffenheit der Erstellungswerkzeuge entstehen. So konnte auf ein solches automatisiertes Verfahren nicht zurückgegriffen werden und letztlich mussten alle Zeichen der 3294 Scritte per Hand transkribiert werden. Hierbei sei jedoch angemerkt, dass diese äußerst intensive Arbeit mit dem Sprachmaterial auch gewinnbringend war, da bei der Beobachtung der Daten wiederkehrende Muster erkennbar wurden. Einige der Analyse-Perspektiven scheinen zwar auf den ersten Blick einem deduktiven Vorgehen zu entsprechen, entstanden aber vielmehr während des Digitalisierungsprozesses. Das bedeutet, dass die Analyse teilweise auf vorher festgelegten Suchmustern basiert (also corpus-based ist), dieses deduktive Vorgehen aber nur aufgrund der induktiven Ableitungen (also corpus-driven) entsprangen.

Die Transkription200 der Zeichen mag bei einer Scritta wie in Beispiel 49 möglicherweise sogar mit einem OCR-Programm funktionieren und auch die Übertragung des Textes in ein relationales Datensystem201 und eine entsprechende Tokenisierung202 funktioniert problemlos.

„Benvenuti nel quartiere del Tufello“ (ScriMuRo)

Dies gilt jedoch nicht für die Scritte, deren Text durch eine oder mehrere Hände nachträglich modifiziert wurden, wie in Abb. 50 deutlich sichtbar wird.203 Dass Modifikationen nicht nur einen erheblichen Teil der Scritte betrifft, sondern auch ein wesentlicher Bestandteil bestimmter Genres-Prototypen ist und muster-und routinenhaften Prozeduren folgen, wird im Analyse-Teil (DEFAULT) der vorliegenden Arbeit gezeigt werden.

Komplexe Scritta „Stalin (non) c’è“ (ScriMuRo)

Die Frage war also, wie das gesamte Sprachmaterial digitalisiert und tokenisiert erfasst werden konnte, wobei eben auch die einzelnen Hände (oder Layer) und/oder Gruppierungen – bspw. bei Kommentaren zu einem bestimmten Textteil (siehe Beispiel in Abb. 52) – sowie alle sonstigen Relationen zwischen den Textteilen berücksichtigt werden.

5.2.2. GIAnT

In Kooperation mit dem Informatikstudenten der Ludwig-Maximilian-Universität München Daniel Pollithy wurde das Tool GIAnT204Graphical Image Annotation Tool – entwickelt. Das Programm dient der Digitalisierung von Sprach- bzw. Zeichenmaterial auf optischen Bildern und ermöglicht die Erfassung, die systematische Zuordnung und die Strukturierung von Primär- und Metadaten sowie die parallele Übertragung der Daten in eine lokale Neo4j-Graphdatenbank. Das Java-Script basierte Programm ist frei verfügbar (siehe hier), den Nutzungszwecken anpassbar und über das nutzerfreundliche UI (user interface) leicht erlern- und bedienbar.

GIAnT - Graphical Image Annotation Tool

Benutzeroberfläche des Grapheditors in GIAnT (Graphical Image Annotation Tool)

Die Vorteile von GIAnT gegenüber der Transkription des Sprachmaterials in relationale Datensysteme – Versuche wurden etwa mit Excel und mySQL unternommen – ist v. a. die Bedienoberfläche. Die Bilder werden zunächst in das Programm geladen und anschließend können sog. Fragments erstellt werden, d. h. Bildfragmente, welche im Rahmen der vorliegenden Arbeit den einzelnen Scritte entspricht. Die Anzahl der Fragmente pro Bild ist nicht beschränkt und so können problemlos Bilder mit mehreren Scritte bearbeitet werden. Jedes Fragment kann zusätzlich mit Freitext-Annotationen versehen werden. Über die Bearbeiten-Funktion kann nun jedes Fragment/jede Scritta digitalisiert werden. Das hochgeladene Bild erscheint im Grapheditor und jedes visuelle Element kann nun anhand von Boxen markiert werden. Innerhalb der Boxen erfolgt dann die Transkription der einzelnen Textteile – die Boxen sind also äquivalent zu den Token (also Einzelwörtern oder bildgraphischen Zeichen), wobei jedem Token beliebig viele Annotationsklassen und -daten hinzugefügt werden können. Die Annotationsklassen können dabei voreingestellt werden, wodurch sie automatisch bei jedem Token, das bearbeitet wird, erscheinen. Es ist aber auch möglich auf Wunsch beliebig viele Annotationsklassen innerhalb des Grapheditors hinzuzufügen. Die Boxen bzw. Token können untereinander über sog. Kanten (edges) miteinander verbunden und in Relation zueinander gesetzt werden, wobei die Relationsrichtung ebenfalls gesetzt werden kann. Im Fall der Scritte Murali wurden so z. B. aufeinanderfolgende Wörter in Beziehung gesetzt, aber ganz besonders hilfreich war es, die Modifikationen bestimmter Token auf diese Weise zu erfassen. Neben dem Hintergrundbild (background), also dem hochgeladenen Foto, können beliebig viele weitere Layer angelegt werden, was den Händen der Scritta-Produzenten entspricht. Die Token-Boxen aus den unterschiedlichen Layern können daraufhin ebenfalls über Kanten in Beziehung gesetzt werden: Ein auf Layer 1 – also Hand 1 der Scritta – liegendes Token (in Abb. 51 durch die weiß-grauen Boxen dargestellt) wird durch eine zweite Hand – Layer 2 – modifiziert, wobei das Modifikations-Token anhand einer dunkel-grauen Box markiert wird. Das modifizierende Token wird nun über eine Kante mit dem modifizierten Token verbunden. Alle Kanten können, wie auch die Tokenboxen, annotiert werden, d. h., sog. Properties können erfasst werden.205 Neben den Hand 1- und Modifikationstokenboxen können außerdem orange Tokenboxen für bildgraphische Zeichen (bspw. Symbole, ikonische Abbildungen usw.), gelbe Frame-Boxen, blaue Kommentar-Boxen und rosa Gruppenboxen innerhalb jeder Hand erstellt und mit beliebig vielen Boxen aus den gleichen oder anderen Händen verbunden und annotiert werden. Die Frame-Boxen dienten hier dazu, Token zu markieren, welche augenscheinlich als frame-identifier dienen können: so können z. B. Eigennamen dazu beitragen, die Zuordnung der Gesamtscritta zu einem Genre zu erleichtern bzw. zu beschleunigen. Die Gruppenboxen dagegen waren hilfreich um Token-Gruppen zu erfassen und gegebenenfalls mit anderen Token-Gruppen zu relationieren: Wie in der Scritta in Abb. 52 sichtbar, wurde der Ursprungstext (Hand 1 – rechts im Bild) durch zwei weitere Hände kommentiert (Hand 2 und 3 – im Bild der mittlere und linke Textteil). Über die Gruppenzuteilung, werden dann die Textteile über Kanten miteinander verknüpft.

'Ben tornato Bruciafero'-Scritta. Der Textteil aus Hand 1 befindet sich rechts im Bild, gefolgt von Hand 2 (Mitte) und Hand 3 (links). Die entsprechenden Token konnten dank der Gruppen-Funktion in GIAnT zusammengefasst werden und als 'Kommentare' markiert werden.

‚Ben tornato Bruciafero‘-Scritta (ScriMuRo). Der Textteil aus Hand 1 befindet sich rechts im Bild, gefolgt von Hand 2 (Mitte) und Hand 3 (links). Die entsprechenden Token konnten dank der Gruppen-Funktion in GIAnT zusammengefasst werden und als ‚Kommentare‘ markiert werden.
(Lizenz: CC BY SA)

Das Arbeiten mit den Texten wurde durch das direkte Transkribieren am Bild enorm erleichtert, wodurch die Fehlerquote auf ein Minimum reduziert werden konnte. Weitere Funktionen, wie die auto-complete-Funktion für die Werte bei den Annotationsklassen oder die connect and clone-Funktion für Token-, Gruppen- und Frameboxen206, beschleunigten zudem die Arbeit mit dem Sprachmaterial.

Ist ein Fragment bzw. eine Scritta fertig bearbeitet, so werden die erfassten Daten als xls-Dateien im Programmordner abgespeichert207 und automatisch in eine Neo4j-Graphdatenbank übertragen. Der Vorteil der Nutzung eines Graphdatenbanksystems (GDB) an Stelle eines eines relationalen Datenbanksystems (RDBMS)208 bei Digitalisierung der Scritte Murali-Bilder liegt in erster Linie darin, dass die Beziehungen zwischen den sog. Knoten (in diesem Fall eben Token, Frames oder Gruppen), die jeweils mit einer exklusiven ID versehen werden, direkt erstellt, dargestellt und abgefragt werden können. Die Knoten (nodes) können mit sog. Labels und den bereits erwähnten Properties versehen werden. Im Fall der vorliegenden Arbeit entstand nach der Arbeit mit GIAnT folgendes Datenmodell:

Grundlegende Datenstruktur des ScriMuRo-Korpus

Grundlegende Datenstruktur des ScriMuRo-Korpus

Über die Abfragesprache Cypher können dann auf ganz intuitive Weise die Daten abgefragt, durchsucht und ausgelesen werden. Zum Vergleich: in einem RDBMS würde für jeden Knoten (also Bilder, Fragment, Token usw.) eine eigene Tabelle angelegt werden, welche dann über sog. Joint Befehle in der Abfrage (bspw. über mySQL) miteinander verknüpft werden. Durch die oft komplexen Datenverbindungen der digitalisierten Scritte Murali, würde dies zu einer langen Abfrage-Syntax führen – in Neo4j geschieht dies auf direktem und intuitivem Weg.209 So lassen sich digitalisierte Scritte wie in Abb. 52 problemlos durchsuchen und auslesen, inklusive der Verbindungen der einzelnen Knoten untereinander. Auch ein Export der gewünschten Daten in relationale Tabellen im csv-Format ist problemlos möglich.

Beispiel einer komplexen Scritta (hier die Bruciafero-Scritta) im neo4j-Browser nach der Digitalisierung. Die Relationen zwischen den Knoten (dargestellt durch die farbigen Kreise) können in der Graphdatenbank direkt abgefragt werden.

Beispiel einer komplexen Scritta (hier die Bruciafero-Scritta) im Neo4j-Browser nach der Digitalisierung. Die Relationen zwischen den Knoten (dargestellt durch die farbigen Kreise) können in der Graphdatenbank direkt abgefragt werden.

Zuletzt sei die Heatmap-Funktion von GIAnT erwähnt. Eine Teil-Hypothese bei der Untersuchung der Scritte Murali ist, dass sich speziell bei der Anordnung der bildgraphischen Zeichen im Bild typische Konstruktionen ergeben. Dies fiel bereits während der Erhebungsphase der Scritte auf und der Eindruck verstärkte sich bei intensiven Arbeit mit dem Sprachmaterial noch weiter. Aus diesem Grund machte es Daniel Pollithy möglich, Heatmaps der Boxen-Anordnung im Gesamtbild auszulesen. Dabei ist es möglich nach jedem beliebigen Knoten und zusätzlicher Spezifizierung der entsprechenden properties (Attribute) zu suchen und die Verteilung im Bild optisch darstellen zu lassen. So können z. B. nach allen Symbolen aus dem rechtspolitischen Bereich gesucht und deren Anordnung im Bild gezeigt werden.

Beispiel der Heatmap-Funktion in GIAnT. Hier ist das Ergebnis der Abfrage aller Symbole der Hausbesetzer (Movimento Autonomo e Autoorganizzato) zu sehen.

Beispiel der Heatmap-Funktion in GIAnT. Hier ist das Ergebnis der Abfrage aller Symbole der Hausbesetzer (Movimento Autonomo e Autoorganizzato) zu sehen.
(Lizenz: CC BY SA)

5.2.3. Digitalisierung und Typisierung – Transkription und Annotationskategorien

Bevor die methologische Vorgehensweise der Digitalisierung des Sprachmaterials erläutert wird, muss darauf hingewiesen werden, dass es sich bei der Transkription und Annotation der Scritte-Texte um ein heuristisch-interpretierendes Vorgehen handelt. Dies bedeutet, dass neben den direkt ablesbaren Attributen, wie Graphen, Farbe oder Träger, einige Annotationsklassen rein auf der Interpretation des Verfassers basiert. Auf diesen Umstand wird an den entsprechenden Stellen hingewiesen. Allgemein ist diese Arbeitsweise nicht als problematisch zu sehen, da sie die Realität der Rezipienten wiedergibt, da auch die Rezipienten nur interpretieren können (und dazu ihre Erfahrungen und kontextuelles Wissen abrufen), ob z. B. ein bewusst gewählter typographischer Stil vorliegt oder nicht.210 An dieser Stelle möchte ich auf die Ausführungen bei Kleiber (1998) in Bezug auf ‘Objektive und Subjektive Merkmale’ hinsichtlich der Prototypen hinweisen. Ob ein Graph tatsächlich nach einer bewusst elaborierten oder einer willkürlichen Typographie erstellt wurde, ist nur schwerlich als objektives Attribut zu bezeichnen, da die individuelle Ansicht dabei grundlegend ist. Trotzdem lassen sich – ohne dies bspw. über einen wissenschaftlichen Schriftenvergleich überprüft zu haben – bei der Betrachtung der Scritte Ähnlichkeiten erkennen, wodurch eine Annotation des Attributs Graph berechtigt wird. So muss dieses, wie alle auf den ersten Blick subjektiv erscheinenden Attribute, als ‘objektiv’ in weiterem Sinne verstanden werden und zwar

nicht als eine Eigenschaft, die nichts mit den Menschen zu tun hat, aber auch nicht als eine Eigenschaft, die per definitionem einer interindividuellen Variation unterworfen ist. Es handelt sich nämlich sehr wohl um Eigenschaften, die, direkt mit unserem Menschsein verbunden sind, also um ‘verkörperlichte’ (embodied) Eigenschaften, wie G. Lakoff mit Nachdruck betont, aber diese Eigenschaften erscheinen uns als objektiv, weil wir davon ausgehen, daß sie von allen auf ähnliche Weise wahrgenommen werden.Herv. im Orig.; Kleiber 1998, 68

Die Entscheidung, ob und dass dieses Merkmal annotiert wurde, fiel ganz nach dem Empfinden, dass die Angabe, ob es sich bei einer Scritta um eine bewusst gewählte Typographie handelt oder nicht, zwar keine dem Token inhärente Eigenschaft ist, da der Kopist darüber entscheidet, was als elaboriert/willkürlich gilt, „aber dieses ‘Messen’ erscheint uns dennoch objektiv, weil wir annehmen, daß die übrigen Sprecher ebenso verfahren würden, und es uns daher nicht an ein einziges, individuelles Urteil gebunden scheint“ (Kleiber 1998, 67).211

Offensichtlich war die Wahl einiger Annotationsklassen – genannt seien in erster Linie die Zuweisung der Wortartklassen und Lemmata zu den Token (POS-Tagging) – in Voraussicht auf eine sprachwissenschaftliche Analyse geschehen. Bei besonders schwierig lesbaren oder verständlichen Scritte stellte sich im Laufe des Digitalisierungsprozesses heraus, dass die Kategorisierung dieser Scritte zunehmend einfacher wurde, je mehr kontextuelles und kulturliches Wissen vorhanden war. Mit anderen Worten: Je länger ich mich mit Fotos eines bestimmten Stadtgebietes beschäftigte und dadurch mein Wissen zu den Gruppierungen wuchs, desto mehr verstand ich die teils stark verschlüsselten Botschaften, die aus nur zwei Token bestehen können.

Insgesamt wurden den vier Knotenklassen212 156 Annotationsklassen (also properties) zugeordnet, wovon ein erheblicher Teil lediglich programmintern vergeben und genutzt wird.213

Image – Die Bilder der Scritte
Die Fotos liegen in der Graphdatenbank lediglich im Datenformat und nicht als optisches Bild vor. Bei der Übertragung durch GIAnT wurden dabei neben einer exklusiven ID – einem sog. Schlüssel – und dem Dateipfad214, die geographischen Koordinaten und der sog. GPS Date Stamp (also das Datum der Aufnahme) automatisch übertragen. Lediglich die GPS-Koordinaten mussten in ein kompatibles Format umgewandelt und normalisiert werden.

Fragment – Die einzelnen Scritte
Bei der Erstellung der Fragments für die einzelnen Scritte innerhalb eines Bildes in GIAnT, wurde automatisch sowohl eine eindeutige Kennung (ID) des Fragments sowie die vom Nutzer eingegebene Bezeichnung des Fragments an die Datenbank übermittelt, wobei die Fragments über fortlaufende Zahlen (innerhalb eines Bildes) benannt wurde. Für die Forschungsarbeit wurden außerdem nach der Transkription der Token, jedem Fragment ein Kommentar im Format eines Fließtextes angefügt, in welchem durchgehend die (interpretierten) Genredomänen und weitere Auffälligkeiten erfasst wurden – wie z. B. dass es sich um ein Totenmurales handelt oder die Typographie besonders auffällig ist. Nach Abschluss der Transkription wurden die Kommentare der 3294 Fragmente revidiert und es zeigte sich, dass die Scritte bis zu drei verschiedenen Domänen (bspw. Politik, Ultras usw.) zugeordnet wurden. Demnach wurden drei weitere Annotations- bzw. Attributsklassen für die Fragmente erstellt (Genre-Domäne 1/2/3), in welche die Werte aus den Kommentaren für die jeweiligen Scritte übertragen wurden. Ebenso erfolgten bei jenen Fragmenten, die wichtige Zusatzinformationen in den Kommentaren enthielten, eine Erweiterung der Attribute um zwei properties, um die entsprechenden Werte zu extrahieren: die Klasse des Totenkults, wenn die Scritta in irgendeiner Form eine verstorbene Person hochgeschätzt oder verehrt werden, und der Typographie, für Scritte die (mehr oder weniger eindeutig) den oben genannten Fascio-Font oder sonstige besondere Typographien vorweisen.
Wie oben erwähnt, erfolgte die Typisierung dieser Klassen (Genredomänen, Totenkult und Typographie) rein interpretatorisch, wobei v. a. semantisch dichte Token, wie Eigennamen oder Symbole, sozusagen als Schlüsselwörter dienten.

Token – Einzelwörter und bildgraphische Zeichen
Die Grundlage der statistischen Auswertungen und Ableitung der Genre-Prototypen ist offensichtlich das georeferenzierte Sprachmaterial, basierend auf den erhobenen Fotos. Wie in Kapitel erläutert, wird das Sprachmaterial der Scritte Murali durch multimodale Texte gebildet, wobei schrift-sprachliche Zeichen typischerweise die dominante Zeichenform darstellt. Neben den schrift-sprachlichen Zeichen werden die Texte durch bildgraphische und modifizierende Zeichen konstituiert, wobei alle drei Typen in der Graphdatenbank als Token erfasst wurden.

Darstellung der Annotationsfunktionen im Grapheditors von GIAnT. Rechts im Bild sind die Attribute erkennbar, die nach Belieben erstellt, bearbeitet oder entfernt werden können und mit einer 'memory'-Funktion versehen sind, d. h. einmal eingegebene Werte erscheinen als Auswahlmöglichkeit beim eingeben der Anfangsbuchstaben. Tokenboxen (in der Mitte des Bildes zu sehen) könne außerdem mit den gleichen Werten kopiert und verbunden werden. Links sind die verschiedenen Boxentypen zu sehen, etwa 'Token', 'Modification' oder 'Symbol'.

Darstellung der Annotationsfunktionen im Grapheditors von GIAnT. Rechts im Bild sind die Attribute erkennbar, die nach Belieben erstellt, bearbeitet oder entfernt werden können und mit einer ‚memory‘-Funktion versehen sind. Einmal eingegebene Werte erscheinen als Auswahlmöglichkeit beim eingeben der Anfangsbuchstaben. Tokenboxen (in der Mitte des Bildes zu sehen) könne außerdem mit den gleichen Werten kopiert und verbunden werden. Links sind die verschiedenen Boxentypen zu sehen, etwa ‘Token’, ‘Modification’ oder ‘Symbol’.

Startpunkt bei der Tiefenerschließung der Texte im Grapheditor von GIAnT ist die Wahl der Layer bzw. die Hand, wobei anhand des Fotos Layer 1/Hand 1 ausgemacht wird und die entsprechende (halbtransparente, weiß-graue) Tokenbox (Abb. 56) ausgewählt und über die visuelle Zeichenfolge (bspw. das Einzelwort) platziert wird. Die Vorgehensweise ab der zweiten Hand, wird weiter unten beschrieben. Wie oben beschrieben (Kapitel ), lassen sich in GIAnT einige Grundeinstellungen vornehmen und für die Scritte wurden folgende Annotationsklassen215 erstellt, welche automatisch für alle Token (der Hand 1) übernommen werden:216 ColorATTclass, LanguageATTclass, GroundATTclass (TrägerflächeATTclass der Scritta), ToolATTclass (ErstellungswerkzeugATTclass), GraphATTclass (TypographieATTclass des Scrittatextes bei schrift-sprachlichen Zeichen). Die Annotationsklassen sind also äquivalent zu den Attributsklassen der Scritte. Von GIAnT wurde für jedes Token (gleich aus welchem Layer) eine exklusive ID vergeben. Nachdem die fünf genannten Attribute für das erste Token erfasst worden sind, wird die Tokenbox über eine Kopierfunktion vervielfacht (wobei alle eingegebenen Attribute übernommen werden) und über die folgenden Token in Reihenfolge platziert. Anschließend kommt es zur Transkription und ein weiteres, wobei gleichzeitig das bedeutendste aller Attribute erfasst wird: der ValueATTclass, also das Einzelwort bzw. die modifizierenden und bildgraphischen Zeichen. Diese sechs basalen Attribute sind bis zu einem gewissen Grad direkt am Foto ablesbar, wobei die Farbwerte der Scritte lediglich den Grundfarben zugeordnet wurden. Das Attribut GraphATTclass, also die typographische Verfasstheit ist eines jener Attribute, welches zu hohem Maße auf der individuellen Interpretation des Verfassers basiert. Nach Abschluss der Transkription aller Token über alle Hände und Scritte, wurden die GPS der Fotos, auf welchen die Scritte und damit auch die Token lagen, auf die Token übertragen, um eine direkte georeferenzierte Abfrage aller Tokenattribute zu ermöglichen. Außerdem wurden alle schriftsprachlichen Zeichen unter Zuhilfenahme des Tree-Taggers von Helmut Schmid (Ludwig-Maximilian-Universität München) mit POSATTclass und LemmaATTclass Informationen versehen.217 Da die Texte der Scritte Murali durch die Produzenten frei (d. h. ohne Vorgaben) erstellt werden können, traten im Laufe der Transkription wiederholt Sonderfälle auf, in welchen bestimmte Attribute hervorstachen. Diese Attribute gelten – anders als die oben genannten Attribute, wie Farbe oder Erstellungswerkzeug – nur für bestimmte Token und daher wurden für diese Token extra erstellt. Dazu gehören bspw. die Attribute DialectATTclass (Informationen zu dialektalen Einzelwörtern) oder AbbreviationATTclass (KürzungsverfahrenATTclass). Letztgenannte Attribute traten zwar nur bei einer begrenzten Zahl der Token im Gesamtkorpus auf, jedoch genügend häufig, um bspw. die Abkürzungsverfahren in einem späteren Schritt zu typisieren. Bei einem geringen Teil der Token (insg. knapp 1000 Token) wurden unter einem weiteren Attribut SpecialATTclass Zusatzinformationen erfasst, welche unter Umständen für die Analyse brauchbar würden oder aber wichtige Hintergrundinformationen zum Token und letztlich für die gesamte Scritta beinhalten.218

Eine besondere Hürde stellten nicht-lesbare, defizitäre Token (bzw. Zeichen) dar. So kann es vorkommen, dass die Witterung, die unentzifferbare Handschrift oder das Überschreiben bis hin zur völligen Streichung einzelner Token oder Zeichen, die Transkription des Tokens erschwert oder unmöglich macht. Abhängig von der Lesbarkeit wurden in diesen Fällen für alle Tokenformen (schrift-sprachliche und bildgraphische Zeichen sowie Modifikationen) zwei weitere Annotationsklassen geschaffen und auch die Transkription angepasst: In den Klassen EmendatioATTclass und ConjectureATTclass wurden Informationen zu schwer oder nicht lesbaren Token erfasst, wobei solche schwer oder nicht lesbaren Textstellen als Lakunen219 bezeichnet werden. Die Terminologie orientieren sich dabei an den Definitionen der editionsphilologischen Fachbegriffe von Alexander Estis, der zu Emendation schreibt: „Verbesserung des überlieferten Wortlauts bei solchen Fehlern, deren Korrektur evident und unstrittig ist“ (Estis). Unter der Annotationsklasse EmendatioATTclass wurden bei den Scritte also die vermuteten Zeichen(folgen) erfasst, die „evident“ oder „unstrittig“ erschienen. Dies geschah sowohl bei offensichtlich von der Norm abweichenden Schreibweisen (bspw. sorriso < *soriso) als auch bei Wörtern mit unlesbaren Einzelzeichen (bspw. Sempre < se†pre). Token, die nicht evident und/oder unstrittig erschienen, sondern lediglich durch Vermutung während der Transkription korrigiert wurden, erhielten das vermutete Wort bzw. Zeichen in der Annotationsklasse ConjectureATTclass. Die Korrekturen stützten sich dabei auf Erfahrungswerte mit anderen Scritte (bspw. häufig auftretender syntagmatischer Muster, wie Eigenname + merda) oder auf apperzeptive Ergänzungen bei fehlenden oder nur teilweise erkennbaren Schriftzeichen.220 Teilweise sind die Klassen EmendatioATTclass und ConjectureATTclass nicht scharf trennbar, da solche defizitären Zeichen(folgen) individuell evidenter oder unstrittiger erscheinen mögen. Die Erfassung der Korrekturen in beiden Fällen ist neben der Möglichkeit Tokenfolgen in normalisierter Form auszulesen insofern nötig, als der Tree-Tagger für die POS-Annotation und Lemmatisierung nicht über korrumpierte Textstellen funktioniert. Alle defizitären Token bzw. Zeichen wurden durch sog. Cruces (†) markiert, was eine automatisierte Zuordnung zu Wortklassen und Lemmata unmöglich macht. Über die Werte der Klassen EmendatioATTclass und ConjectureATTclass konnte dieses Problem umgangen werden. All jene Token, die offensichtlich oder auch nur über Vermutung lesbar sind, würden also weder einer Wortklasse zugeordnet, noch mit einem Lemma versehen werden, was wiederum Auswirkungen auf die statistische Auswertung des Gesamtkorpus gehabt hätte.

Wie bereits erwähnt, stellte sich die Erfassung der ModifikationenATTclass als besondere Herausforderung dar und dies nicht nur wegen der daraus resultierenden Unlesbarkeit der Zeichen. In einigen Fällen nahm die Rekonstruktion der chronologischen Hand-Folge viel Zeit in Anspruch. Die Zuordnung der Token zu den entsprechenden Händen, geschah dabei anhand verschiedener Hinweise innerhalb der Bilder. So kann die zeitliche Abfolge der Hände bspw. über die sich überlagernden Farbschichten der Sprühdosen, syntagmatische Veränderungen221 oder referentielle Aspekte222 ermittelt werden. Die Erfassung der Token und die Übertragung der Modifikationen läuft auf ähnliche Weise wie bei der Erfassung der Token aus Hand 1 ab: Nach der Erstellung einer weiteren Hand223, wird eine dunkel-graue, halb-transparente Box über das modifizierende Token gelegt, transkribiert und mit entsprechenden Attributen annotiert, wobei neben dem tokenType: modification auch der Typ der Modifikation (mod_type) erfasst wird. Die Modifikationstypen – wie z. B. das RasierenATTval, also vollständiges Löschen, oder das Hinzufügen von Token – wurden dabei nicht im Vorherein festgelegt, sondern entstanden sukzessive während des Digitalisierungsprozesses. Eine Übersicht über die Typen und Modifikationsroutinen wird in Kapitel gegeben. Die systematische Transkription der Streichungen und Rasuren ist ebenfalls vollständig in der Übersicht wiedergegeben.224 Die Relationen zwischen den modifizierten und modifizierenden Token wurden über die Erstellung der edges (oder Kanten) erfasst. Der relation_type gibt dabei die Modifikationsweise an: wurde ein Token hinzugefügt, wie ‘non’ in der oben gezeigten Scritta, so entstehen zwei Kanten mit dem Attribut gefolgt_vonATTval: einmal von dem Token aus Hand 1 (‘Stalin’) ausgehend zum modifizierenden Token aus Hand 2 (‘non’) und einmal vom Hand 2-Token ausgehend zurück zu Hand 1 (‘c’è’). Handelt es sich um eine Rasur oder Streichung, so wird die Tokenbox aus Hand 2 (oder größer) über das modifizierte Token gelegt und über eine Funktion des Grapheditors in GIAnT können die Kanten automatisch erstellt werden.

Der letzte große Tokentyp sind die unter dem Begriff Bildgraphische Zeichen zusammengefassten Token. Alle nicht-sprachlichen Zeichen, wie Hakenkreuze oder Hammer und Sichel, aber auch Pfeile, Smileys oder Herzen sowie Ikone fallen unter diesen Tokentyp. Diese bildgraphischen Zeichen können in jeder Hand vorkommen (und damit auch modifizierend sein) und erhielten ebenfalls attributive Annotationen, die sich von den oben beschriebenen Tokentypen unterscheiden. Attribute wie ToolATTclass oder ColorATTclass wurden erfasst, WortklassenATTclass und LemmataATTclass dagegen sind ohne Bedeutung für diesen Tokentyp. Dafür wurden (ähnlich wie bei den Modifikationen) in einem späteren Schritt die Zeichentypen klassifiziert, nach semantisch-inhaltlichen Aspekten gruppiert (für eine Übersicht siehe DEFAULT) und über die Attribute signtypeATTclass und sym_fieldATTclass annotiert. Grundlegend wurde bereits bei der Transkription zwischen Symbolen (Ideogrammen, Logogrammen und Grundformen) und Ikonen unterschieden, wobei Ikone wiederum bei signtype und sym_field den Wert iconATTval erhielten und zusätzlich die Referenz der ikonische Abbildung angegeben wurde. In Abb. 57 wäre also die Zeichnung von Che Guevara mit dem Wert [Che Guevara (smiling)]ATTval in der Attributsklasse ico_refATTclass annotiert. Die korrekte Positionierung der Symbol-Tokenbox über das bildgraphische Zeichen ist besonders wichtig, um die Koordinaten innerhalb des Bildes zu erfassen und über die Heatmap-Funktion (siehe oben) auslesen zu können. Weitaus häufiger als bei den zwei oben genannten Tokentypen, kam es bei den Bildgraphischen Zeichen häufiger vor, dass sie nicht über Kanten mit anderen Token verbunden sind, da sie normalerweise nicht in die Satzsyntax eingebunden werden. Ausnahmen bilden dabei eine bestimmte Zeichenkonstruktionen, bei denen emblemartig Schriftzeichen mit (meist politischen) Symbolen verbunden wurden (siehe DEFAULT).

'Che Guevara (smiling)'-Beispiel. Die Markierung der Ikone und Symbole im Grapheditor ist für die Zeichenkonstruktionen besonders wichtig.

‚Che Guevara (smiling)‘-Beispiel. Die Markierung der Ikone und Symbole im Grapheditor ist für die Zeichenkonstruktionen besonders wichtig. (ScriMuRo)
(Lizenz: CC BY SA)

Group – Gruppierung von Token und Frame-Identifier
Das Korpus wurde bis in die Analyse-Phase kontinuierlich gepflegt, d. h., Daten und Werte wurden kontrolliert und nötigenfalls korrigiert. Besonders der Bereich der POS-Annotationen in den verschiedenen Sprachen und die einhergehende Lemmatisierung bedurfte einiger Revision und Bereinigung, da neben den oben erwähnten Lakunen bspw.  dialektale Worteinheiten, Eigennamen und die vorlagengetreue Transkription der Groß- und Kleinschreibung zu falschen Werten in den Wortklassen und Lemmata-Annotationen führten. Abschließend ist zu erwähnen, dass die vorliegende Arbeit nicht den Anspruch erhebt, ein fehlerfreies Korpus bereitzustellen, da dies allein schon aufgrund der Beschaffenheit des Sprachmaterials und der händischen Annotation nicht möglich wäre.

Die letzte Kategorie von Knoten werden unter dem Label Group zusammengefasst. Wie die Modifikations-Boxen können auch hier innerhalb einer Hand gelbe, blaue oder rosa, halbtransparente Boxen über ein oder mehrere Token gelegt werden und manuell oder automatisch per Klick eine Verbindung (Kante) zwischen den darunterliegenden Token und dem Group-Knoten erstellt werden.225 Die Gruppierungsfunktion diente in erster Linie dreierlei Zwecken. Erstens wurden zusammenhängende Textpassagen, die sich auf (mehr oder weniger bekannte) Aussagen anderer Personen bezogen, als Quote-Gruppen226 markiert. So konnten bspw. abgeschriebene Liedtexte oder Zitate von politischen Akteuren beliebiger Länge markiert werden. Analog zu den oben erwähnten Labels, wurden auch hier die entsprechenden Informationen innerhalb der dafür erstellten Merkmalsklassen annotiert. Zitate aus dem politische Bereich erhielten bspw. in der Merkmalsklasse quote_polATTclass einen Verweis auf die zitierte Person, zitierte Liedtexte (oder -passagen) dagegen in der Klasse quote_songATTclass einen entsprechenden Verweis, ob es sich um den Titel oder Textteile des Liedes handelt. Zweitens wurden über die Comment-Knoten Tokengruppen markiert, um einen bestimmten Typ der Modifikation zu erfassen, nämlich die Kommentare. In einigen Fällen wurden Token aus einer chronologisch vorher schreibenden Hand durch eine oder mehrere Hände kommentiert, wie es im Beispiel der Bruciafero-Scritta der Fall ist. Neben den Token, die kommentiert wurden (tobecomATTclass), wurden auf diese Weise die kommentierenden Tokenfolgen als comATTclass-Gruppe erfasst. Neben diesen kategorialen Erschließungen, wurde analog zu den Modifikationstypen (s. o.) die Kommentarart typisiert: com-ATTval und com+ATTval zeigen eine negative bzw. positive Aussage in Bezug auf die kommentierte Hand an, neutrale Kommentare wurden mit comATTval markiert. Zuletzt dienen die Group-Knoten dazu, bestimmte Token innerhalb einer Scritta als (im weitesten Sinne) frame-identifier zu erfassen. Das bedeutet, dass jene Token mit einer Frame-Box überlegt wurden, die bei der Kategorisierung der Gesamtscritta am bedeutendsten erschienen.227 Damit sind weniger saliente Formen der Token gemeint (also bspw. der Fascio-Font oder die relative Größe eines Token), sondern vielmehr inhaltlich-semantische Aspekte. Hierbei müssen Token nicht zwangsläufig semantisch besonders ausdrucksvoll sein, um bei der Kategorisierung von Bedeutung zu sein, sondern der Ko-Text bzw. die Gesamtscritta und der außersprachliche Kontext bewirken, dass ein Token als Hinweis für eine Kategorisierung wahrgenommen wird, wobei auch syntagmatische und paradigmatische Aspekte eine Rolle spielen.

Grundlegend wurde bei der Markierung dieser Token zwischen drei Arten von frame-identifier unterschieden: der PredATTclass-Gruppe, welche sich auf Prädikate bezieht, die RefATTclass-Gruppe, d. h. Token, die auf abstrakte oder konkrete Objekte referieren, und schließlich die OntATTclass-Gruppe, die sich auf Begriffe in einer ontologischen Hierarchie beziehen. Letztgenannte Gruppe lehnt sich dabei an die Konzeptmetaphern bei Lakoff und Johnson (2014) bzw. den Ausführungen zur Expressivität bei Elissa Pustka (2015, 113-116) an.228 Wie in Kapitel festgehalten, handelt es sich bei der Attributsklasse der sprachlichen und bildgraphischen Zeichen um Zeichenmodalitäten, mit einem besonders hohem Ausdruckspotenzial, wodurch diese Klassen (v. a. die Lexik bei den sprachlichen Zeichen und die Inhalte der bildgraphischen Zeichen) von hohem Gewicht bei der Bildung der Genre-Prototypen sind. Die Markierung über die frame-identifier markieren somit jene Token, die bei der Typisierung der Scritte (und letztlich bei der Bildung der Prototypen) von ganz zentraler Bedeutung sind, da sie das höchste Ausdruckspotential bieten. Diese Token helfen (mehr als andere) bei der Zuordnung der Gesamtscritta zu einem Genre und die Vorgruppierung nach Ref-, Pred- und Ont-Gruppen spiegelt außerdem das Kombinieren dieser Hinweise im Typisierungsprozess auf Rezipientenseite wider: Token, die zur Ref-Gruppe gehören, also einen klaren Bezug zu Referenzobjekten oder -konzepten aufweisen, können isoliert auftreten und aktivieren bestimmte Wissenskontexte (Frames). Pred- oder Ont-Token dagegen stehen in Verbindung zu Ref-Token, wodurch bei der Rezeption über diese Relationen und die Kombination der semantischen Inhalte der Token der Typisierungsprozess beschleunigt wird. Ont-Token sind strenggenommen ebenfalls Token mit Bezug auf bestimmte (abstrakte oder konkrete) Objekte oder Konzepte, bieten – für sich genommen jedoch – weitaus weniger semantische Dichte. Ähnlich verhält es sich bei Pred-Token, da die Prädikate isoliert weitaus weniger Informationen für die Typisierung bieten, als wenn sie in Relation mit einem Ref-Token auftreten. In der Praxis unterscheidet sich der semantische Gehalt natürlich von Token zu Token, wobei zwar die Wortklassen einen Hinweis auf diesen Gehalt geben können, aber die konkreten Ergebnisse werden zeigen, dass hier weiter differenziert werden muss. Ich möchte die Markierung der Token mittels dieser frame-identifier anhand zweier einfacher Beispiele darstellen: In einer (Liebes-) Scritta, wie in Abb. 22, ist das Token AMO der Pred-Gruppe zugehörig und steht in Verbindung zum Eigenamen GIULIA, der, wie auch das Herzsymbol, zur Ref-Gruppe gehört. Ohne die Angabe des Nachnamens von Giulia ist die Referenz für den Großteil der Rezipienten nicht besonders genau zu bestimmen229, aber die Verbindung mit dem Pred-Token amo und dem Ref-Token ‘Herzsymbol’ kann die Scritta recht schnell dem Liebes-Genre zugeordnet werden. Anders verhält es sich mit den Ont-Markierungen, wie man in der Scritta in Abb. 32 sehen kann. Die Ref-Token Lazio (gestrichen) und Roma (beide beziehen sich kontextbedingt deutlich auf die Fußballvereine A.S. Rom und S.S. Lazio) stehen in Verbindung mit dem Ont-markierten Token merda. Das Lexem merda hat offensichtlich einen eigenen (ebenfalls deutlichen) Referenzbezug, jedoch wäre eine Scritta-Typisierung mit dem isoliert auftretenden Token merda weitaus schwieriger. Als Typ einer ontologischen Hierarchie und in Verbindung zu den Ref-Token ergibt sich dagegen eine deutliche Zuordnung der Scritta nicht nur zum Genre ULTRAS (dafür würden bereits die beiden Eigennamen alleine ausreichen), sondern zu einer untergeordneten Ebene dieses Genres und zwar eine aversive Ultras-Scritta.

Die Gruppierung der Token nach Ref-, Ont- und Pred-Klassen bieten Raum für verschiedene Analysen: So können die Lexeme der Ref-Token ausgelesen und Kommunikationsstrategien innerhalb einzelner Genres oder genreübergreifend abgeleitet werden, bspw. beim Gebrauch von Eigennamen oder der Verwendung von Wortfeldern oder Schlagwörtern. Ebenso können solche ontologischen Hierarchien für die Genres (sowie für das Gesamtkorpus) erstellt und interpretiert werden.

Um eine direkte Verbindung für einen ersten Beleg zu erhalten, wurden Links zu Internetseiten (bspw. zu Wikipedia) in entsprechende Annotationsklassen an die einzelnen Gruppenknoten geschrieben. Dies erleichtert die Überprüfung der annotierten Daten und imitiert auf eine (offensichtlich sehr vereinfachte und langsame) Art und Weise die Aktivierung bestimmter Frames oder Wissenskomplexe auf Seiten der Rezipienten.

5.3. ScriMuRo – das fertige Korpus

Dieses Kapitel gibt einen Überblick zu allen Eckdaten des ScriMuRo-Korpus, welche aus der Digitalisierung des Sprachmaterials hervorgegangen sind. Das Korpus wird im Rahmen dieser Arbeit für die Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Einige der Attribute und Daten werden dabei lediglich für die Analyse dieser Forschungsarbeit benötigt und werden daher nicht veröffentlicht.

5.3.1. Grundlegende Daten

Kategorie

Anzahl

Datenbank Code (:Label)

Fotos

2314

(:Image)

Scritte

3294

(:Fragment)

Token

– Gesamt

– Sprachliche Zeichen

– Bildgraphische Zeichen

 

19.114

17.158

1.956

(:Token)

 

Relationen zwischen Knoten insg.

65.370

[:edge]

Gruppen (Kommentare, Frames, Blanco)

6.124

(:group)

Eckdaten des ScriMuRo-Korpus

5.3.2. Annotierte Attributsklassen

Knoten/Kategorie

Attributsklasse

Datenbank Code {Property}

Fotos (:Image)

IDATTclass (eindeutige Identifikationsnummer)

<ID>

DateinameATTclass
(im Format: IMG_JahrMonatTag_Uhrzeit.jpg)

{file_path}

GPS-KoordinatenATTclass
– Längengrad
– Breitengrad

{longitude}
{latitude}

 

ErstellungsdatumATTclass (Erstellung der Fotografie)

{GPSDateStamp}

Scritte (:Fragment)

IDATTclass (eindeutige Identifikationsnummer)

{id}

 

GPS-KoordinatenATTclass
– Längengrad
– Breitengrad

{longitude}
{latitude}

 

GenresATTclass (1, 2, 3)
(Mehrfache Zuordnung möglich)

{heurThem, heurThem2, heurThem3}

 

TotenkultATTclass

{deathcult}

 

TypographieATTclass

{graphtype}

Token (:Token) – Sprachliche Zeichen

IDATTclass (eindeutige Identifikationsnummer)

{id}

 

GPS-KoordinatenATTclass
– Längengrad
– Breitengrad

{longitude}
{latitude}

 

HandATTclass

{hand}

 

TranskriptionATTclass

{value}

 

KonjekturenATTclass (Divinatorische Verbesserungen; s. o.)

{conjecture}

 

EmendationATTclass (Evidente Verbesserungen; s. o.)

{emendatio}

 

POSATTclass (Wortarten)

{POS}

 

LemmaATTclass

{Lemma}

 

DialektATTclass

{dialect}

 

SpracheATTclass

{language}

 

KürzungenATTclass

{abbreviation}

 

FarbeATTclass

{color}

 

TypographieATTclass

{graph}

 

TrägerATTclass

{ground}

 

ErstellungswerkzeugATTclass

{tool}

 

Erklärende InternetartikelATTclass

{InternetLink}, {Internet2}

Token (:Token) – Bildgraphische Zeichen {tokenType: Symbol/ tokenType: Ikon}

IDATTclass (eindeutige Identifikationsnummer)

{id}

 

GPS-KoordinatenATTclass
– Längengrad
– Breitengrad

{longitude}
{latitude}

 

HandATTclass

{hand}

 

TranskriptionscodeATTclass (Digitaler Code für Bildgraphische Zeichen)

{value}

 

ZeicheninhaltATTclass (Zuordnung der Zeichen zu thematisch gegliederten Inhalten)

{sym_field}

 

ZeichentypATTclass

{signtype}

 

FarbeATTclass

{color}

 

TrägerATTclass

{ground}

 

ErstellungswerkzeugATTclass

{tool}

 

Erklärende InternetartikelATTclass

{InternetLink}, {Internet2}

Attributsklassen des ScriMuRo-Korpus

Die Modifikationstoken {tokenType: modification} enthalten neben den eben genannten Attributen der Token-Klasse – abhängig davon, ob es sich um sprachliche oder bildgraphische Zeichen handelt – zusätzlich das Attribut ‘Modifikationstyp’ ({mod_type}).

6. Genre-Prototypen der Scritte Murali

Wie in Kapitel im Rahmen des Analyse-Modells festgehalten, wird davon ausgegangen, dass sich die Produzenten und Rezipienten beim Erstellen und Lesen an sog. Genres orientieren. Diese strukturierten, sozio-kognitiven Komplexe fungieren als zentrale Orientierungspunkte bei der Typisierung der Einzeltexte und werden nicht willkürlich, sondern anhand bestimmter Merkmale der Scritte nach Domänen (vor-) sortiert. Den Blick der Rezipienten im öffentlichen Raum einnehmend, wurden die Scritte bei der Digitalisierung induktiv diesen Domänen zugeordnet. Dies geschah auf Basis der in Kapitel beschriebenen Attribute der Scritte. Nachfolgend werden zunächst kurz die erschlossenen Genre-Domänen, die im Korpus vorkommen beschrieben und die statistische Verteilung auf das Gesamtkorpus gezeigt. Anschließend werden die Attributs-Werte zu den einzelnen Genre-Domänen ausgewertet und anhand der statistischen Daten jeweils die Genre-Prototypen erstellt. Dabei wird nach der Gewichtung in zentrale, periphere und subsidiäre Attribute unterschieden und über die Häufigkeit dieser Attributswerte interpretiert. Den domänenspezifischen Prototypen (die auf der Basisebene anzusetzen sind, siehe Kapitel ) vorangestellt, wird ein Überblick zur übergeordneten Ebene – d. h. Scritte Murali generell – gegeben. Wie sich zeigen wird, verfügen die domänenspezifischen Prototypen der Basisebene in einigen Fällen über eine untergeordnete Kategorie (die sog. Subdomänen), welche ebenfalls ausgewertet werden und den ihnen übergeordneten Kategorien bzw. Domänen sowie den ko-hyponymischen ‘Nachbarkategorien’ gegenübergestellt werden. Vor der Auflistung der extrahierten Domänen ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass in diesem Kapitel keine Interpretation der Ergebnisse erfolgen wird, sondern lediglich die auf den statistischen Auswertungen der Attributswerte basierenden Prototypen gezeigt und auf eventuelle Auffälligkeiten bezüglich der in Kapitel beschriebenen Prototypen-Bedingungen hingedeutet werden. Diese Prototypen werden dann im anschließenden Kapitel in Beziehung zu den analytischen Basiskategorien aus Kapitel gesetzt und dementsprechend interpretiert.

Folgende Domänen wurden während der Digitalisierung des Sprachmaterials erfasst:230

Domäne

Beschreibung

POLITIK

Scritte Murali, welche im weitesten Sinne mit der Wissenskonfiguration des Bereiches ʻPolitik’ verbunden sind – ganz gleich, ob es sich dabei um politische Parolen handelt, politische Akteure benannt werden oder lediglich bildgraphische Zeichen aus dem semantischen Bereich der Politik erstellt wurden.

ULTRAS231

Texte, die in jeglicher Weise Wissenskomplexe der Domäne ULTRAS evozieren. Bewusst wurde der Begriff Ultras gewählt, da eine Domäne FUßBALL den Fokus zu sehr auf den Sport an sich richtet. Es lässt sich deutlich erkennen, dass der sportliche Aspekt lediglich eine Nebenrolle in den realisierten Texten einnimmt und die (Fan-) Gruppierungen das zentrale Moment (der Frame- oder Domänen-Kern) in diesem Bereich sind. Grundlegend ist dabei zu bemerken, dass es sich bei den sog. Ultras nicht um Fußball-Hooligans handelt, deren Ursprung in der englischen Fußballkultur liegt und die heutzutage v. a. in Nord- und Osteuropa verbreitet sind. Die Ultras-Bewegungen entstanden tatsächlich in Italien in den 1960er und 1970er Jahren und werden – anders als dies bei den Hooligans der Fall ist, die traditionell v. a. aus Mitgliedern der Unter- und Arbeiterschicht bestehen – von Individuen aus allen sozialen Gesellschaftsschichten gebildet. Besonders in Italien besteht seit jeher eine enge Verbindung zwischen (extrem-) politischen Lagern und den Ultras-Gruppierungen, welche auch in den zahlreichen Aktionen innerhalb und außerhalb der Stadien deutlich erkennbar wird.232 Diese in hohem Maße organisierten Fangruppierungen üben dabei häufig auf vereinsinterner wie -externer und sogar gesellschaftlicher Ebene enormen Einfluß  aus (vgl. Festa und Claus/Gabler 2018).

Expressivität

Mit Expressivität (lat. ex-pressus aus-gedrückt) sind hier Texte gemeint, die (im engeren Sinne) den Ausdruck von Emotionen vermitteln (sollen).233

Diverses

Unter dieser Domäne werden Scritte gesammelt, welche Frames unterschiedlichster Art evozieren, wobei entweder die Frames derart unspezifisch sind, dass eine genauere Zuordnung nicht möglich ist, oder die Token und Types unzureichend häufig auftreten, um eine eigene Domäne zu eröffnen. Interessant in dieser Domäne sind vor allem die Subkategorien, wie z. B. Scritte aus dem Bereich der Subkultur oder Gruß-Texte (meist ohne Adressat).

Ideologie

Hierunter fallen Texte, die ideologisches Gedankengut ausdrücken. Mit Ideologie sind hier Weltanschauungen, Grundwerte oder Wertungen gemeint, die an soziale Gruppierungen, Kulturen oder ähnliches gebunden sind und oftmals (aber nicht ausschließlich) politische Hintergründe haben (vgl. Duden 2020).

Religion

Scritte Murali, die Frames, welche im weitesten Sinne mit Religion jeglicher Art in Verbindung stehen., aktivieren.

Feminismus

Dieser Domäne zugehörige Scritte sind oftmals stark politisiert und werden mit einem Wissenskomplex ʻFeminismus’, i. S. v. „Richtung der Frauenbewegung, die, von den Bedürfnissen der Frau ausgehend, eine grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen Normen (z. B. der traditionellen Rollenverteilung) und der patriarchalischen Kultur anstrebt“ (Duden 2020b), verbunden.

NA

Scritte, welche keinerlei Wissenskomplexe auf Textebene aktivieren, da sie komplett rasiert wurden, wurden mit ʻNA’ (not available) versehen. Offensichtlich haben auch solche Scritte ʻausdrucksvoll’ kommunikativen Gehalt, aufgrund der geringen Anzahl, können sie jedoch im Interpretationsteil ignoriert werden.

Erfasste Domänen des ScriMuRo

Wirft man einen Blick auf das Sprachmaterial, könnte man argumentieren, dass ein nicht unerheblicher Teil der Texte, die unter den voranstehenden Domänen kategorisiert wurden, ebenfalls Emotionen ausdrücken (oftmals Beschimpfungen und Diffamierungen) und sie daher ebenfalls der Domäne ʻExpresivität’ zugeordnet werden müssten. Diesbezüglich möchte ich auf Kapitel verweisen und auf die dort beschriebenen Abstraktionsprozesse innerhalb der Kategorisierungsabläufe. Die Domänenzugehörigkeit orientiert sich an den am höchsten, also abstraktesten, anzusetzenden Matrix-Frames (= hier Domänen), die im Zuge der Vorsortierung als Fixpunkte dienen. Diese abstraktesten Wissensstrukturen umfassen komplexe Konzept- und Handlungskomplexe. Für eine Zuordnung zur Domäne EXPRESSIVITÄT war nun ausschlaggebend, dass keine weiteren gleichwertigen oder gleich-relevanten (i. S. v. ko-hyponymischen) Matrix-Frames aktiviert werden. Dies geschieht bei emotionsausdrückenden Scritte der Domänen POLITIK oder ULTRAS sehr wohl, da diese äußerst komplexen Wissensstrukturen jenem Frame der ExpressivitätFRAME234 nicht nur gleich- sondern übergeordnet sind. Eine einfache Erklärung liegt darin, dass die frame-identifier (Kernelemente/Schlüsselwörter) an der Textoberfläche im Bereich der Ultras- oder Politik-Scritte weitaus informationsreicher und somit die aktivierten Frames von höherer Komplexität sind. Exemplarisch kann dies an der einfachen Tokenfolge X + boia illustriert werden:235

  1. Marco boia
  2. Laziale boia

Beide (Matrix-) Frames, die durch die Stimuli Marco und Laziale aktiviert werden, beinhalten bestimmte Merkmale (Instanzen oder Slots) mit bestimmten Standardwerten (default values), wobei theoretisch jeder Wert wieder einen Frame eröffnen und größere Wissenskomplexe mit dem Frame verbinden kann. Nun handelt es sich in beiden Fällen um Autosemantika, jedoch scheint es offensichtlich, dass der durch Laziale aktivierte Frame mehr Instanzen und folglich eine größere Zahl an Standardwerten aufweist, und somit spezifischer ist.236 Wie in DEFAULT mit Ziem festgehalten, entsprechen den Instanzen Fragen, „die sich sinnvoll hinsichtlich eines Bezugsobjektes stellen lassen“ (2008, 304). Im Zuge der Vorsortierung237 möglichst abstrakte Frames/Domänen zu erhalten, steigt auch der Abstraktionsgrad der Fragen, wodurch die Menge an möglichen Fragen proportional abnimmt (vgl. Ziem 2008, 306). Eine Möglichkeit, sinnvolle Fragen bzw. Instanzen238 (für Substantive) zu ermitteln, wäre die sog. Hyperonymtypenreduktion, wie sie Klaus-Peter Korneding entwickelt hat.239 Die Instanzen der Frames, die durch Token aufgerufen werden (hier Marco und Laziale), decken sich mit den Instanzen der durch Reduktion ermittelten Instanzen der Hyperonyme, deren Substantivtypen den Matrix-Frames entsprechen. Entscheidend ist nun, die Fragen240 für diese Hyperonyme zu bestimmen. Diese Vorgehensweise hat sich, wie Lönnekers Korpusanalysen gezeigt haben, empirisch bewährt, wobei Lönneker gezeigt hat, dass nicht alle Frames auf der gleichen Ebene anzusetzen, sie also nicht gleichberechtigt sind, sondern in einer vertikal ausgerichteten Hierarchiebeziehung auftreten (vgl. Ziem 2008, 313-316). Beide Token Marco und Laziale aktivieren zwar den Matrix-Frame PersonFRAME oder LebewesenFRAME, die Instanzen für MarcoFRAME sind jedoch weitaus unspezifischer, als für Laziale, d. h., der Frame zu MarcoFRAME hat Standardwerte wie z. B. [Vorname], [männlich], [häufig verwendet im italienischen Sprachgebiet], [Stammt von lat. Marcius oder Marcianus] usw.241, wovon – wie gesagt – jeder Standardwert wiederum Frames aktiviert. Wie in DEFAULT bereits erwähnt, sind Eigennamen eigentlich semantisch leer und tragen an sich erst einmal keine Bedeutung (vgl. Hoffmann 1999, 213), sondern erfahren erst durch bestimmte Kontexte ihre Bedeutung. Demgegenüber aktiviert das Token Laziale Instanzen des Typs [Einwohner der Region Latium] oder [Anhänger oder Spieler des Vereins S.S. Lazio Rom],242 wobei der Kontext der Scritta die zweite Instanz ([Anhänger des Vereins S.S. Lazio Rom]) salienter erscheinen lässt. Diese Instanz aktiviert eine Vielzahl an weiteren Frames, die mit dem Matrix-Frame verbunden sind. Von fundamentaler Bedeutung ist, dass nicht alle Instanzen und Frames gleich relevant sind, da es in erster Linie nicht maßgebend ist, ob Frames zueinander generell interaktionsfähig sind, ob sie also miteinander verknüpft werden können, sondern der „Grad der Salienz bestimmter Annahmen“ (Ziem 2008, 332), sprich, „es erweisen sich keineswegs alle Leerstellen und alle Standardwerte als gleichermaßen relevant, wenn ein Wort einen Frame aufruft. […] Nur im Fall hoher Salienz erfolgen implizite Prädikationen“ (Ziem 2008, 339-340).243 So ist der Frame [Berühmte Namensträger der italienischen Geschichte]FRAME (bspw. Marco Polo), der durch die Instanz [männlicher Vorname] aktiviert werden kann, im Kontext einer Scritta Murale nicht sinnvoll i. S. v. nicht relevant. Die Instanzen und damit verbundenen Frames von MarcoFRAME beschränken sich also auf ein (relevantes) Minimum, bei Laziale dagegen sind die verknüpften Frames bis hin zu UltrasFRAME mit seinen Standardwerten sehr wohl relevant und v. a. weitaus spezifischer. Der maßgebende Schritt für die Entscheidung der Rezipienten die Scritte jeweils einer Domäne EXPRESSIVITÄT bzw. ULTRAS zu zuordnen liegt in der Verknüpfung aller relevanten Frames und die anschließende Reduktion auf einen Matrix-Frame.

Der Handlungsframe BeschimpfenFRAME ist mit den Konzeptframes von MarcoFRAME und LazialeFRAME verbunden. Die oben beschriebenen Fragen und Ableitungsprozesse zu den beiden Bezugsobjekten eröffnen auf der Seite des Frames MarcoFRAME weitaus weniger spezifische Informationen, als auf der Seite des Frames UltrasFRAME. WER beschimpft WEN? (als Frage für den Beschimpfungsframe) kann für die Tokenfolge Laziale boia viel genauer vermutet werden244, als bei Marco boia245. Der Handlungsframe BeschimpfenFRAME ist außerdem in eine der Standardwerte des Frames eingebettet und zwar in [Typische Verhaltensweise].246 Einen als Standardwert angenommenen Wert des Typs [Wird typischerweise beschimpft] existiert für den Frame MarcoFRAME dagegen nicht. Somit steigt im Falle von Marco boia der Handlungsframe BeschimpfenFRAME als abstrakter Frame auf; bei Laziale boia dagegen ist der Frame BeschimpfenFRAME eingebettet in den höheren Frame UltrasFRAME. Die Dominanzen innerhalb der aktivierten Frames würden sich verschieben, wenn bspw. das Token Marco durch weitere Token oder konventionalisierte Standardwerte247 genauer spezifiziert wäre, bspw. durch einen Nachnamen.248.

Generell spielt bei der Zuordnung der Scritte zu Domänen – bzw. ganz allgemein bei der Bildung (proto-) typischer Wissensstrukturen – die Rekurrenz bestimmter (sprachlicher, wie außersprachlicher) Werte eine zentrale Rolle.249 Mit Bezug auf Standardwerte und prototypische Frames, bemerkt Ziem, „dass explizite Prädikationen durch eine verhältnismäßig hohe Frequenz ihres Auftretens zu guten Kandidatinnen für künftige implizite Prädikationen werden. Die große Menge potentiell relevanter Standardwerte verringert sich so schlagartig. Ganz analog gilt für Leerstellen: Nur diejenigen Leerstellen, in denen Werte häufig instantiiert werden, erweisen sich als primär verstehensrelevant“ (2008, 341). Dies erklärt nicht nur, wieso sich anhand der Korpusanalyse und den quantitativ gestützten statistischen Auswertungen der Werte, u. a. prototypische Strukturen (Genres) rekonstruieren lassen, sondern auch, weshalb eine Restgruppe (DIVERSES) als Domäne existiert, da unter dieser Domäne auch Scritte zusammengefasst werden, deren Token(folgen) nicht ausreichend häufig auftreten, um sie einer speziellen Domäne zuordnen zu können. Wie zentral die Rolle der Auftretens-Häufigkeit von Token und Types für die Bildung der Prototypen generell ist und in welchem Zusammenhang die Frequenz mit den Frame-Abläufen steht, beschreibt Ziem, der Erkenntnisse aus der Kognitiven Grammatik und des Entrenchment-Phänomens mit den Verfestigungen von Leerstellen und Werten in der Frame-Semantik verknüpft:

Die eingeführte Unterscheidung zwischen der Verfestigung von Leerstellen einerseits und der Verfestigung von Werten andererseits wird zwar weder in der Kognitiven Grammatik noch in der Konstruktionsgrammatik thematisiert, jedoch lassen sich Bezüge zu zwei geläufigen Erklärungen von ‘entrenchment’-Phänomenen herstellen. So werden Verfestigungen entweder durch eine hohe ‘Token-Frequenz’ (‘token frequency’) oder durch eine hohe ‘Type-Frequenz’ (‘type frequency’) erklärt.(Ziem 2008, 343)

Abschließend sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Domänen-Zuordnung trotz aller, aus wissenschafts-theoretischer Perspektive, beschriebenen Kategorisierungsabläufe im Rahmen dieser Arbeit immer aus subjektiver Sicht des Verfassers geschehen ist und somit Zuordnung der Scritte aus Sicht des Lesers davon abweichen können. Dass es zur Kategorisierung von den im bisherigen Verlauf der Arbeit bezeichneten Liebes-Scritte zu einer Domäne EXPRESSIVITÄT und nicht einer eigenen Domäne LIEBES-SCRITTE gekommen ist, liegt sicherlich auch am Verlangen, Objekte möglichst abstrakt zu kategorisieren und übergeordneten Wissenskomplexen zu zuordnen – wie dies allgemein bei der Kategorisierung von Objekten geschieht (siehe oben und DEFAULT).250 Diese Bündelung zu höher gestellten Matrix-Frames entwickelte sich im Verlauf der Digitalisierung und Annotation des Sprachmaterials, d. h. mit zunehmender (intensiver) Beschäftigung mit den Texten, wodurch der Übergang von der Laien- zur Experten-Perspektive unvermeidbar war. Konsultiert man die Daten, so zeigt sich, dass der größte Anteil der Expressivitäts-Scritte tatsächlich Liebes-Scritte sind – prototypische Scritte des Genres EXPRESSIVITÄT sind also Liebes-Scritte. Zuletzt ist eben genau einer der Merkmale von prototypischen Kategorien, dass sie über unscharfe Grenzen verfügen und dies zeigt sich genau in der subjektiven und rekonstruierenden Interpretation der Scritte in dieser Arbeit.

6.1. Scritte Murali als übergeordnete Kategorie

Die oben genannten acht Domänen zeigen folgende Verteilung auf die insg. 3294 erfassten Scritte Murali:251

Domäne

Häufigkeit

Anteil an gesamter Domänen-Anzahl (3741)

Anteil (bereinigt)

Politik

1117

30 %

28,90 %

Ultras

1001

27 %

26,92 %

Expressivität

740

20 %

20,12 %

Diverses

740

20 %

20,31 %

Ideologie

60

2 %

1,56 %

Religion

46

1 %

1,23 %

Feminismus

35

1 %

0,91 %

NA

2

0,05 %

0,05 %

 

3741

 

 

Distribution der Domänen im Korpus

Bei insgesamt 425 Scritte – also 12,90 % der Scritte – wurden > 2 Domänen vergeben, wodurch sich eine Gesamtzahl von 3741 vergebenen Domänen auf die 3294 Scritte ergibt. Bei einem geringen Teil der Scritte (2,51 % der insg. vergebenen Domänen) konnte eine Domänen-Zuordnung lediglich vermutet werden. Diese wurden mit einem vorangestellten ʻ?’ markiert (im Format ?DOMÄNE). Die Spalte Anteil (bereinigt) gibt den prozentualen Anteil der Domänen an den insgesamt vergebenen Domänen ohne diese fraglichen Domänen an.252

Die domänen-spezifischen Scritte verteilen sich folgendermaßen im Untersuchungsgebiet:253

IK 2: Domänenverteilung in den Erhebungsgebieten – Vollbildanzeige

6.1.1. Zentrale Attributsklassen – Gesamtkorpus

Tokenanzahl der Hand 1
Die gezeigten Werte beziehen sich auf die Tokenzahl aus Hand 1 pro Scritta Murale, unabhängig von Sprachen oder sonstigen Attributen (außer der erstellenden Hand).254

Modifikations-Anfälligkeit
Von den insgesamt 3294 Scritte des Korpus wurden 767 modifiziert, d. h., 23 % der Scritte wurden von mindestens einer, maximal aber sieben weiteren Händen modifiziert. Für eine genaue Beschreibung der typischen Modifikationsroutinen siehe Kapitel .

Verwendung bildgraphischer Zeichen
Mit 39 % weisen über ein Drittel der Scritte bildgraphische Zeichen mit unterschiedlichsten Inhalten auf. Eine Übersicht zu den insgesamt verwendeten bildgraphischen Zeichen ist in Kapitel zu finden.


Sprachliche Zeichen

Lexik
Bei der Ermittlung der Lexik wurden zunächst lediglich die aus Hand 1 stammenden Lemmata der verwendeten Token ausgewertet. Ermittelt wurden die semantisch geladenen Lexeme, d. h. Substantive, Adjektive, Adverbien und Interjektionen.255 Interessant wird die Auswertung der Lemmata – und damit der semantischen Wortfelder – jedoch erst bei den jeweiligen Domänen und im Vergleich derer untereinander. Die folgenden zwei Charts geben die 423 im Gesamtkorpus auftretenden Lemmata mit einer Mindestfrequenz von 3 an.256

Eigennamen
Domänen- und Handübergreifend wurden 161 Eigennamen ermittelt. Nachfolgend werden die verwendeten Eigennamen mit einer Mindestfrequenz von 3 angegeben. Nicht selten werden Eigennamen in den Scritte Murali gekürzt, wobei diese Token meist auf Basis der Satzstruktur als Eigennamen identifiziert wurden. Diese Kürzungen – die teilweise aus lediglich einem Buchstaben bestehen – werden ebenfalls angegeben.

Sprachen und Dialektale Varianten
Folgende Sprachen wurden über alle Hände verteilt im Gesamtkorpus erfasst:257

Lediglich 393 Token im Korpus treten in dialektaler oder regionaler Variante auf, von denen bis auf sieben Token in süditalienischen Varianten (vermutlich neapolitanischer Dialekt) alle in der römischen Varietät realisiert sind. Insgesamt werden nur 140 verschiedene Lemmata in dialektaler Variante realisiert, wobei die Hälfte aller aufgetretenen Token von 10 Lemmata gebildet werden.

Kürzungsverfahren
Unter Kürzungsverfahren werden hier Token verstanden, die Vollformen auf graphematischer Ebene gekürzt repräsentieren. Unterschieden wurde dabei zwischen zwei Typen von Akronymen (gemeint sind hier allgemein Initialwörter), Kopf- und Endformen und rein graphematische Abkürzungen der Vollformen:

Akronyme – initial

Die Token werden aus den Initialen oder Initialsequenzen der Vollform-Konstituenten gebildet.

Akronyme – mix

Token werden hierbei sowohl durch Initialen der Konstituenten als auch durch Klammerwörter gebildet werden.

Kopfformen

Teile am Ende der Vollform werden getilgt.

Endformen

Teile am Anfang der Vollform werden getilgt.

Graphematische Abkürzung

Die Vollform wird auf graphematischer Ebene verkürzt, etwa bei  für per.

Übersicht der Kürzungstypen

Von insgesamt 13888 Token (die sprachliche Zeichen enthalten), können 1194 diesen Kürzungsverfahren mit folgender Verteilung zugewiesen werden – dies entspricht 8,60 %:

Die häufigsten Realisierungen bis einer Mindestfrequenz von 3 werden nachfolgend dargestellt:

Part-Of-Speech (POS) – Wortarten
Bei den Wortarten, die über den TreeTagger mithilfe verschiedener Tag-Sets ermittelt wurden (siehe DEFAULT), ergaben sich für Hand 1 Verteilungen auf das Gesamtkorpus, wie nachfolgend dargestellt.

Die automatisierte Erkennung der Wortarten anhand des TreeTaggers wurde besonders durch die erwähnten Kürzungsverfahren, aber auch durch die vielen Eigennamen, unregelmässig Schreibvarianten und durch Modifikation unlesbare Token erschwert. Nicht erkannte Token wurden als NOCATATTval zusammengefasst.258

Betrachtet man die Verteilung der Wortarten bezogen auf die Tokenanzahl pro Scritta so ergibt sich für Scritte mit einer Tokenzahl 1 bis 6 für Hand 1 folgendes Bild:

n-Gramme
Die Auswertungen hinsichtlich der syntaktischen Beschaffenheit der Texte ergeben folgende 2-Wortkombinationen.

Die häufigsten 2/3/4-Lemmata-Kombinationen für das Gesamtkorpus sind folgendermaßen realisiert:

Verteilung der Scritte Murali im Erhebungsgebiet
Als letzte der zentralen Attributsklassen, müssen die (physischen) Ortsdaten der Scritte betrachtet werden. Die georeferenzierten Fotos der Scritte sind, wie in der interaktiven Karte ersichtlich, folgendermaßen im Erhebungsgebiet verteilt. In der Karte können die Frequenzen der Scritte sowohl als Heatmap als auch in Gruppen-Clustern angezeigt werden, um eine visuelle Übersicht zur Verteilung im Gebiet zu erhalten.

IK 3: Standorte der SM des Gesamtkorpus – Vollbildanzeige

6.1.2. Sekundäre Attributsklassen – Gesamtkorpus

Farbe
In der Klasse der Farbe, in welcher die Scritte erstellt wurden, dominiert die Farbe Schwarz mit 60 % der Gesamttoken, gefolgt von Rot, Weiß und Blau mit je 12, 11 und 8 %:

Die Ergebnisse beziehen sich auf alle Hände und beinhalten jede Form von Token. Unter dem Wert FarbkombinationenATTval wurden Scritte zusammengefasst, die anhand mehrerer (max. fünf) verschiedenen Farben erstellt wurden. Bei 244 der insg. 314 dieser Kategorie zugehörigen Scritte kam ebenfalls die Farbe Schwarz, bei 171 die Farbe Rot, bei 154 die Farbe Weiß und bei 47 die Farbe Blau vor. Es lässt sich also auch hier eindeutig die Dominanz dieser vier Farben im Sichtbild der Scritte Murali erkennen.

Typographie
Vor der Darstellung der statistischen Ergebnisse der Attributsklasse Typographie, sei darauf hingewiesen, dass es sich bei den Werten um rein interpretative Werte handelt. Ob also die Graphen eines Token tatsächlich bewusst in einem bestimmten Stil erstellt wurden (Wert: elaboriertATTval) oder die Graphen willkürlich – d. h., ohne einen speziellen Graphtypen zu repräsentieren – realisiert wurden, lässt sich nicht mit Sicherheit bestimmen, sondern unterliegt der Wahrnehmung des Betrachters. Aus diesem Grund gibt es einen Wert N/AATTval, da es auch aus Sicht des Verfassers nicht immer erkennbar war, ob ein bewusst gewählter Graphentyp seitens des Scritta-Produzenten intendiert war. Eine letzte Gruppe OrnamentATTval bezeichnet jene Scritta-Texte, die nicht nur bewusst elaborierte Graphtypen vorweisen, sondern außerdem verzierende, ornamentartige Elemente aufweisen.

6.1.3. Subsidiäre Attributsklassen – Gesamtkorpus

Zu den ablesbaren Attributen der Scritte Murali zählen schließlich auch die subsidiären, technisch-materiellen Merkmale (siehe DEFAULT), d. h. die ErstellungswerkzeugeATTclass und Träger(flächen)ATTclass.

Erstellungswerkzeuge
Nachfolgende Ergebnisse beziehen sich auf alle Hände der Scritte im Gesamtkorpus inklusive der modifizierenden Token.

Die Werte PinselATTval, (Wand-) FarbeATTval und EntfernerATTval bedürfen weiterer Erklärung: Die beiden erstgenannten Werkzeuge unterscheiden sich hinsichtlich des Formats der Lettern innerhalb einzelner Scritte. Mit Pinsel erstellte Lettern sind dabei kleindimensionierte, im Gegensatz zu mit Wandfarbe erstellten und damit großformatigen Lettern. Zweitgenannte Zeichen können selbstverständlich ebenfalls mit Pinseln erstellt werden, jedoch nicht durch einfache Pinselstriche, wie dies bei der Kategorie Pinsel der Fall ist. Der Wert EntfernerATTval bezieht sich ausnahmslos auf eine Hand 2 und meint das bewusste Entfernen der vorhergehenden Hand durch Personen (witterungsbedingte Unleserlichkeit wird dadurch ausgeschlossen).

Träger(flächen)
Die Scritte des Gesamtkorpus wurden auf folgenden Trägerflächen erstellt (eine Interpretation und genauere Beschreibung erfolgt in den entsprechenden Kapiteln zur Funktionalität der einzelnen Domänen; siehe DEFAULT):

6.1.4. Modifikationsroutinen – Gesamtkorpus

Der Terminus Modifikation im Rahmen der vorliegenden Arbeit bezeichnet das absichtliche Verändern von Scritta-Texten einer oder mehrerer vorangegangener Hände durch Personen. Von den insgesamt 3294 wurden 767 Scritte durch mindestens eine, maximal sieben weitere Hände modifiziert. Mit 23,28 % ist somit knapp ein Viertel aller Scritte durch weitere Personen verändert worden, wobei über 90 % der Scritte durch maximal drei weitere Hände modifiziert wurde, wie aus Tabelle 6 evident wird:

Hand

Anzahl Scritte

Anteil

2

467

61 %

3

160

21 %

4

95

12 %

5

30

4 %

6

11

1.43 %

7

2

0.26 %

8

2

0.26 %

 

767

 
Anteile der modifizierenden Hände für Scritte Murali als übergeordnete Kategorie

Bei der Erfassung der Scritte bzw. Modifikationen wurden Modifikationen hinsichtlich der Modifikationsebenen, -typen und der Relation zur modifizierten Hand differenziert: Veränderungen aus Hand 2 oder höher können auf Satzebene (Syntax), Tokenebene oder Graphebene stattfinden. Generell lassen sich drei Arten von Relationen zur modifizierten Hand erkennen, und zwar affirmierend (d. h., die nachfolgende Hand bestätigt, bekräftigt oder kommentiert den Inhalt der modifizierten Hand in irgendeiner Form), negierend (hier widerspricht, verneint oder bezieht sich die modifizierende Hand in ablehnender Haltung auf die vorangegangene Hand) oder neutral (wobei weder eine ablehnende oder zustimmende Haltung des Produzenten aus Hand ≥2 nicht erkennbar ist). Insgesamt wurden 13 Modifikationstypen festgestellt, welche nachfolgend in der Tabelle („Anteile der Modifikationstypen – Gesamtkorpus“) 259 und dem interaktiven Chart („Modifikationstypen nach Ebenen – Gesamtkropus“) dargestellt und näher beschrieben werden.

Ich gehe davon aus, dass die Modifikationen nach musterhaften Routinen ablaufen, d. h., Token sowie Satz-, Token und Graphteile werden nicht willkürlich modifiziert, sondern es lassen sich je nach Domäne unterschiedliche Formen der Modifikationsroutinen erkennen. Um diese Routinen ableiten zu können, sind dementsprechende statistische Daten vonnöten, die zeigen, WAS wird WIE typischerweise modifiziert. Diese Daten sind in erster Linie für die jeweiligen Domänen von Bedeutung, sollen jedoch der Vollständigkeit halber auch für Scritte Murali als übergeordnete Kategorie dargestellt werden. Hierfür wurden verschiedene Abfragen im Korpus durchgeführt, um zu zeigen, welche Token und Wortarten (POS) sowohl für Hand 1 als auch hinsichtlich aller möglichen Hände wie oft und auf welche Art modifiziert wurden. Nachfolgend werden die Ergebnisse in den interaktiven Tabellen dargestellt. Zu beachten ist dabei, dass sowohl die Ergebnisse der modifizierten Token ausschließlich aus Hand 1 als auch über alle Hände verteilt gezeigt werden. Außerdem wird unterschieden zwischen den gesammelten möglichen Werten der modifizierenden Token und den Häufigkeiten der Einzelwerte der modifizierenden Token.

Wortarten (POS):

Bildgraphische Zeichen:
Wie sich aus den obenstehenden Tabellen zu den Wortarten entnehmen lässt, sind bildgraphische Zeichen ein beliebtes Ziel der Modifikationen: sowohl bei Zeichen aus Hand 1 als auch aus allen Händen, liegen die bildgraphischen Zeichen an dritter bzw. vierter Stelle der am häufigsten modifizierten Wortarten. Wie man in Kapitel sehen wird, ist die Verwendung von bildgraphischen Zeichen besonders domänenabhängig und eine statistische Auswertung der modifizierten bildgraphischen Zeichen soll daher erst in den entsprechenden Kapiteln der Domänen erfolgen.

Ortsabhängigkeit:
Auch die Ortsabhängigkeit ist für die Modifikationsroutinen ein zentrales Analysekriterium, wobei dies v. a. für die einzelnen Domänen von besonderer Bedeutung sein wird. Auf das Gesamtkorpus bezogen – und damit gültig für Scritte Murali als übergeordnete Ebene – ist die Ortsabhängigkeit hinsichtlich der Modifikationsroutinen in erster Linie in Bezug auf die Erhebungsgebiete interessant. Modifizierte Scritte sind in der folgenden Karte (IK 4) mit roten Markern dargestellt; Scritte ohne Modifikationen dagegen werden durch blaue Punkte angezeigt. Um die Verteilung der Scritte visuell eindrücklich darzustellen, werden die Erhebungsgebiete ebenfalls illustriert.


IK 4: Ortsabhängig der Modifikationen im Gesamtkorpus – Vollbildanzeige

6.1.5. Typische Zeichenkonstruktionen – Gesamtkorpus

In den vorangegangenen Kapitel war wiederholt von sog. bildgraphischen Zeichen die Rede. Diese Zeichentypen sind für die Kommunikation anhand von Scritte Murali von Bedeutung, da sie im Vergleich zu sprachlichen Schriftzeichen ihre Inhalte andersartig kommunizieren können (siehe DEFAULT): bspw. verdichten sie den semantischen Inhalt auf äußerst kompakte Weise oder liefern stark konnotierte Nebenbedeutungen. Bildgraphische Zeichen ist in der vorliegenden Arbeit ein Sammelbegriff für alle nicht-schriftsprachlichen Zeichentypen.260 Dabei wurden – ausgehend vom semantischen Zeichenaspekt – verschiedene Zeichenkategorien erfasst und zu Kategorien gebündelt. Nachfolgend werden diese Kategorien kurz beschrieben und anschließend die Ergebnisse der Korpusauswertung gezeigt. Eine Interpretation hinsichtlich der Verwendung der bildgraphischen Zeichen erfolgt an dieser Stelle nicht, sondern findet erst in Kapitel im Rahmen der interpretativen Betrachtungen statt. Vor der Auflistung der Zeichentypen, noch ein kurzes Wort zur verwendeten Terminologie: Einige der Begriffe werden in der Fachliteratur oftmals nicht eindeutig bzw. unterschiedlich (abhängig vom Forschungszweck und -bereich) definiert, so z. B. Ideogramme. Die Begriffe beschreiben im Rahmen der vorliegenden Forschungsarbeit bewusst weit gefasste Typenklassen und sollen in keiner Weise eine feinkörnige Kategorisierung darstellen. Vielmehr geht es um eine weitgefasste Sammlung der visuellen, nicht-schriftsprachlichen Zeichen unter den einzelnen Typen.

Zeichentyp

Beschreibung

Ikone

In der Semiotik werden als ʻIkone’ (in weiteren Sinn) jene Zeichen beschrieben, welche in einem Ähnlichkeitsverhältnis zum Objekt stehen. Eben dieser Ähnlichkeitsaspekt ist ausschlaggebend für die Zuordnung der in den Scritte erfassten Zeichen zu dieser Klasse. Konkret handelt es sich dabei um Abbildungen von Personen, Gegenständen oder sonstigen Konkreta, wie das Gesicht einer Person, ein Fahrzeug oder ein Tier.261

Beispiel für den Zeichentyp 'Ikon'. (ScriMuRo)

Beispiel für den Zeichentyp ‚Ikon‘. (ScriMuRo)

Piktogramme und Emoticons
Neben den Piktogrammen, die eine im (städtischen) Alltag weitverbreitete Form der Ikone darstellen (vgl. Schweppenhäuser/Friedrich 2010, 40), werden zur Klasse der Ikone im Kontext dieser Arbeit auch die Emoticons gerechnet, da sie „rudimentäre Analogien mit der menschlichen Mimik“ (Schweppenhäuser/Friedrich 2010, 43) oder dem menschlichen Körper aufweisen.

Beispiel für den Zeichentyp 'Ikon' - 'Emoticon'. (ScriMuRo)

Beispiel für den Zeichentyp ‚Ikon‘ – ‚Emoticon‘. (ScriMuRo)

Ideogramme

Ideogramme sind von Piktogrammen meist nicht klar abzugrenzen (vgl. dazu Dürscheid 2016, 66), entscheidend für die Zuordnung als Ideogramm ist, dass sie zwar Objekte bildhaft darstellen – es besteht also eine Ähnlichkeitsbeziehung – aber aus Sicht des Verfassers eher Begriffe oder Sachverhalte darstellen sollen, als dies bei den Piktogrammen der Fall ist. Dies gilt bspw. für Herzsymbole, die in erster Linie offensichtlich kein (menschliches) Herz abbilden sollen, sondern für einen Frame ZuneigungFRAME oder LiebeFRAME stehen.262 Wie bei den Piktogrammen gibt es auch hier keine lautsprachliche Konvention vorhanden (vgl. Rezec 2009, 35, Dürscheid 2016, 66). Zu dieser Gruppe zählen neben den weitverbreiteten politischen Zeichen, wie dem keltischen Kreuz oder Hammer und Sichel, auch Peace-, Stop- oder Dollar-Zeichen sowie konventionalisierte Farben (bspw. die Vereinsfarben des A.S. Roms).

Beispiel für den Zeichentyp 'Ideogramm' - 'Stop-Zeichen' und 'Gruppensymbol - Movimento Autonomo e Autoorganizzato'

Beispiel für den Zeichentyp ‚Ideogramm‘ – ‚Stop-Zeichen‘ und ‚Gruppensymbol – Movimento Autonomo e Autoorganizzato‘. (ScriMuRo)

Beispiel für den Zeichentyp 'Ideogramm' - 'Keltisches Kreuz'

Beispiel für den Zeichentyp ‚Ideogramm‘ – ‚Keltisches Kreuz‘. (ScriMuRo)

Beispiel für den Zeichentyp 'Ideogramm' - 'Hammer und Sichel' und '5-zackiger Stern'

Beispiel für den Zeichentyp ‚Ideogramm‘ – ‚Hammer und Sichel‘ und ‚5-zackiger Stern‘. (ScriMuRo)

Gruppensymbole
Zu den Ideogrammen zählen auch jene erfassten Zeichen, die für eine spezifische – oftmals politische – Gruppe stehen. Sie verhalten sich ähnlich wie Markenzeichen, wobei sie im vorliegenden Kontext der Scritte Murali stark vom Hintergrundwissen der Benutzer abhängig sind. Im Unterschied zu den ʻeinfachen’ Ideogrammen – genannt sei das rechtsextreme Symbol der SS (Schutzstaffel aus dem Nazi-Regime) – stehen diese Gruppenzeichen für genau definierbare Gruppierungen, bspw. der Blocco studentesco.

Beispiel für den Zeichentyp 'Ideogramm' - 'Gruppensymbol - Blocco Studentesco'

Beispiel für den Zeichentyp ‚Ideogramm‘ – ‚Gruppensymbol – Blocco Studentesco‘. (ScriMuRo)

Beispiel für den Zeichentyp 'Ideogramm' - 'Gruppensymbol - Generazione identitaria'

Beispiel für den Zeichentyp ‚Ideogramm‘ – ‚Gruppensymbol – Generazione identitaria‘. (ScriMuRo)

Logogramme

Unter Logogramme sind hier Zeichen zu verstehen, die vereinfacht gesagt, für ein Wort stehen. Rezec bemerkt, dass eine Abgrenzung zu den Ideogrammen auch hier nicht eindeutig ist, da Zeichen wie <+> sowohl für plus als auch und stehen können (2009, 35-37). Aus diesem Grund wird hier zwischen Logogrammen, die tatsächlich nur einer phonetischen Wortbedeutung entsprechen (z. B. <&>), und jenen, die eine begrenzte Anzahl an phonetischen Lautketten darstellen (können). Schlussendlich muss darauf hingewiesen werden, dass es auch hier nicht wenige Grenzfälle gibt, wo die hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass sich die Zeichen weniger auf „phonemische Komplexe“ und eher auf „semantische Einheiten“ beziehen (Rezec 2009, 36), wie dies bei <$> der Fall ist.263

Grundformen

Zuletzt wurde eine Kategorie sog. Grundformen erfasst. Dazu gehören sowohl Zeichen, die zur Gestaltung und Gliederung des Textes dienen (bspw. Abgrenzungslinien, Kreise oder Umrandungen) als auch Pfeile die im Textbild auf bestimmte Textteile verweisen.

N/A

Zeichen, welche zwar als (bildgraphische) Zeichen vermutet werden, aus verschiedenen Gründen jedoch nicht entziffert werden können, wurden der Gruppe ʻN/A’ zugeordnet.

Zeichentypen im Gesamtkorpus

Es folgt ein Überblick zu den Frequenzen der Zeichentypen und Zeicheninhalte sowie eine Auflistung der verwendeten Ikone, wobei bereits mit Hinblick auf die anschließenden, domänenspezifischen Kapitel die Verteilung nach Domänen am aussagekräftigsten ist und daher als erstes angezeigt wird. Bei der Auswertung nach Domänen sind die Ergebnisse besonders dann interessant, wenn man die Anteile der bildgraphischen Zeichen in Bezug auf eine Domäne mit den Anteilen der Domänen an den Scritte des Gesamtkorpus (siehe DEFAULT) vergleicht.

Verwendete Zeichentypen und -inhalte nach Domänen:264

Frequenz der Zeicheninhalte:265

Verteilung der Zeichentypen:

Realisierte Ikone und deren Häufigkeit:

Betrachtet man die Werte der Wortarten-Anteile für die Scritte nach Tokenzahl, so lässt sich die Bedeutung der Bildgraphischen Zeichen v. a. bei Scritte mit geringer Tokenzahl erkennen: Bis zu einer Tokenzahl 6, sind bildgraphische Zeichen anteilig mindestens an Stelle 4 der verwendeten Wortarten; bei einer Tokenzahl 1 liegen die Bildgraphischen Zeichen sogar deutlich auf Platz 1.

Farbwahl beim Erstellen der bildgraphischen Zeichen:
Nachfolgende Visualisierungen geben die Häufigkeiten der gewählten Farben und der jeweiligen bildgraphischen Zeichen an – einmal gruppiert nach Farben und einmal gruppiert nach Zeichen.266

Erstellungswerkzeuge:
Die Auswertung der Erstellungswerkzeuge für bildgraphische Zeichen gibt folgende Ergebnisse:

Erstellungswerkzeuge

Frequenz

Anteil

Spraydose

1438

67 %

(Filz-) Stift

259

12 %

Pinsel

177

8 %

Stencil

134

6 %

(Wand-) Farbe

107

5 %

Kugelschreiber

18

0.84 %

(Wand-) Farbe, Spraydose

6

0.28 %

Kreide

6

0.28 %

Druck

4

0.19 %

Kratzverfahren

2

0.09 %

(Wand-) Farbe, Pinsel

2

0.09 %

(Filz-) Stift, Spraydose

1

0.05 %

Spraydose, Stencil

1

0.05 %

 

2155

 
Erstellungswerkzeuge für bildgraphische Zeichen im Gesamtkorpus

Betrachtet man die Zahlen unter Einbezug der Zeichentypen, so sind besonders die Werte der Stencils auffällig, v. a. wenn man diese hinsichtlich der Zeichentypen vergleicht.267 Eine Erklärung dafür wird in Kapitel angestrebt.

Heatmap:
Während der Transkription und wiederholten Revision des Bild- bzw. Sprachmaterials schien es, dass die bildgraphischen Zeichen nicht willkürlich im Textfeld integriert wurden, sondern bestimmte bildgraphische Zeichen in spezifischen Bereichen der Scritta erstellt wurden. Um eine solche vermutete Text-Bild-Kompositionalität268 untersuchen zu können, wurde eine Heatmap-Funktion in das Transkriptionstool GiANT integriert (siehe DEFAULT). Anhand dieser Funktion lässt sich die Verteilung von Token im Scritta-Textfeld graphisch im Form von Heatmaps ausgeben. Obwohl eine Auswertung dieser Heatmaps besonders für die spezifischen Domänen interessant sein wird, werden nachfolgend die Heatmaps der bildgraphischen Zeichen mit einer Mindestfrequenz von 50 für das Gesamtkorpus angegeben.269 Dabei wurden zum einen jene Scritte, die lediglich aus nur einem Token bestanden, ignoriert, da diese die Ergebnisse der Heatmaps korrumpieren würden.270 Zum anderen liegt der Fokus auf Ideogrammen (wozu, wie oben erwähnt, auch die Gruppensymbole zählen), da bspw. Logogramme als Ersatz für Sprachzeichen (<6> für ital. sei) nicht an frei wählbaren Stellen im Gesamtbild erstellt werden können, sondern in die Syntax der Sprachzeichen integriert müssen. Es geht bei der Analyse jedoch genau um die (theoretisch) frei wählbaren Stellen im Bild an denen die bildgraphischen Zeichen platziert werden. Ikone treten oft als zentrales Element in den Scritte auf und sind daher meist zentral angeordnet, wie man unten sehen kann. Interessant ist die Analyse bestimmter Inhalte innerhalb der Ikone (bspw. Körperteile im Vergleich zu Abbildungen ganzer Personen oder Gegenständen). Da eine Auswertung ab einer geringen Häufigkeit der bildgraphischen Zeichen nicht mehr auf typische Bild-Text-Konstruktionen schließen lassen, werden nachfolgend lediglich die Heatmaps der Token mit einer Mindestfrequenz von 50 wiedergegeben.271

Zeichentyp und
Zeicheninhalt
(Frequenz)

Ideogramm, Ideogramm u. Grundform (gestalterisch/gliedernd)
<<Herz>>

(427)

ScriMuRo - Heatmap - bildgraphisches Zeichen: Herz

ScriMuRo – Heatmap – bildgraphisches Zeichen: <<Herz>>

Ideogramm
<<Keltisches Kreuz>>

(213)

ScriMuRo - Heatmap - bildgraphisches Zeichen: Keltisches Kreuz

ScriMuRo – Heatmap – bildgraphisches Zeichen: < <Keltisches Kreuz> >

 

Ideogramm
<<Hammer und Sichel>>

(132)

ScriMuRo - Heatmap - bildgraphisches Zeichen: Hammer und Sichel

ScriMuRo – Heatmap – bildgraphisches Zeichen: < <Hammer und Sichel> >

Ideogramm
<<Movimento Autonomo e Autoorganizzato>>
(99)

ScriMuRo - Heatmap - bildgraphisches Zeichen: Movimento Autonomo e Autoorganizzato

ScriMuRo – Heatmap – bildgraphisches Zeichen: < <Movimento Autonomo e Autoorganizzato> >

Ideogramm
<<Anarchie>>

(66)

ScriMuRo - Heatmap - bildgraphisches Zeichen: Anarchie

ScriMuRo – Heatmap – bildgraphisches Zeichen: < <Anarchie> >

Ideogramm
<<Hakenkreuz>>

(47)

ScriMuRo - Heatmap - bildgraphisches Zeichen: Hakenkreuz

ScriMuRo – Heatmap – bildgraphisches Zeichen: < <Hakenkreuz> >

Ideogramm
<<Fascio Littorio>>

(66)

ScriMuRo - Heatmap - bildgraphisches Zeichen: Fascio Littorio

ScriMuRo – Heatmap – bildgraphisches Zeichen: < <Fascio Littorio> >

Ideogramm
<<Fünfzackiger Stern>>
(60)

ScriMuRo - Heatmap - bildgraphisches Zeichen: Fünfzackiger Stern

ScriMuRo – Heatmap – bildgraphisches Zeichen: < <Fünfzackiger Stern> >

Pfeil (intratextualer Verweis)
<<Pfeil>>

(60)

ScriMuRo - Heatmap - bildgraphisches Zeichen: Pfeil

ScriMuRo – Heatmap – bildgraphisches Zeichen: < <Pfeil> >

Ideogramm
<<Emblem>>

(45)

ScriMuRo - Heatmap - bildgraphisches Zeichen: Emblem

ScriMuRo – Heatmap – bildgraphisches Zeichen: < <Emblem> >

ScriMuRo - Heatmap - bildgraphisches Zeichen: Ikon

ScriMuRo – Heatmap – bildgraphisches Zeichen: Ikon

Ikone
(195)

Heatmaps der frequentesten Zeicheninhalte im Gesamtkorpus

6.1.6. Ergebnis: Prototypische Scritte Murali – Gesamtkorpus

Die DEFAULT bis DEFAULT zusammenfassend lässt sich nun ein Prototyp für Scritte Murali als übergeordnete Kategorie erfassen, basierend auf den gesammelten Ergebnissen. Ausgangspunkt sind dabei die in den Kapiteln bis DEFAULT beschriebenen Bedingungen zu den Prototypen. Dabei sei an dieser Stelle noch einmal darauf hingewiesen, dass hier unter Prototypen abstrakte Bewusstseinsinhalte, die aus typischen Attributen zusammengesetzt sind, verstanden werden. Wenn also die Rede von ʻbesten/typischen Exemplaren’ ist, so bedeutet dies weder, dass es sich um individuelle Beispiele (i. S. v. einer konkreten Scritta) handelt, noch muss dieser kognitiv-abstrakten Entität ein individuelles Exemplar eindeutig entsprechen. Es handelt sich vielmehr um kognitive Orientierungspunkte, deren sich die Kommunikationsteilnehmer bedienen, um die konkreten Scritte (wie auch weiteren, abstrakten Vertreter)272 der Kategorie global – d. h. nicht durch Abfragen einzelner Attribute, sondern über Vergleichsprozesse – zuordnen zu können (siehe DEFAULT). Speziell für den Prototypen der Scritte Murali als eigene Kategorie, sei daran erinnert, dass es sich dabei um eine übergeordnete Kategorie handelt und die Ergebnisse immer aus dieser Perspektive interpretiert werden müssen. Außerdem sei bedacht, dass es sich bei solchen Prototypen um in hohem Maße idealisierte Konstrukte handelt, was bedeutet, dass ihre theoretische Grundlage kontext-neutral gedacht ist. Eine solche (theoretische) Kontext-Neutralität liegt im Fall der Scritte Murali-Prototypen offensichtlich nicht vor, da die (statistischen) Werte auf Basis von Scritte abgeleitet werden, die aus spezifischen Gebieten stammen und somit eben nicht (kontext-) neutral sind. Es handelt sich demnach um Prototypen in ganz bestimmten Kontexten, wobei man davon ausgehen kann, dass diese Prototypen von größeren Personengemeinschaften geteilt werden273 und daher prototypisch sind (siehe DEFAULT und DEFAULT).

Eine prototypische Scritta Murale (domänenunspezifisch) besteht demnach aus folgenden, typischen Attributen bzw. typischen Werten bestimmter (und gewichteter) Attributsklassen:274

Attributsgewichtung

Attributsklasse

Typische(r) Wert(e)

Beschreibung

Zentral

Tokenzahl

1-5

75 % der Scritta sind durch 1 bis 5 Token realisiert. 22 % der Gesamtscritte werden durch 2-Token-Scritte, 19 % von 3-Token-Scritte gebildet

 

Modifikationsanfälligkeit

23 %

Mit 23 prozentiger Wahrscheinlichkeit ist eine Scritta Murale modifiziert worden/wird eine Scritta Murale modifiziert.

 

Verwendung bildgraphischer Zeichen

40 %

Mit 40 prozentiger Wahrscheinlichkeit beinhaltet eine Scritta Murale ein bildgraphisches Zeichen.

 

Lexik (ohne Eigennamen; mind. 1.00 %)

essere, merda, amare, vivere, ultras, laziale, all cop be bastard (ACAB), romanista, no, sempre, libero275

Mit einer Wahrscheinlichkeit von 22 % beinhaltet die Scritta eines dieser Lemmata/Token.

 

Lexik (nur Eigennamen; mind. 1.00 %)

Lazio, Roma, Associazione Sportiva Roma (in allen Varianten), Lulic, Valerio, Tufello, Società Sportiva Lazio (in allen Varianten), Treno ad Alta Velocità (TAV), Noantri

Sollte die Scritta einen Eigennamen (auch in Form von Akronymen) aufweisen, so wird dieser zu 38 % aus dieser Liste stammen.

 

Sprache

Italienisch

Mit 92 prozentiger Wahrscheinlichkeit werden die Token einer Scritta in italienischer Sprache geschrieben sein, gefolgt von Englisch mit 6 %.

 

Dialektale Varianten

boia, ti (te)276, di (de), il (er), ci (ce, se), dai (daje, daie, daye), vi (ve), meglio (mejo), non (nun), tua (tu), la (‚a)

Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Scritta ein Token in dialektaler Variante aufweist ist sehr gering (3 %), wodurch die Verwendung von Dialekt in Scritte Murali sehr untypisch ist. Sollte es dennoch dazu kommen, so stammt das Token aus der angegebenen Liste der Lemmata (und ihren dialektalen Entsprechungen).

 

Kürzungsverfahren

Akronyme (initial gekürzt)

Ebenso untypisch für Scritte Murali sind mit 9 % Kürzungsverfahren bei sprachlichen Zeichen. Bei Auftreten eines Kürzungsverfahrens, wird es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit (70 %) um ein initial gekürztes Akronym handeln. Prototypisch wäre demnach ein gekürztes Token, wie bspw. ASR (Associazione Sportiva Roma), ACAB (all cops are bastards) oder TAV (Treno ad Alta Velocità)

 

Wortarten (nur sprachliche Zeichen)

Nomen, Eigennamen, (finite) Verben, Satzzeichen, Adjektive

Die realisierten Token (sprachlicher Zeichen) lassen sich mit 56 prozentiger Wahrscheinlichkeit zu einer der 5 genannten Wortarten zuordnen.

 

n-Gramme

(siehe oben)  

Sekundär

Farbe

Schwarz, Rot

Typischerweise werden Scritte Murali in schwarzer (60 %) oder roter (12 %) Farbe erstellt

 

Typographie

Elaboriert

Die Wahrscheinlichkeit bei einer Scritta eine elaborierte Typographie zu erkennen, liegt bei 64 %.

Subsidiär

Erstellungswerkzeug

Spraydose, (Filz-) Stift

Der Prototyp einer Scritta wird/wurde zu 68 % mit einer Spraydose und 20 % mit einem (Filz-) Stift erstellt.

 

Trägerfläche

Wohnhaus, Freistehende Mauer

Scritte Murali werden typischerweise an Außenwänden von Wohnhäusern (39 %) oder auf freistehenden Mauern (31 %) erstellt

Zusammenfassung der prototypischen Werte für Scritte Murali als übergeordnete Kategorie

Wie bereits erwähnt (siehe ), stellen Modifikationen einen wichtigen Bestandteil der Scritte Murali dar – dies wird v. a. bei den domänenspezifischen Prototypen deutlich werden – wobei diese Modifikationsabläufe routinemäßiger (d. h. prototypischer) Natur sind. Die Modifikationsroutinen lassen sich aus prototypischer Perspektive wie folgt zusammenfassen:

Merkmal

Typische(r) Wert(e)

Bemerkungen

Beteiligte Hände

2

Sollte es zur Modifikation einer Scritta kommen, so geschieht dies typischerweise (zu 90 %) durch maximal 3 weitere Hände, wobei zu erwarten ist, dass es maximal eine weitere Hand ist (61 %).

Modifikationstyp

Elision, Addition, Substitution, Kommentar, Gesamtgraph-Rasur

Über 70 % der Modifikationen geschehen typischerweise durch einen der fünf genannten Typen, wobei die Elision (24 %) auf Tokenebene und die Gesamtgraph-Rasur (8 %)auf Graphebene erfolgt. Die weiteren drei Typen geschehen auf Syntaxebene (15 %, 14 % und 10 %).

Bewertungstyp zur Vorhand

Negation

Mit 78 prozentiger Wahrscheinlichkeit wird die modifizierende Hand eine Negation gegenüber der modifizierten Hand ausdrücken.

Wortarten

Eigennamen, Nomen, Bildgraphische Zeichen

Knapp zwei Drittel der Token aus Hand 1, die modifiziert werden, sind Eigennamen (27 %), Nomen (24 %) oder bildgraphische Zeichen (12 %).

Modifikationsroutinen für Scritte Murali als übergeordnete Kategorie

Ebenso musterhaft erscheint die Verwendung und Realisierung der bildgraphischen Zeichen:

Merkmal

Typische(r) Wert(e)

Bemerkungen

Domäne

Politik, Expressivität

Typischerweise sind bildgraphische Zeichen besonders bei Scritte der Domänen Politik (45 %) und Expressivität (18 %) zu erwarten.

Zeicheninhalt

Herz, Keltisches Kreuz, Hammer und Sichel, Movimento Autonomi e Autoorganizzati, Anarchie, Hakenkreuz

Mehr als die Hälfte der über 200 verwendeten bildgraphischen Zeichen stellen einen der sechs linksgenannten Inhalte dar, wobei die am ehesten zu erwartenden Zeichen <<Herz>> (20 %) und <<Keltisches Kreuz>> (12 %) sind.

Zeichentyp

Ideogramm

Typischerweise (knapp 70 %) gehören die Zeichen dem Typ ‘Ideogramm’ an.

Ikone

Körperteile

Wurde ein Ikon erstellt, so ist am ehesten erwartbar, dass ein Körperteil dargestellt wird.

Farbe

Schwarz, Weiß, Rot

Bildzeichen werden prototypischerweise in schwarzer (51 %), weißer (13 %) oder roter (13 %) Farbe erstellt.

Erstellungswerkzeug

Spraydose, (Filz-) Stift

Erwartungsgemäß werden die Bildzeichen mit Spraydose (67 %) oder (Filz-) Stift (12 %) erstellt. Bei Ikonen und Gruppensymbole ist dagegen nach der Spraydose das Stencil die zweithäufigste und damit ebenfalls typische Erstellungsweise.

Platzierung im Scritta-Bild

Ideogramm: rechts, zentral

Bei den oben genannten, typischen Zeicheninhalten ist eine klare rechts bzw. zentral-rechts Anordnung der Bildzeichen im Scritta-Textbild typisch.

Typische Zeichenkonstruktionen für Scritte Murali als übergeordnete Kategorie

6.2. Genre-Prototyp der Domäne POLITIK

An die Auswertung der Daten des Gesamtkorpus anschließend, werden nun die Prototypen der oben genannten Domänen ermittelt. Dabei zeigt sich, dass diesen Domänen jeweils Subdomänen untergeordnet sind. Diese Subdomänen weisen neben den Attributen der Domänen noch weitere, spezifischere Attribute. (An dieser Stelle sei auf die Ausführungen in Kapitel verwiesen.) In welchen Bereichen sich die Subdomänen voneinander unterscheiden, soll anschließend in Kapitel dargestellt werden.

Wie bereits in DEFAULT erwähnt, sind 1117 Scritte des Gesamtkorpus der Domäne POLITIK zu zuordnen, womit ein Drittel aller Scritte (34 % der 3294 Gesamtscritte) dieser Domäne angehören. 63 dieser 1117 Scritte wurden mit ʻ?Politik’ markiert, woraus sich ein bereinigter Wert von 1054 (32 %) Scritte der Domäne POLITIK ergibt. 256 der 1117 Scritte weisen mehr als eine (und maximal zwei weitere) Domänen auf.277 Somit weisen knapp ein Viertel (23 %) der politischen Scritte unscharfe Grenzen – d. h. Gemeinsamkeiten mit Nachbardomänen – auf. Die bei den 1117 Scritte insgesamt 1393 angegebenen Domänen weisen folgende Verteilung auf:

Domänen

Frequenz (Scritta)

Anteil

Politik

1054

76 %

Ultras

130

9 %

Diverses

70

5 %

?Politik

63

5 %

Feminismus

32

2 %

Expressivität

20

1 %

Ideologie

15

1 %

Religion

7

0.50 %

?Ultras

3

0.22 %

?Expressivität

1 0.07 %
  1395  
Domänen-Verteilung der Scritte im Bereich POLITIK

Fokussiert man die Nachbardomänen so ergibt sich folgende Distribution der Anteile:

Nachbardomäne

Frequenz (Scritta)

Anteil

Ultras

130

47 %

Diverses

70

25 %

Feminismus

32

12 %

Expressivität

20

7 %

Ideologie

15

5 %

Religion

7

3 %

?Ultras

3

1.08 %

?Expressivität

1

0.36 %

 

278

 

Frequenzen und Anteile der Nachbardomänen zur Domäne POLITIK

Die ermittelten Anteile der Subdomänen zu POLITIK sind in Tabelle 15 illustriert.278

Subdomänen

Frequenz

Anteil

Linkspolitisch (Pol)

528

47 %

Rechtspolitisch (Pol)

316

28 %

Rechts- vs. Linkspolitisch (Pol)

81

7 %

Links- vs. Rechtspolitisch (Pol)

74

7 %

Politisch (Pol)

56

5 %

?Linkspolitisch (Pol)

30

3 %

?Rechtspolitisch (Pol)

19

2 %

?Politisch (Pol)

13

1.16 %

Anarchie (Pol)

5

0.45 %

?Links- vs. Rechtspolitisch (Pol)

1

0.09 %

 

1123

 

Verteilung der politischen Subdomänen

6.2.1. Zentrale Attributsklassen – Domäne POLITIK

Wie bereits beim Überblick der Daten zum Gesamtkorpus (siehe DEFAULT) werden nun die Ergebnisse der Korpusdaten zur Domäne Politik präsentiert. Dabei werden zunächst die zentralen Attributsklassen (Tokenzahl, Modifikationsanfälligkeit, Verwendung von bildgraphischen Zeichen, Verwendung von sprachlichen Zeichen und die Verteilung der Scritte im Erhebungsgebiet) ausgewertet.

Tokenzahl pro Scritta (Hand 1):

83 % der politischen Scritte werden durch Texte gebildet, die zwischen einem und sechs Token abbilden, wobei mehr als die Hälfte (54 %) aller POLITIK-Scritte aus Texten mit lediglich drei (21 %), einem (17 %) oder zwei (16 %) Token bestehen.

Modifikationsanfälligkeit
Bei 287 der 1117 Scritte kam es zu einer Modifikation des Ursprungtextes aus Hand 1 durch maximal sieben weitere Hände, sprich, 26 % der Scritte aus der Domäne POLITIK wurden modifiziert.

Verwendung bildgraphischer Zeichen
Mit 72 % (entspricht 799 der 1117 Scritte) wurden in einem Großteil der politischen Scritte bildgraphische Zeichen realisiert. Eine detaillierte Auflistung der Zeicheninhalte, -typen und Frequenzen werden in Kapitel gegeben.

Sprachliche Zeichen
Wie bereits erwähnt, zählen die sprachlichen Zeichen zu den wichtigsten Attributen bei der Ermittlung der Prototypen, da sie besonders informationsreich und demnach zentral bei der Differenzierung der domänenbasierten Genres (siehe DEFAULT). Untersucht werden im Bereich der sprachlichen Zeichen die Lexik allgemein, auftretende Eigennamen, verwendete Sprachen und dialektale Varianten, der Einsatz von Kürzungsverfahren, die Verteilung der Wortarten (POS) sowie die Wortkombinationen (n-Gramme).

Lexik279
Insgesamt wurden 700 Lemmata der Wortarten mit einer hohen semantischen Dichte (Autosemantika) ermittelt, wobei sich die Frequenzen der Lemmata stark rechtsschief zeigt: 64 % der konkreten Lemmata-Realisierungen werden von lediglich 161 der gesamten Lemmata (d. h. 23 %) gebildet. Diese, mit einer Mindestfrequenz von 3 auftretenden, Lemmata sind in den folgenden zwei Charts aufgelistet.

Als durchsuchbare Liste der Lemmata:

Eigennamen
Ähnlich gestaltet sich die Verteilung der verwendeten Eigennamen: 55 der insgesamt 295 verwendeten Eigennamen beanspruchen 65 % (= 518 Token) der realisierten Token.

Sprachen und Dialektale Varianten
Die sprachlichen Zeichen der Domäne Politik wurden in folgenden Sprachen verfasst:

Lediglich 47 Token (der insgesamt 393 Token in dialektaler Variante des Gesamtkorpus) in dialektaler Variante treten in Texten der Domäne POLITIK auf. Diese 47 Token basieren auf 21 Lemmata, deren Verteilung nachfolgend ersichtlich ist:

Kürzungsverfahren
Knapp ein Viertel (25 %) aller politischen Scritte weisen gekürzte Token auf. Von den in Kapitel angegeben Kürzungsverfahren, treten in der Domäne POLITIK folgende Typen auf:

Die häufigsten Realisierungen dieser Typen zeigen folgende Verteilung:


Part-Of-Speech (POS) – Wortarten
Die Auswertung der Korpusdaten ergibt folgende Verteilung der Wortarten für die Domäne POLITIK, wobei zunächst die Verteilung ohne bildgraphische Zeichen gezeigt wird und anschließend unter Miteinbezug der bildgraphischen Zeichen:

Ein Großteil der Scritte in dieser Domäne werden durch Texte mit einem bis sechs Token konstituiert (83 %). Die Anteile der auftretenden Wortarten werden in den folgenden Charts für die jeweiligen Token-pro-Scritta-Einheiten wiedergegeben.

n-Gramme
Folgende Bi-Gramme treten in der Domäne auf. Unterschieden werden muss zwischen den gesammelten Lemmata Möglichkeiten in Bezug auf die POS an Stelle 1 und 2 sowie den ungesammelten Lemmata Kombinationen, d. h. den konkret auftretenden 2/3/4-Wort-Kombinationen und deren Häufigkeiten. Die Ergebnisse sind in den unten dargestellten Charts illustriert.


Verteilung der Scritte Murali im Erhebungsgebiet
Die Verteilung und Standorte der 1117 politischen Scritte sind in der interaktiven Karte (IK 5) in Relation zu den Erhebungsgebieten visualisiert.

IK 5: Standorte der Domäne POLITIK – Vollbildanzeige

6.2.2. Sekundäre Attributsklassen – Domäne POLITIK

Farben
Die Anteile der verwendeten Farben innerhalb der Domäne POLITIK bietet ähnliche Ergebnisse, wie die Werte des Gesamtkorpus (siehe DEFAULT): 62 % der Token werden in schwarzer Farbe erstellt und Rot, Weiß und Blau folgen mit den höchsten Anteilen. Lediglich die prozentualen Anteile der roten, weißen und blauen Farben haben sich leicht verschoben:

Typographie
Auch die Werte der typographischen Beschaffenheit der Texte weichen innerhalb der Domäne POLITIK etwas ab, vergleicht man sie mit den Ergebnissen des Gesamtkorpus (siehe DEFAULT). Ein größerer Anteil der domänenspezifischen Schriftzeichen lassen keine Kategorisierung der Typographie zu, wodurch der Anteil N/AATTval vor den arbiträrenATTval Token liegt.

6.2.3. Subsidiäre Attributsklassen – Domäne POLITIK

Erstellungswerkzeuge
Die Token der politischen Scritte wurden anhand folgender Werkzeuge bzw. Verfahren erstellt:280

Träger(flächen)
Beim Blick auf die Auswertung der Daten hinsichtlich der Träger, ist in erster Linie die Verwendung von Tazebao im Vergleich zum Gesamtkorpus aufällig. Erscheint die Gesamtzahl von 28 zwar gering, so muss bedacht werden, dass über das gesamte Korpus verteilt lediglich 32 Tazebaos auftauchen. Die Wahl des Tazebao als Kommunikationsträger scheint also stark domänenspezifisch zu sein.

6.2.4. Modifikationsroutinen – Domäne POLITIK

Etwas mehr als ein Viertel der POLITIK-Scritte wurden durch bis zu 7 weitere Hände auf syntaktischer, Token- oder Graph-Ebene nachträglich geändert. Mit 95.47 % wurden Token und/oder Graphen fast ausschließlich durch Hand 2, 3 oder 4 hinzugefügt, verändert oder auf sonstige Weise modifiziert:

Hand Anzahl Scritte Anteil
2 188 66 %
3 54 19 %
4 32 11 %
5 7 2 %
6 3 1.05 %
7 1 0.35 %
8 2 0.70 %
  287  
Verteilung der modifizierenden Hände für die Domäne POLITIK

Modifikationsweisen
Die Verteilung und Anteile der Modifikationsweisen in Kombination mit den Bewertungstypen (gegenüber der modifizierten Hand) stellen sich folgendermaßen dar:

Neben der Modifikationsweise ist es von Bedeutung, welche Token bzw. Wortarten durch welche Token und Wortarten modifiziert wurden, wobei zwischen Hand 1 und allen Händen unterschieden werden muss. Zusätzlich ist eine Differenzierung zwischen gesammelten (jeweils für modifizierende Token und POS) und ungesammelten (d. h. konkret auftretenden Modifikationskomplexen) Werten vonnöten. Somit werden auch für die Domäne POLITIK jeweils vier Tabellen (Hand 1 und Alle Hände gesammelt, Hand 1 und Alle Hände ungesammelt) zu modifizierten Token und Wortarten gegeben.

Token – Hand 1/Alle Hände, gesammelt/ungesammelt

Wortarten – Hand 1/Alle Hände, gesammelt/ungesammelt

Für die Erstellung der prototypischen Modifikations-Routinen außerdem von Belang, ist die Überlegung welche Lemmata (sowohl aus Hand 1 und allen Händen) am häufigsten auf welche Art von Modifikation verändert werden. Die Ergebnisse der Korpusauswertung ergeben folgendes Bild:

Modifikation von bildgraphischen Zeichen
Die bisherigen Ergebnisse (siehe DEFAULT) zeigen deutlich, dass bildgraphische Zeichen ein zentrales Attribut der politischen Scritte sind. Bei den Modifikationen stellen diese Zeichen sogar eine der am meisten modifizierten Token dar. Welche bildgraphischen Zeichen dabei auf welche Weise und wie oft verändert werden, wird nachfolgend anhand der Auswertungen gezeigt – auch hier wird zwischen Hand 1/Alle Hände und gesammelt/ungesammelt differenziert.

Ortsabhängigkeit
Wie in Kapitel angedeutet, ist der Standort der modifizierten Scritte bzw. deren Verteilung im Raum ein zentrales Analysekriterium, wobei auch zwischen modifizierten und nicht-modifizierten Scritte der Domänen differenziert werden muss, um typische Routinen fassen zu können. Aus diesem Grund werden die modifizierten und nicht-modifizierten Scritte innerhalb der Erhebungsgebiete in der folgenden Ansicht (IK 6) visualisiert.

IK 6: Ortsabhängigkeit der Modifikationen in der Domäne POLITIK – Vollbildanzeige

6.2.5. Typische Zeichenkonstruktionen – Domäne POLITIK

Die Auswertung der Korpusdaten hat folgende Verteilungen und Anteile der Zeicheninhalte und -typen für die Domäne POLITIK ergeben:

Wie zu erkennen ist, dominiert der Typ der Ideogramme (und diesen als Sonderform zuzurechnen die spezifischen Gruppensymbole) mit einem Anteil von über 87 % der im Gesamt verwendeten bildgraphischen Zeichen.

Realisierte Ikone und deren Häufigkeiten
Im Vergleich zu Ideogrammen, treten Ikone weitaus seltener auf – dies gilt sowohl für das Gesamtkorpus als auch für die Domäne POLITIK. Dennoch stellen Ikone die zweithäufigste Zeichenform in dieser Domäne dar und ihre Inhalte und Frequenzen sind folgendermaßen verteilt:

Farbwahl beim Erstellen der bildgraphischen Zeichen
Nachstehende Charts visualisieren die Farbwahl in Bezug auf die bildgraphischen Zeichen – je nach Farben und Zeicheninhalten gruppiert.

Mit der Präsentation der Daten zu den Erstellungswerkzeugen, werden die Grundlagen der typischen Zeichenkonstruktionen der Domäne POLITIK abgeschloßen. Angegeben werden einmal in der einfachen Tabelle die Häufigkeiten der Token nach den jeweiligen Werkzeugen und zusätzlich im interaktiven Chart die verwendeten Erstellungswerkzeuge nach den Zeichentypen.

Erstellungswerkzeug

Frequenz (Token)

Anteil

Spraydose 949 78 %
(Filz-) Stift 92 8 %
(Wand-) Farbe 85 7 %
Stencil 85 7 %
(Wand-) Farbe, Spraydose 5 0 %
Druck 4 0 %
Kratzverfahren 2 0 %
Spraydose, Stencil 1 0 %
(Wand-) Farbe, Pinsel 1 0 %
 

1224

 
Frequenzen der Verwendung von Werkzeugen beim Erstellen von bildgraphischen Zeichen in der Domäne POLITIK

Heatmaps:
Den in Kapitel beschriebenen Bedingungen folgend, werden abschließend die Anordnungen im Scritta-Sichtbild zusammengefasst. Dazu werden die oben beschriebenen bildgraphischen Zeichen aus Hand 1 mit einer Mindestfrequenz von 45 sowie die kleinere Gruppe der Gruppensymbole, ausgewertet und ihre Anordnung in der Textoberfläche anhand von Heatmaps visualisiert.281

Zeichentyp und
Zeicheninhalt
(Frequenz)

Ideogramm
<<Keltisches Kreuz>>

(213)

Domäne POLITIK - Heatmap - bildgraphisches Zeichen: Keltisches Kreuz

Domäne POLITIK – Heatmap – bildgraphisches Zeichen: < <Keltisches Kreuz> >

Ideogramm
<<Hammer und Sichel>>

(132)

Domäne POLITIK - Heatmap - bildgraphisches Zeichen: Hammer & Sichel

Domäne POLITIK – Heatmap – bildgraphisches Zeichen: < <Hammer und Sichel> >

Ideogramm
<<Movimento Autonomo e Autoorganizzato>>
(99)

Domäne POLITIK - Heatmap - bildgraphisches Zeichen: Movimento Autonomo e Autoorganizzato

Domäne POLITIK – Heatmap – bildgraphisches Zeichen: < <Movimento Autonomo e Autoorganizzato> >

Ideogramm
<<Anarchie>>

(66)

Domäne POLITIK - Heatmap - bildgraphisches Zeichen: Anarchie

Domäne POLITIK – Heatmap – bildgraphisches Zeichen: < <Anarchie> >

Ideogramm
<<Fascio Littorio>>

(66)

Domäne POLITIK - Heatmap - bildgraphisches Zeichen: Fascio Littorio

Domäne POLITIK – Heatmap – bildgraphisches Zeichen: < <Fascio Littorio> >

Ideogramm
<<Fünfzackiger Stern>>
(60)

Domäne POLITIK - Heatmap - bildgraphisches Zeichen: Fünfzackiger Stern

Domäne POLITIK – Heatmap – bildgraphisches Zeichen: < <Fünfzackiger Stern> >

Ideogramm
<<Hakenkreuz>>

(47)

Domäne POLITIK - Heatmap - bildgraphisches Zeichen: Hakenkreuz

Domäne POLITIK – Heatmap – bildgraphisches Zeichen: < <Hakenkreuz> >

Ideogramme
(880)

Domäne POLITIK - Heatmap - bildgraphisches Zeichen: Ideogramme

Domäne POLITIK – Heatmap – bildgraphisches Zeichen: Ideogramme

Ikone
(95)

Domäne POLITIK - Heatmap - bildgraphisches Zeichen: Ikone

Domäne POLITIK – Heatmap – bildgraphisches Zeichen: Ikone

Gruppensymbole
(27)

Domäne POLITIK - Heatmap - bildgraphisches Zeichen: Gruppensymbole

Domäne POLITIK – Heatmap – bildgraphisches Zeichen: Gruppensymbole

 

 

 

Heatmaps der frequentesten Zeicheninhalte – Domäne POLITIK

6.2.6. Domänenspezifische Besonderheiten – Domäne POLITIK

Eine der Zusatzannotationen, welche nur bei speziellen Scritte vorgenommen wurde, betrifft den sog. Totenkult. Als solche annotierte Scritte erinnern, verehren oder (schlicht) verweisen auf verstorbene Personen. Im Bereich der politischen Scritte handelt es dich dabei meist um politische Akteure, die (mutmaßlich) im Zuge ihrer politisch-motivierten oder aufgrund ihrer politischen Überzeugungen Opfer von Gewalttaten mit tödlichem Ausgang geworden sind. Die Ortsgebundenheit ist dabei ein besonders interessantes Analysekriterium, da diese Scritte meist an und um den Wohnort und/oder im (politischen) Wirkungsfeld der/des Verstorbenen angebracht werden. Ein Beispiel für eine solche Scritta ist in Abb. 86 dargestellt. Die Scritta ist am ehemaligen Wohnort von Valerio Verbano – einem bekanntem linkspolitisch engagiertem Akteur der Autonomia Operaia, der 1980 umgebracht wurde – angebracht.

Totenmurales am ehemaligen Wohnort von Valerio Verbano

Totenmurales am ehemaligen Wohnort von Valerio Verbano (ScriMuRo)
(Lizenz: CC BY SA)

Im Gesamtkorpus sind insgesamt 159 solcher Totenkult-Scritte erfasst, wobei 99 (entspricht 62 %) davon der Domäne POLITIK zugeordnet werden können. Zwar ist die Gesamtzahl solcher Scritte auf das Gesamtkorpus bezogen relativ gering, wird ein solcher Totenkult in einer Scritta kommuniziert, so ist die Wahrscheinlichkeit recht hoch, dass es sich um eine politische Scritta handelt. Unterschieden wird bei den Totenmurales zwischen einfachen Scritte, die den Totenkult ausdrücken, und aufwendigeren Totenmurales, wie im Falle des Valerio Verbano-Beispiels (s. o.). In der Domäne sind es 77 solcher einfacheren Texte und 22 Murales, die auf bestimmte Weise auf einen Toten verweisen.

6.2.7. Subdomänen – Domäne POLITIK

Ich habe im Verlauf der Arbeit wiederholt darauf hingewiesen, dass sich auf einer untergeordneten Ebene sog. Subdomänen erfassen lassen. Für die Domäne POLITIK lassen sich zwei solcher Subdomänen feststellen: links- und rechtspolitisch. Das bedeutet, dass es sich um Scritte Murali handelt, welche aufgrund ihrer spezifischen Attribute dem linken bzw. linksextremen oder dem rechten bzw. rechtsextremen Politikspektrum zugeordnet werden können.282 In Kapitel wurden die Verteilungen der insgesamt sechs Subdomänen aus dem politischen Bereich präsentiert:283 LINKSPOLITISCH, RECHTSPOLITISCH, RECHTS- VS. LINKSPOLITISCH, LINKS- VS. RECHTSPOLITISCH, POLITISCH, ANARCHIE. Links- und Rechtspolitische Subdomänenzuweisungen können kommentarlos verstanden werden. Anderes gilt für die weiteren vier Kategorien. RECHTS- VS. LINKSPOLITISCH bzw. LINKS- VS. RECHTSPOLITISCH verweisen auf Scritte, in welchen es zu einem schriftlichen Austausch zwischen Akteuren der linken und rechten Szene gekommen ist. Erstgenannte Orientierung verweist dabei auf die in Hand 1 veräußerte politische Gesinnung, d. h., bei einer LINKS- VS. RECHTSPOLITISCH Scritta kann Hand 1 dem linkspolitischen Spektrum zugeordnet werden, Hand 2 oder höher dagegen dem rechtspolitischen. Mit ANARCHIE spezifizierte Subdomänen werden im Kontext dieser Arbeit den linkspolitischen Lagern zugeordnet, obwohl sich u. U. deutliche ideologische und/oder politische Unterschiede feststellen lassen. So ist es unwahrscheinlich, dass sich linkspolitische Akteure automatisch als Anarchisten verstehen würden, selbst wenn sie zur extremen Szene gehören. Trotzdem steht die anarchistische sicherlich der linksextremen Szene nahe oder zumindest eher der linksextremen, als der rechtsextremen. Dies zeigt sich übrigens auch in den im Korpus vorliegenden Scritte Murali. Zuletzt eine Subdomäne POLITISCH. Scritte dieser Subdomäne verweisen allgemein auf politische Inhalte, ohne dabei einer der traditionellen Richtungen zugeordnet werden zu können.
Bei der Abfrage der Werte für die beiden großen Subdomänen POLITIK LINKS und POLITIK RECHTS, deren Prototypen nachfolgend dargestellt werden, wurden für die linkspolitischen Scritte nur jene der mit LINKSPOLITISCH, LINKS- VS. RECHTSPOLITISCH sowie ANARCHIE in Betracht gezogen. Analog dazu wurden für POLITIK RECHTS nur jene mit RECHTSPOLITISCH oder RECHTS- VS. LINKSPOLITISCH markierte Scritte ausgewertet. An die Zusammenfassung der Prototypen POLITIK LINKS und RECHTS anschließend, werden die Modifikationsroutinen und typischen Zeichenkonstruktion für die Subdomänen zusammengefasst und gegenüber gestellt.

Anteil an Domäne POLITIK: 54 % (= Linkspolitisch 47 %, Links- vs. Rechtspolitisch 7 %, Anarchie 0.45 % von 1229 vergebenen Subdomänen der Domäne POLITIK).

Attributs-gewichtung Attributsklasse Typische(r) Wert(e) Bemerkungen
Zentral Tokenzahl 1 bis 6 80 % der Scritta sind durch 1 bis 6 Token realisiert. Die höchste Wahrscheinlichkeit liegt bei 3 Token mit 19 %, dicht gefolgt von 2-Token-Scritte mit 18 %:

Tokenzahl pro Scritta Anteil (Scritte)
1 15 %
2 18 %
3 19 %
4 13 %
5 8 %
6 7 %
  Modifikations-anfälligkeit 17 % Mit 17 prozentiger Wahrscheinlichkeit werden Scritte Murali aus dem linkspolitischen Spektrum modifiziert.
  Verwendung bildgraphischer Zeichen 67 % Bei 67 % der linkspolitischen Scritte wurden bildgraphische Zeichen verwendet.
  Lexik (Hand 1, ohne Eigennamen; Mindestfrequenz 10) vivere, no, essere, libero, fascista, antifa, antifascista, lotta, mai, sempre, occupare Die elf häufigsten Lemmata treten mit einer Wahrscheinlichkeit von insgesamt 24 % auf.
  Lexik (Hand 1, nur Eigennamen; Mindestfrequenz 10) Valerio, Treno ad Alta Velocità, Tufello, Centro Sociale Occupato e Autogestito, Roma, Fronte della Gioventù Comunista Sollte die Scritta einen Eigennamen (auch in Form von Akronymen) aufweisen, so wird dieser zu 35 % aus dieser Liste stammen.
  Sprache 92 % Italienisch Mit 92 prozentiger Wahrscheinlichkeit werden die Sprachzeichen in italienischer Sprache geschrieben sein, gefolgt von Englisch mit 4 % und Spanisch mit 2 %. Insgesamt wurden die Scritte in 13 verschiedenen Sprachen verfasst.
  Dialektale Varianten boia, occupiamo (occupamo), ci (ce), ridate (aridate), ha (cha), questo (sto), coniglio (conijo), rivogliamo (rivojamo) Die Wahrscheinlichkeit, dass eine linkspolitische Scritta ein Token in dialektaler Variante aufweist ist äußerst gering (> 1 %284): lediglich 22 Token (von 8 verschiedenen Lemmata) wurden in dialektaler Variante verfasst. Die Verwendung von Dialekt in linkspolitischen Scritte Murali ist daher äußerst untypisch. Sollte es dennoch dazu kommen, so stammt das Token aus der angegebenen Liste der Lemmata (und ihren dialektalen Entsprechungen).
  Kürzungsverfahren Akronyme (initial gekürzt) Ebenso untypisch für linkspolitische Scritte sind Kürzungsverfahren bei sprachlichen Zeichen: lediglich 8 % der Token werden gekürzt, jedoch werden solche Kürzungsverfahren bei 22 % der linkspolitischen Scritte eingesetzt. Bei Auftreten eines Kürzungsverfahrens, wird es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um ein initial gekürztes Akronym (61 %) oder eine graphemat. Abkürzung (27 %) handeln. Prototypisch wäre demnach ein gekürztes Token, wie bspw. TAV (Treno ad Alta Velocità), CSOA (Centro Sociale Occupato e Autogestito) oder FGC (Fronte della Gioventù Comunista).
  Wortarten (nur sprachliche Zeichen) Nomen, Eigennamen, (finite) Verben, Adjektive, Adverben Ein Viertel der realisierten Token (sprachlicher Zeichen) werden von Nomen gebildet, gefolgt von Eigennamen (15 %) und (finiten) Verben. 62 % der Token stammen aus einer der fünf, links genannten Wortartenklassen.
  Wortarten bei Tokenzahl 1 bis 6 (inkl. bildgraphischer Zeichen) Tokenzahl 1 bis 4: Mind. die Hälfte aller Token werden aus bildgraph. Zeichen, Eigennamen und Nomen gebildet (98 %, 67 %, 65 %, 56 %).
Tokenzahl 5 und 6: (Finite) Verben zählen mit 9 % respektive 8 % zu den vier häufigsten Wortarten.
Bildgraphische Zeichen, Eigennamen und Nomen bilden bei den Scritte mit einer Tokenzahl 1 bis 6 deutlich die frequentesten Wortarten. Für die Tokenzahlen 1 bis 3 liegen die bildgraphischen Zeichen mit 72 % (!), 24 % und 27 % sogar noch vor den Eigennamen und Nomen. Erst ab einer Tokenzahl 4 positionieren sich die bildgraphischen Zeichen hinter den dann prominenteren Nomen.
  n-Gramme (ohne bildgraphische Zeichen; jeweils die 3 frequentesten) Bi-Gramme:

[ART NOUN]
[NOUN ADJ]
[NPR VER:fin]

Tri-Gramme:

[VER:fin ART NOUN]
[NOUN ARTPRE NOUN]
[ART NOUN VER:fin]

4-Gramme:

[ART NOUN ARTPRE NOUN]
[NOUN VER:fin ART NOUN]
[CON NOUN CON NOUN]
(Eine Beschreibung und Interpretation sowohl der n-Gramme allgemein als auch der am häufigsten, konkret aufgetretenen Wort-Kombinationen kann erst in DEFAULT stattfinden.)

  Ortsspezifität (siehe interaktive Karte unten)  
Sekundär Farbe Schwarz, Rot, Weiß, Blau Typischerweise werden Scritte Murali der Subdomäne POLITIK LINKS in schwarzer (55 %) oder roter (22 %) Farbe erstellt. Weiß (6 %) und Blau (5 %) nehmen den dritten und vierten Platz (von insgesamt 17 Farbwerten) ein.
  Typographie Elaboriert Die Wahrscheinlichkeit bei einer linkspolitischen Scritta eine elaborierte Typographie zu erkennen, liegt bei 67 %.
Subsidiär Erstellungswerkzeug Spraydose, (Wand-) Farbe, Stencil Der Prototyp einer linkspolitischen Scritta wird/wurde zu 68 % mithilfe von Spraydosen erstellt. Weitere 20 % nehmen (Wand-) Farben (12 %) und Stencils (8 %) ein.
  Trägerfläche Wohnhaus, Freistehende Mauer, Gebäudefassaden Scritte Murali werden typischerweise an Außenwänden von Wohnhäusern (39 %), auf freistehenden Mauern (21 %) oder Gebäudefassaden (11 %) erstellt.
Besonderheit Totenkult 67 mal werden Tote in den linkspolitischen Srcitte verehrt. Der Anteil mag auf den ersten Blick recht gering erscheinen, jedoch ist hier entscheidend, dass mit 42 % (von 159) ein Großteil dieser Totenscritte/-murales in den linkspolitischen Bereich fallen und 11 % aller linkspolitischen Scritte einen solchen Totenkult abbilden.  
Zusammenfassung der prototypischen Werte der Subdomäne POLITIK LINKS

Karte der geographischen Standpunkte von linkspolitischen Scritte Murali im Erhebungsgebiet:

IK 7: Standorte der Subdomäne POLITIK LINKS – Vollbildanzeige

6.2.7.2. POLITIK RECHTS

Insgesamt 35.29 % der zur Domäne POLITIK zugehörigen Scritte können der Subdomäne POLITIK RECHTS zugeordnet werden: 28 % (entspricht 315 Zuordnungen) Rechtspolitisch und 7 % (81) Rechts- vs- Linkspolitisch.

Attributs-gewichtung Attributsklasse Typische(r) Wert(e) Bemerkungen
Zentral Tokenzahl 1 bis 5 Verglichen mit den Scritte der Subdomäne POLITIK LINKS, treten rechtspolitische Scritte in etwas kürzerer Länge auf: 80 % der Scritte werden durch 1 bis 5 Token realisiert und auch die statistische Verteilung weicht etwas zugunsten der kürzeren Tokenzahl ab. So liegt die höchste Wahrscheinlichkeit nach wie vor bei 3 Token (23 %), allerdings sind diese mit 21 % dicht gefolgt von 1-Token-Scritte:

Tokenzahl pro Scritta Anteil (Scritte)
1 21 %
2 11 %
3 23 %
4 16 %
5 9 %
6 7 %
  Modifikations-anfälligkeit 42 % Zu 42 % Wahrscheinlichkeit werden Scritte Murali aus dem rechtspolitischen Spektrum modifiziert. Dieser Wert ist doppelt so hoch, wie jener der linkspolitischen Scritte, wobei eine Interpretation unbedingt unter Berücksichtigung der Standorte erfolgen muss.
  Verwendung bildgraphischer Zeichen 89 % Ebenfalls höher als bei der Subdomäne POLITIK LINKS zeigt sich die Verwendung der bildgraphischen Zeichen: Mit 89 % Wahrscheinlichkeit ist die Verwendung dieser Zeichen ein typisches (und domänenspezifisches) Attribut.
  Lexik (Hand 1, ohne Eigennamen; Mindestfrequenz 10) ultras, vivere, banda, lotta, merda, essere, romanista, studentesco Im Vergleich zu linkspolitischen Scritte werden 25 % der frequentesten Lemmata bereits durch acht Lexeme gebildet. Auch die Semantik weicht von den Wortfeldern der Subdomäne POLITIK LINKS deutlich ab.
  Lexik (Hand 1, nur Eigennamen; Mindestfrequenz 10) Lazio, Roma, (Banda) Noantri, Paolo, Salario, Trieste, Azione Giovani, Associazione Sportiva Roma, Nihil Est Superius Fast die Hälfte (45 %) aller verwendeten Eigennamen (= 126) werden lediglich von neun konkreten Denominationen gebildet.
  Sprache 94 % Italienisch Von den acht auftretenden Sprachen285 ist das Italienische klar die typischste Sprachwahl (94 %). Dem Italienischen folgt Latein mit knapp 3 %, Deutsch mit 1 % und Englisch mit gerade einmal 0.93 %.286
  Dialektale Varianten boia, di (de), tua (tu), ci (ce), rosicare (rosica‘), festeggiare (festeggia‘), vi (ve), quando (quanno), del (der), caricare (carica‘), sono (so‘) Erwartungsgemäß untypisch ist die Verwendung dialektaler Varianten in rechtspolitischen Scritte: lediglich 11 Lemmata treten insgesamt 17 mal auf.
  Kürzungsverfahren Akronyme (initial gekürzt) 31 % der rechtspolitischen Scritte zeigen insgesamt 207 Wörter in gekürzter Form, wobei die initial gekürzten Akronyme am typischsten sind (92 %)., etwa TS (Trieste Salario), AG (Azione Giovani) oder NES (Nihil Est Superius). Im Vergleich zu linkspolitischen Scritte (dort 27 %), sind graphematische Kürzungen mit 3 % recht untypisch.
  Wortarten (nur sprachliche Zeichen) Eigennamen, Nomen, Satzzeichen, (finite) Verben, Adjektive, Adverben Auch die Verteilung der verwendeten Wortarten hebt sich deutlich von jener der linkspolitischen Subdomäne ab: mit 32 % stehen nun Eigennamen an erster Stelle, gefolgt von Nomen (23 %). Überraschend ist die recht häufige Verwendung von Satzzeichen mit 7 %, noch vor finiten Verben (7 %). Fast drei Viertel (74 %) aller Token werden durch lediglich sechs Wortarten gebildet.
  Wortarten bei Tokenzahl 1 bis 6 (inkl. bildgraphischer Zeichen)

Tokenzahl 1 bis 4: Mind. die Hälfte aller Token werden aus bildgraph. Zeichen, Eigennamen und Nomen gebildet (96 %, 80 %, 82 %, 67 %).
Tokenzahl 5: Adjektive stehen mit 7 % an vierter Stelle.
Tokenzahl 6: Satzzeichen zählen mit 9 % zu den vier häufigsten Wortarten.

Bildgraphische Zeichen, Eigennamen und Nomen bilden bei den Scritte mit einer Tokenzahl 1 bis 6 deutlich die frequentesten Wortarten. Für die die Tokenzahlen 1 bis 3 liegen die bildgraphischen Zeichen mit 83 % (!), 39 % und 31 % sogar noch vor den Eigennamen und Nomen. Erst ab einer Tokenzahl 4 positionieren sich die bildgraphischen Zeichen hinter den dann frequenteren Eigennamen, jedoch noch vor Nomen. Diese Verteilung ist zwar ähnlich zu jener der linkspolitischen Scritte, wobei bildgraphische Zeichen bei der Subdomäne POLITIK RECHTS noch typischer sind.
  n-Gramme (ohne bildgraphische Zeichen; jeweils die 3 frequentesten) Bi-Gramme:

[NOUN NPR]
[NPR NOUN]
[NPR NPR]

Tri-Gramme:

[NOUN SIGN NPR]
[NOUN PRE NPR]
[NPR SIGN NPR]

4-Gramme:

[NOUN PRE NPR SENT]
[SENT NOUN SIGN NPR]
[NOUN SIGN NPR VER:fin]
Die n-Gramme (ungesammelt) weichen deutlich von jenen der linkspolitischen Scritte ab. Besonders die syntaktische Einbindung der bildgraphischen Zeichen sticht bei den 3- und 4-Grammen ins Auge. (Eine Beschreibung und Interpretation sowohl der n-Gramme allgemein als auch der am häufigsten, konkret aufgetretenen Wort-Kombinationen kann erst in DEFAULT stattfinden.)

  Ortsspezifität (siehe interaktive Karte unten)  
Sekundär Farbe Schwarz, Blau Typischerweise werden Token der Subdomäne POLITIK RECHTS in schwarzer (72 %) oder blauer (10 %) Farbe erstellt. Im Vergleich zu linkspolitischen Scritte, nimmt die Farbe Rot lediglich 7 % ein, wobei über die Hälfte der Token in roter Farbe aus Hand 2 oder höher stammen).
  Typographie Elaboriert Die Wahrscheinlichkeit bei einer rechtspolitischen Scritta eine elaborierte Typographie zu erkennen, liegt bei 54 %.
Subsidiär Erstellungswerkzeug Spraydose, (Wand-) Farbe, (Filz-) Stift Der Prototyp einer rechtspolitischen Scritta wird zu 85 % anhand von Spraydosen erstellt, gefolgt von (Wand-) Farben (7 %) und (Filz-) Stiften (6 %).287
  Trägerfläche Wohnhaus, Freistehende Mauer, Geschäftsfassaden Scritte Murali werden typischerweise an Außenwänden von Wohnhäusern (49 %), auf freistehenden Mauern (24 %) oder Geschäftsfassaden (11 %) erstellt.
Besonderheit Totenkult 30 Scritte sind den sog. Totenscritte/-murales zuzuordnen (entspricht etwas über 7 % der rechtspolitischen Scritte). 18 % aller Toten-verehrenden Scritte sind demnach aus dem rechtspolitischen Spektrum.  
Zusammenfassung der prototypischen Werte von Scritte Murali aus der Subdomäne POLITIK RECHTS

Karte der geographischen Standpunkte von rechtspolitischen Scritte Murali im Erhebungsgebiet:

IK 8: Standorte der Subdomäne POLITIK RECHTS Vollbildanzeige

17 % der linkspolitischen und 41 % der rechtspolitischen Scritte wurden durch weitere ProduzentInnen modifiziert. Wie die Modifikationsroutinen typischerweise aussehen, wird nachfolgend zusammengefasst.

Betrifft POLITIK LINKS POLITIK RECHTS
Verteilung der beteiligten Hände Linkspolitische Scritte wurden durch bis zu vier weitere Hände modifiziert, wobei 85 % auf die Hände 2 und 3 entfallen. Bis zu sieben Hände modifizierten die rechtspolitischen Scritte. 93 % nehmen die Hände 2 (61 %) und 3 (22 %) ein, 10 % Hand 4.
Modifikationstypen und -bewertungen Die modifizierten Token wurden auf 21 verschiedene Arten nachträglich bearbeitet und erfuhren eine Bewertung durch die nachfolgende Hand/Hände. 71 % dieser Modifikationsweisen werden dabei von lediglich fünf Typen-Bewertungskombinationen gebildet:

Substitution, Negation – 23 %
Elision, Negation – 15 %
Addition, Negation – 13 %
Gesamtgraph-Rasur, Negation – 11 %
Kommentar, Negation – 8 %

Bei rechtspol. Scritte liegen die Werte sogar noch etwas höher: 74 % der modifizierten Token wurden durch eine der fünf Kombinationen modifiziert. Die Kombinationen sind mit jenen der Subdomäne POLITIK LINKS deckungsgleich – lediglich die Verteilung ist abweichend.

Elision, Negation – 27 %
Addition, Negation – 18 %
Substitution, Negation – 11 %
Kommentar, Negation – 11 %
Gesamtgraph-Rasur, Negation – 7 %

Modifikationsobjekte (Token) Bei linkspolitischen Scritte sind stehen besonders bildgraphische Zeichen (Hand 1: 32 %, Alle Hände: 29 %), Nomen (Hand 1: 21 %, Alle Hände: 18 %) und Eigennamen (Hand 1: 16 %, Alle Hände: 16 %) im Fokus der Modifikationen. Dies entspricht 68 % für aus Hand 1 stammende Token und 63 % über alle Hände gerechnet.
So werden bspw. die bildgraphischen Zeichen <<Hammer und Sichel>>, <<Movimento Autonomi e Autoorganizzati>> und <<Anarchie>> vorzugsweise Objekt der (meist negativen) Modifikation.
Noch deutlicher zeigt sich die Verteilung der typischen Modifikationsobjekte bei rechtspolitischen Scritte: 71 % (Hand 1) bzw. 65 % (Alle Hände) der modifizierten Token sind bildgraphische Zeichen (Hand 1: 27 %, Alle Hände: 21 %), Eigennamen (Hand 1: 24 %, Alle Hände: 20 %) oder Nomen (Hand 1: 21 %, Alle Hände: 23 %).288 Prominente Beispiele für diese Modifikationsobjekte wären <<Keltisches Kreuz>>, <<Fascio Littorio>>, <<Hakenkreuz>>, Banda Noantri oder Lazio.
Ortsabhängigkeit Siehe interaktive Karte unten Siehe interaktive Karte unten
Gegenüberstellung der Modifikationsroutinen der Subdomänen POLITIK LINKS und RECHTS

Karte der geographischen Standpunkte von linkspolitischen, modifizierten Scritte Murali im Erhebungsgebiet:

IK 9: Ortsabhängigkeit der Modifikation POLITIK LINKS – Vollbildanzeige

Karte der geographischen Standpunkte von rechtspolitischen, modifizierten Scritte Murali im Erhebungsgebiet:

IK 10: Ortsabhängigkeit der Modifikationen POLITIK RECHTS – Vollbildanzeige

Bildgraphische Zeichen spielen in der Domäne POLITIK eine zentrale Rolle und somit auch für die Subdomänen POLITIK LINKS und RECHTS. Um etwaige Unterschiede bei den typischen Zeichenkonstruktionen zwischen den Subdomänen aufzudecken, werden nachfolgend die Ergebnisse gegenübergestellt.

Betrifft POLITIK LINKS POLITIK RECHTS
Zeicheninhalte 74 % der bildgraphischen Zeichen werden von gerade einmal sechs verschiedenen Zeicheninhalten gebildet:

<<Hammer und Sichel>> – 25 %
<<Movimento Autonomi e Autoorganizzati>> – 19 %
<<Anarchie>> – 13 %
<<Fünfzackiger Stern>> – 11 %
<<Gendersymbol Frau>> – 5 %
<<Antifa>> – 2 %

Insgesamt wurden 80 verschiedene Zeicheninhalte erfasst. Auffällig ist, dass eines der Symbole (<<Gendersymbol Frau>>) primär nicht mit einer (links-) politischen Semantik in Verbindung steht.289 Eine Erklärung dazu ist in Kapitel zu finden.

Eindeutiger (und damit typischer) zeigen sich die Inhalte der rechtspolitischen bildgraphischen Zeichen. Hier machen bereits drei semantische Inhalte 78 % der verwendeten Zeichen aus:

<<Keltisches Kreuz >> – 48 %
<<Hakenkreuz >> – 15 %
<<Fascio Littorio >> – 15 %

Im Vergleich mit linkspolitischen Texten, umfassen die sechs häufigsten Inhalte 88 % der gesamten Inhalte, wobei nur eines auf den ersten Blick290 semantisch ‘neutral’ (d. h. nicht politik-spezifisch) ist:

<<Emblem>> – 5 %
<<Wolfsangel >> – 3 %
<<SS (Schutzstaffel)>> – 2 %

Die Variation bei den Zeicheninhalte steht jener der linkspolitischen Scritte mit 28 Inhalten bei weitem nach.

Zeichentypen Bei den Zeichentypen zeigen sich in linkspol. Scritte die Ideogramme (78 %) als besonders dominant, gefolgt von Ikonen (13 %). Gruppensymbole stehen mit 3 % an dritter Stelle. Noch typischer sind Ideogramme bei rechtspol. Scritte: ganze 96 % der Zeichen sind diesem Typ zuzuordnen. Gruppensymbole finden sich mit 3 % an zweiter Stelle und Ikone spielen mit lediglich 1 % eine marginale Rolle.
Farbwahl 95 % der Zeichen wurden in Schwarz (58 %), Rot (30 %) oder Blau (7 %) erstellt. Weiße Farbe wird interessanterweise v. a. für das Zeichen <<Herz>> verwendet. Eben diese vier Farben machen 92 % der realisierten bildgraphischen Zeichen der rechtspol. Subdomäne aus. Allerdings weichen die Anteile deutlich von den linkspol. Pendants ab: Schwarz (73 %) ist klar die typischste Farbe, gefolgt von Blau (10 %). Rot (4 %) steht dabei auf gleicher Stufe wie Weiß (4 %), was ein deutlicher Unterschied zur linkspol. Subdomäne aufzeigt.
Erstellungswerkzeuge Wie zu erwarten, ist die Spraydose (65 %) das typischste Werkzeug, gefolgt von Stencils (11 %) und Filzstiften (8 %) für kleinformatige Scritte. Mit 89 % ist die Spraydose bei rechtspol. Scritte die erste Wahl beim Erstellen von bildgraphischen Zeichen. Der (Filz-) Stift steht mit 8 % an zweiter Stelle. Auffällig ist, dass im Vergleich zu linkspol. Scritte Stencils überhaupt nicht verwendet werden.
Heatmaps Bei der Anordung der bildgraphischen Zeichen im Textbild, lässt sich zusammenfassen, dass die frequentesten Zeichen291 deutlich im rechten Blickfeld angeordnet werden. Einzig das Zeichen <<Fünfzackiger Stern>> zeigt ein davon stark abweichendes Bild:

Subdomäne POLITIK LINKS - Heatmap - bildgraphisches Zeichen: Fünfzackiger Stern

Subdomäne POLITIK LINKS – Heatmap – bildgraphisches Zeichen: < <Fünfzackiger Stern> >


Wie zu erwarten, werden Ikone zentral platziert.

Bei der Auswertung der Platzierungen für rechtspol. Zeichen lässt sich erkennen, dass die frequentesten bildgraphischen Zeichen292 zentral und rechts im Bild angeordnet werden. Dies ist so bei linkspol. Scritte nicht zu erkennen. Das Zeichen <<Emblem>> weist eine deutlich mittige Platzierung auf.
Vergleichende Darstellung der typischen Zeichenkonstruktionen für die Subdomänen POLITIK LINKS und RECHTS

6.3. Genre-Prototyp der Domäne ULTRAS

Mit 1001 ihr zu zuordnenden Scritte, liegt die Domäne ULTRAS knapp hinter der Domäne POLITIK – dies entspricht 30.39 % des Gesamtkorpus. Nach Bereinigung – also ohne die 20 mit ‘?Ultras’ markierten Scritte zu berücksichtigen – verringert sich der Anteil nur minimal auf 29.78 %. 205 der 1001 Ultras-Scritte weisen unscharfen Grenzen auf, d. h., diesen Scritte werden eine/zwei weitere Domänen zugeordnet. Im Gesamt wurden den Scritte 1221 Domänen zugeordnet, deren Verteilung sich folgendermaßen gestaltet:

Domänen

Frequenz (Scritta)

Anteil

Ultras 981 80 %
Politik 123 10 %
Ideologie 44 4 %
Expressivität 20 2 %
?Ultras 20 2 %
Diverses 20 2 %
?Politik 10 1 %
Religion 1 0 %
?Expressivität 1 0 %
?Ideologie 1 0 %
  1221  
Domänen-Verteilung der Scritte im Bereich ULTRAS

Betrachtet man ausschließlich die Nachbardomänen, zeigt sich die deutliche Verbindung zu den Domänen POLITIK und IDEOLOGIE:

Nachbardomäne Frequenz (Scritta) Anteil
Politik 123 51 %
Ideologie 44 18 %
?Ultras 20 8 %
Expressivität 20 8 %
Diverses 20 8 %
?Politik 10 4 %
Religion 1 0 %
?Expressivität 1 0 %
?Ideologie 1 0 %
  240 100 %
Frequenzen und Anteile der Nachbardomänen zur Domäne ULTRAS

Wie zuvor für die Domäne POLITIK gezeigt, konnten auch für den Bereich ULTRAS verschiedenen Subdomänen erfasst werden:293

Subdomänen Frequenz Anteil
Ultras Vereine Konflikt 441 42 %
Ultras Verein Support 343 33 %
Ultras Verein Aversiv 179 17 %
Ultras Subkultur 24 2 %
Ultras 17 2 %
Ultras Sport 15 1 %
?Ultras 10 1 %
?Ultras Verein Support 8 1 %
?Ultras Verein Aversiv 2 0 %
Ultras Verein 2 0 %
  1041  

Subdomänen zur übergeordneten Domäne ULTRAS

6.3.1. Zentrale Attributsklassen – Domäne ULTRAS

Die Auswertung der zentralen Attributsklassen Tokenzahl, Modifikationsanfälligkeit, Verwendung von bildgraphischen Zeichen, Verwendung von sprachlichen Zeichen sowie die Verteilung der Scritte im Erhebungsgebiet für die Domäne ULTRAS ergibt folgende Werte:

Tokenzahl pro Scritta:

Auch für Scritte aus der Domäne ULTRAS lässt sich die relative Kürze der Texte deutlich erkennen: 91 % der Scritte zeigen zwischen einem und sechs Token, womit der Wert noch höher liegt als bei den politischen Scritte. Gleichzeitig gibt es weniger Ein-Wort/Token-Scritte als bei den politischen Scritte, mit einem höheren Anteil der 2-Wort/Token-Scritte (37 %), gefolgt von 3-Wort/Token-Scritte (22 %) und Scritte mit vier Token (12 %).

Modifikationsanfälligkeit
Knapp die Hälfte aller ULTRAS-Scritte wurde durch bis zu sieben weitere Hände modifiziert. Dies entspricht 493 der 1001 (= 49 %) Einzelscritte. Damit ist der Anteil fast doppelt so hoch, wie jener der politischen Scritte.

Verwendung bildgraphischer Zeichen
Bildgraphische Zeichen kamen bei 23 % der Scritte zum Einsatz. Verglichen mit den politischen Scritte (dort knapp 72 %) bedeutet dies einen Rückgang um fast 50 %.

Sprachliche Zeichen
Nachfolgend werden die Ergebnisse für der Bereich der sprachlichen Zeichen wiedergegeben und zwar zur Lexik allgemein, zu den auftretenden Eigennamen, verwendeten Sprachen und dialektalen Varianten, dem Einsatz von Kürzungsverfahren, zur Verteilung der Wortarten (POS) sowie zu den Mehrworteinheiten (n-Gramme).

Lexik
Gesamthaft ließen sich 391 semantisch dichte Lemmata ermitteln.294 Die Beschränktheit der konkreten Realisierungen und ihrer Häufigkeiten auf einen geringen Teil dieser Lemmata ist für die Domäne ULTRAS – im Vergleich zur Domäne POLITIK – noch deutlicher. So füllen nur 17 % der Lexeme (entspricht 69 der 391 Lemmata) 71 % der konkreten Realisierungen und 50 % der tatsächlich auftretenden Token basieren auf lediglich 15 (!) verschiedenen Worteinheiten.295

Eigennamen
Auch die statistische Auswertung der verwendeten Eigennamen zeigt ein ähnlich starke Rechtsverschiebung. Lediglich 31 der 176 (= 18 %) erfassten Eigennamen bilden 84 % der konkret erstellten Token.

Sprachen und Dialektale Varianten

Die Wahl der Sprache für die Domäne ULTRAS beschränkt sich fast ausschliesslich auf das Italienische (97 %). Die Verwendung von dialektalen Varianten ist mit 89 Token ähnlich gering, wie in der Domäne POLITIK (47)296, allerdings liegt der Anteil höher gemessen an den Gesamtzahlen der verwendeten Token in den beiden Domänen (POLITIK 4972; ULTRAS 3579). Dass Dialekte prototypisch in ULTRAS-Scritte sind, kann man dennoch nicht behaupten.

Kürzungsverfahren
Der Einsatz von Kürzungsverfahren bei ULTRAS-Scritte liegt bei 38 %, sprich, 379 der 1001 Scritte aus dieser Domäne zeigen Kürzungsverfahren. Die Verteilung wird erwartungsgemäß deutlich von den initial gekürzten Akronymen dominiert.

Fasst man die hier gezeigten Kürzungsvarianten und -typen, die sich auf die selben semantischen Einheiten beziehen, zusammen, beschränkt sich der Großteil (81 %) der Kürzungen auf lediglich sieben Worteinheiten.297

Part-Of-Speech (POS) – Wortarten
Im Verhältnis zu den Werten der Domäne POLITIK, positionieren sich die Eigennamen innerhalb der Domäne ULTRAS an erster Stelle noch vor den Nomen. Die genauen statistischen Werte sind nachfolgend illustriert.

Die für politische Scritte prototypische Verwendung von bildgraphischen Zeichen (siehe DEFAULT), gilt nicht für die Domäne ULTRAS (siehe oben). Dies spiegelt sich auch in den oben gezeigten Werten der Wortarten-Verteilung mit bildgraphischen Zeichen sowie der Werte für die Token-pro-Scritta Verteilung:

n-Gramme
Folgende 2- bzw. 3-/4-Gramme wurden für die Domäne ULTRAS berechnet.298

Verteilung der Scritte Murali im Erhebungsgebiet
Die 1001 Scritte der Domäne Ultras sind wie folgt im Erhebungsgebiet verteilt.

IK 11: Standorte der Domäne ULTRAS – Vollbildanzeige

6.3.2. Sekundäre Attributsklassen – Domäne ULTRAS

Farben
Die Prototypikalität der Farbwahl für die Domäne ULTRAS gestaltet sich wie folgt.

Typographie
Im Verhältnis zu politischen Scritte steigen die als in arbiträrem Typographie-Stil wahrgenommenen Token etwas an und beanspruchen für die Domäne ULTRAS etwa den gleichen Anteil, wie der Wert N/AATTval.

6.3.3. Subsidiäre Attributsklassen – Domäne ULTRAS

Erstellungswerkzeuge
Deutliche Werte für den Prototyp der Domäne ULTRAS zeigen sich für das subsidiäre Attribut der Erstellungswerkzeuge.

Träger(flächen)
Abgesehen davon, dass Tazebao überhaupt nicht als Träger fungierren, zeigt die Verteilung der Trägerflächen für die ULTRAS-Domäne kaum Auffälligkeiten.

6.3.4. Modifikationsroutinen – Domäne ULTRAS

Knapp jede zweite ULTRAS-Scritta wird modifiziert (49 %), wodurch Modifikationen in Abgrenzung zu den anderen erfassten Domänen ein integraler Bestandteil wird. Das Gros machen dabei – wie auch bei den politischen Scritte oben – die Hände 2 bis 4 aus. 92.09 % der Modifikationen werden durch eine zweite, dritte oder vierte Hand vorgenommen, wobei sich Unterschiede in den Anteile hinsichtlich der Hände ergeben, stellt man die Werte den politischen Scritte gegenüber. So verschieben sich die Werte zugunsten der Hände 3 und 4, wie in Tabelle 26 ersichtlich ist.

Hand Anzahl Scritte Anteil
2 254 52 %
3 121 25 %
4 79 16 %
5 25 5 %
6 10 2 %
7 2 0.41 %
8 2 0.41 %
  493  
Verteilung der modifizierenden Hände für die Domäne ULTRAS

Modifikationsweisen
Die Modifikationstypen und -bewertungen resultieren fast identisch zu den Ergebnissen der POLITIK-Scritte: die ersten fünf Typen sind ausnahmslos negative Bewertungen gegenüber der vorhergehenden Hand und auch die Typen decken sich.

Token – Hand 1/Alle Hände, gesammelt/ungesammelt
Von den Ergebnissen der Domäne POLITIK stark abweichend, zeigen sich die Daten zu den modifizierten Token (jeweils für Hand 1 und alle Hände, je gesammelt und ungesammelt): sind es bei den politischen Scritte in erster Linie die bildgraphischen Zeichen, die als Modifikationsobjekte anvisiert werden, treten für den Bereich der ULTRAS-Scritte in erster Linie Eigennamen und Nomen in Erscheinung. Die entsprechenden Werte werden in den folgenden Tabellen gezeigt, geordnet nach Token und Wortarten.

Wortarten – Hand 1/Alle Hände, gesammelt/ungesammelt

Modifikation von bildgraphischen Zeichen
Bildgraphischen Zeichen treten bei einem Viertel aller ULTRAS-Scritte auf, wodurch der Einsatz dieser besonderen Zeichen strenggenommen nicht als prototypisch bezeichnet werden kann. Dennoch ist eine deutliche Verbindung der Domäne ULTRAS zu jener der POLITIK erkennbar (siehe oben), was v. a. der Produktion von politischen Ideogrammen geschuldet ist. Aus diesem Grund werden nachfolgend die Modifikationsmuster von bildgraphischen Zeichen in der Domäne ULTRAS wiedergegeben.

Ortsabhängigkeit
Die Abhängigkeit vom Standort der Scritta wird nachfolgend abgebildet.

IK 12: Ortsabhängigkeit der Modifikationen in der Domäne ULTRAS – Vollbildanzeige

6.3.5. Typische Zeichenkonstruktionen – Domäne ULTRAS

Die Zeicheninhalte und -typen der ULTRAS-Scritte zeigen sich wie folgt.

Stellt man die Werte den Statistiken der Domäne POLITIK gegenüber, zeigt sich zwar weiterhin eine Dominanz der Ideogramme, wobei gleichzeitig die Werte zugunsten der Typen <<Ikon>>, <<Grundform>>, <<Logogramm>> und <<Pfeil>> verschieben.

Realisierte Ikone und deren Häufigkeiten

Farbwahl beim Erstellen der bildgraphischen Zeichen
Nachstehende Charts visualisieren die Farbwahl in Bezug auf die bildgraphischen Zeichen – je nach Farben und Zeicheninhalten gruppiert.

Erstellungswerkzeuge
Hinsichtlich der bevorzugten Erstellungswerkzeuge, zeigt sich, dass die Spraydose noch prominenter ist, verglichen mit den Werten der Domäne POLITIK. Betrachtet man die Ergebnisse gruppiert nach den Zeichentypen, lässt sich auch hier der zunehmende Einsatz von Stencils für den Zeichentyp <<Ikon>> erkennen.

Erstellungswerkzeug Frequenz (Token) Anteil
Spraydose 278 86 %
(Wand-) Farbe 12 4 %
Stencil 12 4 %
(Filz-) Stift 10 3 %
Kreide 5 2 %
Druck 2 1 %
(Wand-) Farbe, Spraydose 1 0 %
Kratzverfahren 1 0 %
(Wand-) Farbe, Pinsel 1 0 %
  322  
Frequenzen der Verwendung von Werkzeugen beim Erstellen von bildgraphischen Zeichen in der Domäne ULTRAS

Heatmaps
Die Platzierung der am häufigsten verwendeten bildgraphischen Zeichen im Textbild sind (erwartungsgemäß) deckungsgleich mit den Ergebnissen der Domäne POLITIK, d. h., für Ideogramme ist eine deutliche mitte-rechts Positionierung erkennbar. Dies erklärt sich daraus, dass es sich hier um Zeichen mit – semantisch gesehen – politischem Inhalt handelt (<<Keltisches Kreuz>>, <<Fascio Littorio>> und <<Hakenkreuz>>) und die Ergebnisse daher auch Bestandteil der Domäne POLITIK sind. Einzig das Zeichen <<Emblem>> weicht von der gewohnten Anordnung ab, wobei sich kein klares Muster zeigt.

Domäne ULTRAS - Heatmap - bildgraphisches Zeichen: Keltisches Kreuz

Domäne ULTRAS – Heatmap – bildgraphisches Zeichen: < <Keltisches Kreuz> >

Domäne ULTRAS - Heatmap - bildgraphisches Zeichen: Fascio Littorio

Domäne ULTRAS – Heatmap – bildgraphisches Zeichen: < <Fascio Littorio> >

Domäne ULTRAS - Heatmap - bildgraphisches Zeichen: Emblem

Domäne ULTRAS – Heatmap – bildgraphisches Zeichen: < <Emblem> >

Domäne ULTRAS - Heatmap - bildgraphisches Zeichen: Hakenkreuz

Domäne ULTRAS – Heatmap – bildgraphisches Zeichen: < <Hakenkreuz> >

Domäne ULTRAS - Heatmap - bildgraphisches Zeichen: Ideogramme

Domäne ULTRAS – Heatmap – bildgraphisches Zeichen: Ideogramme

Domäne ULTRAS - Heatmap - bildgraphisches Zeichen: Ikone

Domäne ULTRAS – Heatmap – bildgraphisches Zeichen: Ikone

6.3.6. Subdomänen – Domäne ULTRAS

Insgesamt wurden die Scritte der Domäne ULTRAS mit sieben verschiedenen Subdomänen annotiert: Vereine Konflikt, Vereine Support, Vereine Aversiv, Subkultur, Sport, Verein und lediglich Ultras. Vier dieser Werte beziehen sich auf Scritte worin Fußballvereine im der zentrale Gegenstand sind – für die vorliegende Studie handelt es sich dabei fast ausschliesslich um die Vereine A.S. Rom und S.S. Lazio. Desweiteren treten Scritte auf, die sich auf den Sport Fußball oder die Subkultur der Ultras generell beziehen. Zuletzt tritt eine Restgruppe in Erscheinung, die sich auf andere, nicht näher spezifizierte Weise auf die Ultras-Kategorie bezieht. Wie zu Beginn des Kapitels bereits im Detail gezeigt wurde, sind es lediglich drei der Vereins-Subdomänen, die in höherer Zahl auftreten und somit in diesem Kapitel näher beschrieben werden sollen. Es handelt sich dabei um die Subdomänen VEREIN KONFLIKT (441 Scritte/42 % der Domäne), VEREIN SUPPORT (343 Scritte/33 %) und VEREIN AVERSIV (179 Scitte/17 %). Wie gezeigt wurde (siehe DEFAULT) sind Modifikationen innerhalb der Domäne ULTRAS ein substantieller Bestandteil fast jeder zweiten Scritta. Die Subdomäne VEREIN KONFLIKT sammelt ein Großteil dieser Scritte zusammen und beschreibt jene Scritte, in denen sich das Konfliktpotential zwischen den Anhängern zweier (oder mehrerer) Fußballvereine in den Texten niederschlägt. Daneben stehen Scritte der Subdomänen VEREIN SUPPORT und VEREIN AVERSIV, die sich auf den sog. Support eines Vereins bzw. deren Anhänger fokussieren oder die aversive Haltung seitens des/der Produzenten gegenüber eines konkurrierenden Vereins ausdrücken. Tatsächlich liessen sich die meisten der mit Verein Konflikt markierten Scritte zu einem dieser beiden, letztgenannten Subdomänen zuordnen. Jedoch scheint es, dass für die Produzenten ab einem bestimmten Moment eher die Modifikation der Scritte im Vordergrund stehen.299 Eine deutliche Differenzierung der Subdomänen, wie dies für links- und rechtspolitische Scritte möglich war, ist für den Bereich der ULTRAS-Scritte nicht ganz so einfach. Nachfolgend wird eine Zusammenfassung der prototypischen Werte für diese drei Subdomänen – VEREIN KONFLIKT, VEREIN SUPPORT und VEREIN AVERSIV – gegeben.

Beispiel für eine Scritta der Subdomäne 'Verein Support'

Beispiel für eine Scritta der Subdomäne ‚Verein Support‘. (Man beachte auch die spezielle Typographie, die u. a. den sog. Fascio-Font zeigt.)
(ScriMuRo)
(Lizenz: CC BY SA)

Zwei Scritte aus den Subdomänen 'Verein Aversiv' und 'Verein Support'

Zwei Scritte aus den Subdomänen ‚Verein Aversiv‘ und ‚Verein Support‘.
(ScriMuRo)
(Lizenz: CC BY SA)

Eine weitere Scritta der Subdomäne 'Verein Aversiv'

Eine weitere Scritta der Subdomäne ‚Verein Aversiv‘.
(ScriMuRo)
(Lizenz: CC BY SA)

Mehrere Scritte, die der Subdomäne 'Verein Konflikt' zugeordnet werden können

Mehrere Scritte, die der Subdomäne ‚Verein Konflikt‘ zugeordnet werden können.
(ScriMuRo)
(Lizenz: CC BY SA)

6.3.6.1. ULTRAS VEREIN KONFLIKT

441 der 1041 für den Bereich ULTRAS vergebenen Subdomänen, gehören der Subdomäne VEREIN KONFLIKT an. Dies entspricht einem Anteil von 42 % aller Subdomänen und 13 % der Scritte des Gesamtkorpus.

Attributs-gewichtung Attributsklasse Typische(r) Wert(e) Bemerkungen
Zentral Tokenzahl 3 bis 6 Da die Attributsklasse [Tokenzahl pro Scritta]ATTclass normalerweise ausschließlich für Hand 1 berechnet werden, dies aber für die Subdomäne KONFLIKT VEREIN nicht sinnvoll wäre,300 werden hier die Werte für alle Hände angegeben. 52 % der Scritte weisen dabei zwischen 3 und 6 Token auf. 80 % der Scritte zeigen zwischen 2 und 10 Token. Scritte dieser Subdomäne sind demnach länger, als die prototypischen Texte der Domäne ULTRAS.
  Modifikations-anfälligkeit 100 % Wie bereits beschrieben, sind alle Scritte der Subdomäne modifiziert worden.
  Verwendung bildgraphischer Zeichen 28 % Etwas weniger als ein Drittel der VEREIN KONFLIKT-Scritte weisen bildgraphische Zeichen auf. Dieser Wert liegt um 5 % höher als für die übergeordnete Domäne ULTRAS.
  Lexik (Hand 1, ohne Eigennamen; Mindestfrequenz 10) merda, romanista, ultras, laziale, banda, verme, campione, curva, essere Aus 170 verschriftlichten Lemmata bilden die neun linksstehenden Lexeme bereits 53 % der realisierten Token. Die relativ geringe Varianz der konkret verwendeten Lexeme, die schon für die Domäne ULTRAS gezeigt wurde, tritt für diese Subdomäne in noch deutlicherer Form auf.
  Lexik (Hand 1, nur Eigennamen; Mindestfrequenz 10) Associazione Sportiva Roma, Società Sportiva Lazio, Lulic, Banda Noantri Noch deutlicher zeigt sich die Beschränkung auf wenige Worteinheiten bei der Ermittlung der verwendeten Eigennamen: 80 % (!) der 452 konkret verwendeten Eigennamen werden durch lediglich vier Bezeichnungen (in verschiedenen Formen) gebildet. Insgesamt 54 verschiedene Eigennamen sind aufgetreten.
  Sprache 98 % Italienisch Lediglich sieben Sprachen wurden innerhalb der Domäne verwendet, wobei neben der italienischen Sprache (98 %) alle weiteren Sprachen für die Ermittlung der Prototypen insignifikant sind.
  Dialektale Varianten di (de), ti (de), tua (tu), vi (ve), non (nun), ci (ce), la (‘a), sfondo (sfonno) Die Verwendung von dialektalen Varianten ist, wie zu erwarten war, recht untypisch: 23 Wortformen treten insg. 45 mal auf. Die neun häufigsten (67 %) sind links aufgelistet.
  Kürzungsverfahren Akronyme (initial gekürzt) In rund 44 % der VEREIN KONFLIKT-Scritte setzen Produzenten Kürzungsverfahren ein. Mit 94 % ist das typische Verfahren dabei die initiale Kürzung zu Akronymen, wie bspw. A.S.R./ASR oder lediglich AS sowie S.S.L./SSL oder CML (für die Vollform Commandos Monteverde Lazio).
  Wortarten (nur sprachliche Zeichen) Eigennamen (32 %), Nomen (30 %), Satzzeichen (6 %), (finite) Verben (4 %), Adjektive (4 %) Die Verteilung der auftretenden Wortarten ist mit jener der Domäne ULTRAS fast identisch. Lediglich die an zweiter Stelle gelegenen Nomen weisen mit 30 % etwas höhere Werte auf, als dies für die übergeordnete Ebene der Fall ist (dort sind es 25 %).
  Wortarten bei Tokenzahl 1 bis 6 (inkl. bildgraphischer Zeichen)

N/A

Die Angabe der Wortarten für die Scritte mit einer bestimmten Anzahl von Token ist nur sinnvoll, wenn diese auf eine Hand (bisher Hand 1) beschränkt ist. Da dies für die Subdomäne VEREIN KONFLIKT nicht von nutzen ist, werden dazu keine Angaben gemacht.
  n-Gramme (ohne bildgraphische Zeichen; jeweils die 3 frequentesten)

Bi-Gramme:

[NPR

NOUN]

[NPR

NOUN]

[NPR

NPR]

Tri-Gramme:

[NPR

NPR

NOUN]

[NPR

NOUN

SENT]

[NOUN

CLI

VER:fin]

4-Gramme:

[NPR

NPR

NOUN

NPR]

[NPR

NOUN

NPR

NPR]

[NPR

NPR

NOUN

SENT]

Die n-Gramme (ungesammelt) zeigen allesamt ein ähnliches Bild. Die häufigsten Mehrwort-Kombinationen werden durch Tokenfolgen gebildet wie bspw. [Lazio/Roma merda], [A.S. Roma/S.S. Lazio merda !] oder [A.S. Roma merda Ultras Lazio]. Auffällig ist die relativ häufige Verwendung von Satzzeichen.

  Ortsspezifität (siehe interaktive Karte unten)  
Sekundär Farbe Schwarz, Blau Typischerweise werden Token der Subdomäne ULTRAS VEREIN KONFLIKT in schwarzer (68 %) oder blauer (15 %) Farbe erstellt.
  Typographie Elaboriert Mit 50 prozentiger Wahrscheinlichkeit lassen sich bewusst gewählte Typographien erkennen.
Subsidiär Erstellungswerkzeug Spraydose Die Ergebnisse zu den Erstellungswerkzeugen für diese Subdomäne sind eindeutig: 97 % der Scritte wurden anhand von Spraydosen erstellt.
  Trägerfläche Wohnhaus, Freistehende Mauer, Geschäftsfassaden KONFLIKT-Scritte werden typischerweise an Außenwänden von Wohnhäusern (54 %), auf freistehenden Mauern (31 %) oder Geschäftsfassaden (9 %) erstellt.
Zusammenfassung der prototypischen Werte von Scritte Murali aus der Subdomäne ULTRAS VEREIN KONFLIKT

Karte der geographischen Standpunkte von Scritte Murali der Subdomäne ULTRAS VEREIN KONFLIKT im Erhebungsgebiet:

IK 13: Standorte der Subdomäne ULTRAS VEREIN KONFLIKT – Vollbildanzeige

Modifikationsroutinen
Die Subdomäne VEREIN KONFLIKT besteht ausschliesslich aus modifizierten Scritte. Da ein direkter Vergleich mit den zwei weiteren Subdomänen VEREIN SUPPORT und AVERSIV wenig sinnvoll ist, werden die Routinemuster an dieser Stelle nur für die Scritte der Kategorie VEREIN KONFLIKT gegeben.

Betrifft

VEREIN KONFLIKT

Verteilung der beteiligten Hände

Bis zu sieben weitere Hände treten im Rahmen der Modifikationen für diese Subdomäne auf. Jedoch fallen 93 % der Textmanipulationen auf die Hände 2 (53 %), 3 (27 %) und 4 (14 %).

Modifikationstypen und -bewertungen

33 Modifikationstypen-Bewertungs-Kombinationen sind hier zu erkennen, wobei sich 83 % dieser Kombinationen auf sechs Arten konzentrieren:

Elision, Negation – 26 %
Addition, Negation – 18 %
Substitution, Negation – 15 %
Kommentar, Negation – 10 %
Gesamtgraph-Rasur, Negation – 7 %
Erneuerung, Affirmation – 7 %

Modifikationsobjekte (Token)

Besonders Eigennamen (Hand 1: 37 %, Alle Hände: 27 %) und Nomen (Hand 1: 30 %, Alle Hände: 26 %) werden modifiziert. Die am häufigsten modifizierten Token sind merda (über negative Elision ersetzt durch ~ ~ ~), Lazio (ersetzt durch Roma, elidiert oder erneuert) und Roma (ebenfalls durch Elision, Substitution oder Erneuerung modifiziert).

Ortsabhängigkeit

Da alle Scritte der Subdomäne modifiziert wurden, sei auf die oben dargestellte interaktive Karte verwiesen.

Zusammenfassung der Modifikationsroutinen innerhalb der Subdomäne ULTRAS VEREIN KONFLIKT

Typische Zeichenkonstruktionen
Mit 23 % beinhaltet knapp jede vierte Scritta ein bildgraphisches Zeichen auf, insgesamt sind es 176 solcher Zeichen in 441 Texten. Die typischen Konstruktionsmuster lassen sich wie folgt zusammenfassen:

Betrifft

ULTRAS VEREIN KONFLIKT

Zeicheninhalte

Elf verschiedene bildgraphische Zeichen mit einer Mindestfrequenz von 5 bilden 76 % des gesamten Zeichenapparates. Acht davon sind den Ideogrammen zuzuordnen:

< < Keltisches Kreuz (rechts) > > – 19 %
< < Fascio Littorio (rechts) > > – 13 %
< < Emblem > > – 7 %
< < Jüdischer Davidstern > > – 7 %
< < Hakenkreuz (rechts) > > – 6 %
< < Auskreuzen-Zeichen > > – 4 %
< < Hammer und Sichel (links) > > – 3 %
< < S.S. Lazio (Vereinsfarben) > > – 3 %

Die weiteren drei Zeicheninhalte gehören den Typen der intratextuellen Verweise durch Pfeile, Grundformen (Linien) und Ikonen an. Erklärungsbedürftig ist das Auftreten des jüdischen Davidsterns. Dieses tritt ausschließlich in der Form auf, dass durch das Zeichen bestimmte Personen oder Gruppierungen als Juden bezeichnet werden, wobei stark davon auszugehen ist, dass es sich um antisemitisches Gedankengut handelt und diese Bezeichnung als Beleidigung intendiert ist.