Alpenromanische Sommercamps – Ein temporärer ‚kommunikativer Raum‘ als sprachplanerisches Kuriosum

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Schlagwörter: Alpendialekte , kommunikativer Raum , Romanische Sprachen

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  1. Referenz auf den gesamten Beitrag:
    Felix Tacke (2021): Alpenromanische Sommercamps – Ein temporärer ‚kommunikativer Raum‘ als sprachplanerisches Kuriosum, Version 1 (31.05.2021, 16:33). In: Stephan Lücke & Noemi Piredda & Sebastian Postlep & Elissa Pustka (Hrsgg.) (2021): Linguistik grenzenlos: Berge, Meer, Käse und Salamander 2.0 – Linguistica senza confini: montagna, mare, formaggio e salamandra 2.0 (Korpus im Text 14), Version 1, url: https://www.kit.gwi.uni-muenchen.de/?p=74970&v=1
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1. Einleitung: Ein Fall für Krefelds Migrationslinguistik

Einer privaten Initiative engagierter Eltern folgend, organisierte die Lia Rumantscha, Dachverband der rätoromanischen Sprachvereine, in den Jahren 2009, 2010 und 2011 ein „Familiencamp für romanische und zweisprachige Familien der Diaspora“ (LR 2009a). Das Ziel war es, Familien, „die ausserhalb des angestammten Sprachgebiets leben“, die Möglichkeit zu eröffnen, umgeben von (ehemals) heimischen Bergen für eine Woche „ein ‚Bad‘ in der romanischen Sprache und Kultur zu nehmen“. Auf diese Weise sollten die Eltern, vor allem aber ihre Kinder, welche migrationsbedingt in Deutschbünden und im schweizerischen Mittelland aufwachsen, „sich in die romanische Sprache und Kultur […] vertiefen und sich den eigenen Wurzeln […] nähern“, um „sich auf sehr spielerische Art und Weise mit der Sprache und Kultur identifizieren und sich als Teil der ‚grossen romanischen Familie‘ begreifen [zu] können“ (LR 2009a). Diese Form des in der Projektbeschreibung auch als „Aktivferien“ bezeichneten Sprachförderprogramms zielt also auf die Schaffung eines institutionalisierten Kommunikationsraumes ab, welcher einer kleineren Personengruppe temporär eine einsprachige Umgebung bieten sollte. Ein klarer Fall für Krefelds Migrationslinguistik!

Werbeflyer „Champ polivalent rumantsch per famiglias“ (2009)

Zum ersten Mal bin ich auf dieses sprachplanerische Kuriosum gestoßen, als ich mich mit der Implementierung der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen in der Schweiz beschäftigte (vgl. Tacke 2012) und zu diesem Zweck die Staaten- und Prüfberichte des Europarats studierte. Im vierten Bericht der Schweiz vom 04.12.2009 (Schweiz 2009, 70) liest man:

Deux camps d’été à l’intention des familles, des enfants et des jeunes de la diaspora se sont tenus en 2009. La Lia Rumantscha a organisé à Vignogn dans la Surselva un camp dans lequel huit familles romanches et bilingues et leurs 21 enfants se sont plongés durant une semaine dans la langue et la culture romanches.

Der folgende Beitrag stellt eine Rekonstruktion und sozio- beziehungsweise migrationslinguistische Situierung dieser alpenromanischen Sommercamps dar. Ich stütze mich dabei vornehmlich auf die Daten, welche mir die Lia Rumantscha freundlicherweise bereit war, zur Verfügung zu stellen: Projektbeschreibungen, Einladungsbriefe, Werbematerial, Pressemitteilungen und Zeitungsartikel; hinzu kommen Angaben aus den Jahresberichten der Organisation.1 Den theoretischen Hintergrund der Darstellung bildet einerseits die Migrationslinguistik des Gefeierten (Krefeld 2004), welche zweifellos als œuvre fondatrice dieser jungen Disziplin gelten kann, und andererseits meine zum Teil an Krefelds Überlegungen anknüpfenden Studien zur (geographischen) Räumlichkeit von Sprache (Tacke 2015, Tacke 2016).

2. Das Rätoromanische und die „cumposiziun linguistica istorica“ der Schweiz

2.1. Sprache und Gebiet: Angestammtes Gebiet vs. Diaspora

Der Zielgruppe des Sprachförderprogramms der Lia Rumantscha liegt eine Unterscheidung zugrunde, welche aus der Verknüpfung von Sprache und Gebiet resultiert. Konkret geht es um das Sprachgebiet des als Romanisch bezeichneten Bündner- oder Rätoromanischen.2 Krefeld (2004, 23) bezeichnet diese Zuordnungen als „Räumlichkeit der Sprache“, die sich „selbstverständlich“ daraus ergebe, dass „Idiome in direkter Weise an spezifische Gegenden, d.h. an siedlungsgeographische Räume angebunden sind“. Ganz so selbstverständlich ist diese Anbindung freilich nicht, sie ist vielmehr das Resultat einer Projektion kultureller Eigenheiten auf Siedlungsgebiete und der Konstruktion einer ortsbezogenen kollektiven Identität, die auf einer Metonymie fußt: die ‚eigene‘ Sprache der Gemeinschaft wird zur ‚eigenen‘ Sprache des beanspruchten beziehungsweise besiedelten Gebietes (s. dazu meinen ethologisch begründeten Begriff der sprachlichen Territorialität: Tacke 2015, Kap. 5). In der vielsprachigen Schweiz ist diese Metonymie allgegenwärtig und wird auch von der Verfassung kodifiziert. Zum Zwecke der Bewahrung der Viersprachlichkeit (Deutsch, Französisch, Italienisch, Rätoromanisch) werden die Kantone in Artikel 70, Absatz 2 dazu verpflichtet, „die herkömmliche sprachliche Zusammensetzung der Gebiete [zu achten]“, in der französischen Fassung wird dies mit der Variante „répartition traditionnelle des langues“, in der rätoromanischen mit der „cumposiziun linguistica istorica“ bezeichnet. Damit sind in erster Linie die Sprachen, nicht die Sprecher, an die verschiedenen Landesteile gebunden, was juristisch als Territorialitätsprinzip bezeichnet wird. Für die Sprecher bedeutet dies aus Sicht der Behörden Folgendes (Schweiz 2009, 70):

Cette composition d’essence territoriale n’empêche évidemment pas l’usage d’une langue en dehors de sa zone de diffusion traditionnelle. Mais dans ce contexte, la langue ne bénéficie alors, en principe, d’aucun support juridique ou politique. A titre d’exemple, les italophones sont très nombreux à l’extérieur de leur propre région linguistique.

Gleiches gilt für viele Romanischsprecher, welche außerhalb des ‚angestammten‘ Gebietes leben, und hat unter anderem zur Folge, dass deren Kinder kein Anrecht auf eine Schulbildung in der ‚eigenen‘ Sprache haben. Im Gegenteil, die Verfassung fördert den ‚Bestandschutz‘, d.h. die Homogenität der Sprachgebiete soll gewahrt werden, Migranten – ob aus dem Ausland oder anderen Sprachgebieten – gilt es sprachlich zu integrieren, wenn nicht zu assimilieren (Tacke 2015, 81).

Das ‚angestammte‘ Gebiet entspricht grundsätzlich dem Gebiet, in dem die Sprache traditionell gesprochen wird, also ‚historisch präsent‘ ist.3 Die folgende Karte zeigt die traditionelle ‚sprachliche Zusammensetzung‘ des Rätoromanischen:

Das traditionelle Sprachgebiet des Rätoromanischen

Das traditionelle Sprachgebiet des Rätoromanischen (Furer 2005, 22, Karte 3)

Die Schweiz unterscheidet jedoch nicht nur nach der ‚historischen Präsenz‘, sondern legt zugleich dynamische Kriterien, welche den Zensusdaten folgen, an. Demnach wird zwischen politischen und statistischen Sprachgebieten unterschieden, sodass eine mehrsprachige Gemeinde bei Unterschreiten einer festgelegten Schwelle von einem (statistischen) Sprachgebiet in ein anderes ‚wechseln‘ kann – mit möglichen Folgen für den amtssprachlichen Status und die Schulsprachen. Das Bundesamt für Statistik (BfS) ordnet die Gemeinden nach der jeweils mehrheitlich als ‚Hauptsprache‘ angegebenen Sprache den Sprachgebieten zu. Nach den Zensusdaten von 2000 zählten beispielsweise fünf traditionell zum rätoromanischen Sprachgebiet zugeordnete Gemeinden „neu zum deutschen Sprachgebiet“ (Lüdi/Werlen 2005, 13).

Das traditionelle rätoromanische Sprachgebiet wird seit Jahrzehnten kleiner, wenn es um die reale Sprachverwendung geht. Dies bedeutet – auch mit Blick auf die Zielgruppe des Sommercamps –, dass eine rätoromanische Familie nicht unbedingt aktiv in eine andere Gemeinde oder ein anderes Kanton auswandern muss, um aus amtlicher Perspektive das politische Sprachgebiet zu verlassen. In der Projektbeschreibung von 2010 werden unter „Zielgruppe“ entsprechend auch „Familien aus den Sprachgrenzgemeinden (Domat/Ems, Trin etc.)“ berücksichtigt, wo der Anteil der Bevölkerung, der das Rätoromanische als ‚Hauptsprache‘ angibt, laut den Zensusdaten von 2000 nur noch 11 beziehungsweise 19,8% betrug. Wenngleich die Sprache dort historisch präsent war, gilt dies für die Gegenwart nur noch eingeschränkt, denn wenn die Sprecherdichte sinkt, wird zunehmend das Deutsche zur Verkehrssprache.

Dem traditionellen Sprachgebiet stehen in der oben angesprochenen räumlichen Unterscheidung die zunehmend ‚ausdünnenden‘ Grenzgemeinden sowie das, was verallgemeinernd als Diaspora bezeichnet wird, gegenüber. In einer „Medienmitteilung“ der Lia Rumantscha von 2009 findet sich die Präzisierung, dass es sich um Familien „aus Deutschbünden und dem schweizerischen Mittelland“ (LR 2009b) handelt. In der Projektbeschreibung des folgenden Jahres findet sich der Ausdruck „Eltern mit Wohnsitz in der Diaspora“ (LR 2010a), womit der Terminus klar raumreferentiell verwendet wird. Als Diaspora lässt sich aus sprachräumlicher Sicht folglich jegliches Gebiet bezeichnen, das nicht zum traditionellen und nicht zum statistischen Sprachgebiet zählt und in dem das Rätoromanische weder eine der Amts- noch Schulsprachen darstellt: Es geht um die Grenzen der politischen Territorialität der Sprache, d.h. das Gebiet, in dem das Rätoromanische aktuell präsent ist und amtlich gefördert wird (zum Begriff der politisch-juristischen Territorialität vgl. Krefeld 2004, 23f.; Tacke 2015, 148f.).

2.2. Sprecher und Gebiet: Autochthonie vs. Allochthonie

Der Begriff der Angestammtheit entspricht fachsprachlich dem Begriff der Autochthonie. Dahinter steckt etymologisch die Konzeptualisierung einer Erdverbundenheit, im übertragenen Sinn einer identitären Verknüpfung zwischen Menschen und Orten.4 Wie oben erwähnt, ist es diese Verknüpfung, die metonymisch auf Sprachen übertragen wird. Zunächst sind es aber die Sprecher, die sich mit einem Gebiet verbunden fühlen und darüber ihre Herkunft definieren. Krefeld (2004, 24) legt in seiner Migrationslinguistik neben der Räumlichkeit der Sprache und der des Sprechens folgerichtig auch die des Sprechers zugrunde: „Faktoren zur Sprechercharakterisierung sind etwa die Provenienz und die Mobilität.“ Im Fall der an den Sommercamps teilnehmenden Familien lässt sich feststellen, dass zumindest die Eltern autochthone Graubündner sind, die in den meisten Fällen vermutlich aus sozioökonomischen Gründen in einen anderen Kanton gezogen sind. Die Provenienz ihrer Kinder leitet sich aus der Angestammtheit der Eltern gewissermaßen ab, doch als Sprecher der zweiten Generation ist diese weniger klar definiert. Die Lia Rumantscha definiert sie gleichwohl als Teil romanischer Familien. Der Rückbezug auf die ‚eigene‘ Sprache und Kultur der historischen Gemeinschaft, zu der diese Familien sich rechnen, äußert sich in der Konzeption des Sommercamps darin, dass es dazu beitragen will, „sich den eigenen Wurzeln zu nähern, indem die romanische Sprache für alle Aktivitäten Verwendung findet: Sport, Spiel, Musik und Gesang, Kochen, Exkursionen und basteln“ (LR 2009a). Den aus räumlichen Gründen im Alltag Entfremdeten und in der nicht-romanischen Schweiz ‚Verstreuten‘ (vgl. die Etymologie von Diaspora) kann also über die Sprachpraxis ermöglicht werden, „sich als Teil der ‚grossen romanischen Familie‘ [zu] begreifen“ (ebd.), denn jenseits des angestammten Gebietes gelten sie als Allochthone, also Zugezogene bzw. Fremde.

Unter den „Bedingungen der Extraterritorialität“, wie Krefeld (2004, 39) solche Diasporasituationen nennt, sind die Verwendungsmöglichkeiten der ‚eigenen‘ Sprache stark eingeschränkt und definieren das Glossotop der Sprecher. Der Begriff dient dazu, die „kommunikative Praxis eines Sprechers (und seiner lebensweltlichen Sprechergemeinschaft) im umgebenden Raum präzis zu verorten“ (ebd., 25), er „fasst die varietätengebundenen kommunikativen Gewohnheiten sowohl der Gruppenmitglieder untereinander als auch die zwischen Gruppenmitgliedern und eher locker verbundenen oder ganz außenstehenden Sprecher(inne)n zusammen“ (ebd., 26). Familien, die in der Diaspora leben, zumal rätoromanische Familien, die schon im angestammten Gebiet zweisprachig (deutsch/rätoromanisch) aufwachsen, sind Teil kommunikativer Netzwerke, in denen nur noch eine geringe Zahl von Kommunikationspartnern die Verwendung der ‚eigenen‘ Sprache erlaubt, sodass „der Gebrauch der importierten eigenen Nähesprache nicht über den pragmatischen Nächstbereich der personalisierten Kommunikation hinausreicht“ (ebd., 39). Die Umgebungssprache Deutsch ist zugleich die Sprache des Territoriums. Für die Kinder solcher Familien bedeutet dies, dass sie vornehmlich, d.h. beinahe ausschließlich, mit den eigenen Eltern in Kontakt mit der ‚eigenen‘ Sprache kommen.

3. „Baden“ in Vignogn

3.1. Sprachräumliche Situierung

Um Familien aus der Diaspora die Möglichkeit zu bieten, zeitweise die Erfahrung eines exklusiv romanischsprachigen kommunikativen Raumes machen, wurde, wie es in der Pressemitteilung der Lia Rumantscha von 2009 heißt, „ein Ort im angestammten romanischen Gebiet gewählt“ (LR 2009b). Die Wahl sei auf die Vignogn gefallen, eine von Bergen umgebene Gemeinde in der surselvischen Talschaft Lumnezia/Lugnez, im Bezirk Surselva des Kantons Graubünden.

Die Hangsiedlung zählt gerade einmal 180 Einwohner (Stand: 2008; recht stabil seit 1880, vgl. Furer 2005, 140), doch gaben 88,8% im Zensus von 2000 das Rätoromanische als ‚Hauptsprache‘ an. Das Rätoromanische ist entsprechend alleinige Amts- und neben dem Deutschen auch Schulsprache (vgl. auch Tacke 2015, 275). In einer Umfrage von 2003, die Furer gemeinsam mit der Lia Rumantscha in den Gemeinden des traditionellen rätoromanischen Sprachgebiets durchgeführt hat, wurde unter anderem die – in dieser Form m.W. einzigartige – Frage „Wie betrachtet sich die Gemeinde aus sprachlicher Sicht?“ gestellt (Furer 2005, 75). Dabei ging es um die subjektive Wahrnehmung der Bewohner, welche sich im Spannungsfeld von ‚historischer Präsenz‘ und gegenwärtigem realen Sprachgebrauch situiert (dazu ausführlich Tacke 2015, 271-281). Vignogn zählt dabei zu denjenigen Teilen Graubündens, welche aus den Möglichkeiten

„Wie betrachtet sich die Gemeinde
aus sprachlicher Sicht?“
A. Romanisch
B. Romanisch mit schwacher Zweisprachigkeit
C. Romanisch mit mittlerer Zweisprachigkeit
D. Zweisprachig eher romanisch
E. Zweisprachig
F. Zweisprachig eher deutsch
G. Deutsch mit mittlerer Präsenz des Romanischen
H. Deutsch mit schwacher Präsenz des Romanischen
I. Deutsch (Bivio: I/D)
Umfrage zur sprachlichen Eigencharaktersisierung (Furer 2005, 78)

Antwort A auswählten. Das Dorf zählt damit zu einer Region, in der das Rätoromanische nicht nur historisch präsent ist, sondern in der es den „gelebten Kommunikationsraum“ (Krefeld 2004, 19) der Bewohner bis heute maßgeblich prägt.

Umfrage zum sprachlichen Charakter der rätoromanischen Gemeinden (Quelle: Furer 2005, 78, Karte 12)

3.2. Ein gelebter Kommunikationsraum mit Märchenerzähler, Bergführer, Bäckerin und Müller

Die „Aktivferien“, wie sie von der Lia Rumantscha genannt werden, zielen darauf ab, den Familien und insbesondere den Kindern für die Dauer einer Woche einen ‚erlebten‘ rätoromanischen Kommunikationsraum zu bieten, d.h. ein temporäres Glossotop, in dem sämtliche kommunikativen Austausche in der ‚eigenen‘ Sprache funktionieren. Sie fanden im Anschluss an das 2008 noch rein privat organisierte Projekt drei Jahre infolge in Vignogn statt:

Zeitraum Teilnehmer
27. - 31. Juli 2009 8 Familien
26. - 30. Juli 2010 k.A.
25. - 29. Juli 2011 12 Familien
Rätoromanische Sommercamps 2009-2011

Der Begriff des gelebten Kommunikationsraumes bezeichnet die subjektive Raumwahrnehmung aus der Perspektive des individuellen Sprechers, womit der Raum „nicht mehr als objektiv vergebener Rahmen betrachtet, sondern als Produkt seiner interagierenden Bewohner“ (Krefeld 2004, 20) aufgefasst wird (vgl. dazu auch Tacke 2015, 166-172 und Tacke 2016, 5f.). Der Krefeld’sche Ausdruck (vgl. auch Krefeld 2002) übersetzt das aus der französischen Geographie stammende Konzept des espace vécu. Frémont (1974, 231) begründet ihn wie folgt:

L’espace, la région, les lieux ne peuvent plus être considérés tout à fait comme des réalités objectives que le géographe examine sous le regard froid de la science. La région est aussi, elle est peut-être même essentiellement une réalité vécue, c’est-à-dire perçue, ressentie, chargée de valeurs par les hommes. De là, l’angle sous lequel les géographes apprécient ‚normalement‘ les combinaisons régionales doit-il être lui-même réévalué. De nouvelles recherches s’intéressent ainsi particulièrement au ‚perçu‘ ou au ‚vécu‘, aux rapports psychologiques entre les hommes et les lieux, révélateurs plus délicats mais aussi plus fidèles d’une réalité plus globale que celle qui est couramment prise en compte par une géographie dite ‚objective‘.

Bei der Gestaltung der „Aktivferien“ steht in diesem Sinne das Erlebnis im Vordergrund: „scuvrir cun tut ils senns lur lingua materna“ („mit allen Sinnen ihre Muttersprache entdecken“) (LR 2011b). Sie umfasst daher nicht nur die Wahl eines Ortes der Kern-Rätoromania, wo sämtliche, auch öffentliche, Manifestationen von Sprache (linguistic landscape, vgl. Tacke 2015, 159-165 sowie Tacke 2017) die räumliche Präsenz des Rätoromanischen markieren, sondern auch das die sprachliche Interaktion maßgeblich prägende personelle Umfeld wurde entsprechend sorgsam ausgwählt: „Alle LeiterInnen sind romanischer Muttersprache. Auch die Gäste (Märchenerzähler, Bergführer, Bäckerin und Müller) sprechen eines der romanischen Idiome“ (LR 2009b). Schließlich gilt dies auch für sämtliche Aktivitäten5, welche die Romanischwoche strukturieren. Die Sprache soll benutzt werden „beim Klettern auf dem Oberalppass oder beim Baden im See Davos Munts, beim Wandern in der näheren Umgebung, beim Brotbacken in der Mühle von Morissen und im Kontakt mit den Einheimischen“ (ebd.). Während also die Kommunikation der Diaspora-Familien „mit unbekannten (anonymen) Kommuniksationspartnern“ an ihren Wohnorten außerhalb der ‚angestammten‘ Rätoromanischgebiete „an Varietäten der territorial implementierten Staatssprache gebunden [ist]“ (Krefeld 2004, 40), d.h. meist an das Deutsche, so wird in Vignogn für eine Woche ein kommunikativer Raum geschaffen, der zeigt, dass die ‚eigene‘ Sprache mit allen möglichen Kommunikationspartnern verwendet werden kann. Dass es genau darum geht, die ökolinguistischen Bedingungen für einen über den familiären Nächstbereich hinausreichenden Kommunikationsraum zu schaffen, wird besonders deutlich, wenn es heißt, den Kindern solle aufgezeigt werden, „dass die romanische Sprache nicht nur ihren festen Platz in der eigenen Familie hat, sondern vor allem eine gelebte Sprache ist, die in vielen verschiedenen Lebenssituationen ihren Platz hat“ (ebd.).

Deutschsprachige Presse (links: Engadiner Post, 20.02.2010; rechts: Bündner Tagblatt, 14.03.2011)

Romanischsprachige Presse (links: La Pagina da Surmeir, 25.02.2009; rechts: La Quotidiana, 15.03.2011)

Dahinter steckt das Spracherwerbskonzept der Immersion (< lat. immersio ‘Eintauchen’), das in den Texten der Lia Rumantscha immer wieder in der Formel „ein ‚Bad‘ in der romanischen Sprache und Kultur nehmen“ (LR 2009b; vgl. den Werbeflyer [Abb. 1]: „far in ‚bogn‘ en la lingua“) vorkommt. In einem einsprachigen Umfeld sind die größten Lernerfolge zu erwarten. Entsprechend wird in Bezug auf die teilnehmenden Kinder immer wieder auf das Ziel, die Sprachkompetenz zu verbessern, verwiesen (Werbeflyer: „la pussaivladad d’intensivar las abilitads linguisticas rumantschas“), was auch durch Sprachkurse, konkret in Form von „Kursteilen mit didaktisch immersivem Hintergrund und einem (spielerisch) lustvollen Rahmenprogramm“ (LR 2010a) sichergestellt werden soll.

Die in den Jahren 2009-2011 angebotenen „Aktivferien“ hatten entsprechend stets dasselbe Wochenmotto („moto da l’emna“), wie den Teilnehmern per Brief mitgeteilt wurde: „udir, chapir, e discurrer rumantsch“ („Romanisch hören, verstehen und sprechen“, LR, Elternbrief, 15.07.2009). Um dies zu erreichen, formulieren die Organisatoren bestimmte Regeln, die man als ‚sprachliche Raumnormen‘ (vgl. Tacke 2015, 2f.) bezeichnen könnte: Einerseits wird an die Bereitschaft zur sprachlichen Mitwirkung der Eltern appelliert: „Nus empruvain da far quai consequentamain ed essan natiralmain era dependents da vossa cooperaziun e voss engaschament“ („Wir versuchen dies [= Romanisch sprechen] konsequent zu tun und sind natürlich von Ihrer Mitarbeit und Ihrem Engagement abhängig“) (ebd.). Andererseits wird dies noch expliziter in Form von „Reglas“ (LR 2010a) bzw. „Cunvegnas“ (LR 2011a) kodifiziert: Neben Vorschriften zum Zubettgehen, zur Kinderbeaufsichtigung und zur Reinigung von Toiletten und Duschen durch die Familien heißt es im Duktus einer ‚Ist-Norm‘: „I vegn discurrì tant sco pussaivel rumantsch“ („Es wird so viel wie möglich Romanisch gesprochen“).

Interessant ist die Idee, dass das Brechen der Regel für die Kinder, welche ja mit unterschiedlichen sprachlichen Kompetenzen in das „Bad“ geworfen werden, begrenzt werden soll auf einen einzigen Gesprächspartner, um das Glossotop ansonsten homogen rätoromanisch zu halten: „Eine Marionette begleitet die Kinder durch die Woche und kann bei Bedarf von einer Sprache in die andere übersetzen“ (LR 2009b).

4. Schluss

Die hier beschriebenen alpenromanischen Sommercamps sind bzw. waren der Versuch, die Folgen der schweizerischen Binnenmigration zumindest teilweise, d.h. konkret: zeitweise, zu kompensieren. Moderne Sprachplanungskonzepte zielen im Fall von durch schwindende Sprecherzahlen bedrohten Sprachen darauf ab, Sprachwechseltendenzen umzukehren, indem die ökolinguistischen Bedingungen der Sprachverwendung zugunsten der zu bewahrenden Sprache modifiziert werden. Das Territorialitätsprinzip, das in der Schweiz angewendet wird, verhindert eine solche Einflussnahme, wenn es um die in der Diaspora lebenden Rätoromanen geht. Vor diesem Hintergrund stellt das Sommercamp ein sprachplanerisches Kuriosum dar, denn mit ihm wurde in den Jahren 2009-2011 ein kommunikativer Raum geschaffen, der eben eine solche ökolinguistisch gezielt gestaltete Umgebung für eine kleine Anzahl von Familien in zeitlich begrenzter Weise bereitstellte.

Bibliographie

  • Frémont 1974 = Frémont, Armand (1974): Recherches sur l’espace vécu, vol. L'Espace Géographique, 3, 231-238.
  • Furer 2005 = Furer, Jean-Jacques (2005): Eidgenössische Volkszahlung 2000. Die aktuelle Lage des Romanischen, Neuchâtel, Bundesamt für Statistik.
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  • Krefeld 2003 = Krefeld, Thomas (2003): Geschichte der Reflexion über die romanischen Sprachen: Friaulisch, Ladinisch, Bündnerromanisch, in: Ernst, Gerhard (Hrsg.), Romanische Sprachgeschichte, vol. 1, De Gruyter, 197-208.
  • Krefeld 2004 = Krefeld, Thomas (2004): Einführung in die Migrationslinguistik. Von der Germania italiana in die Romania multipla, Tübingen, Narr.
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  • LR 2010b = Rumantscha, Lia (2010): Medienmitteilung (Romanisch-Sprachkurs für Familien im Sommer).
  • LR 2011a = Rumantscha, Lia (2011): Projektbeschreibung.
  • LR 2011b = Rumantscha, Lia (2011): Jahresbericht 2011, http://www.liarumantscha.ch/uploads/files/2011.pdf, Lia Rumantscha.
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  • Tacke 2016 = Tacke, Felix (2016): La dimension éthologique de la «territorialité linguistique», in: Les Cahiers du GEPE, vol. 8 (Langue(s) et espace; langue(s) et identité).
  • Tacke 2017 = Tacke, Felix (2017): Minderheitensprachen und Öffentlichkeit, in: Europäisches Journal für Minderheitenfragen, vol. 10, 3-4, 190-207.
Für die Zusendung all dieser Materialien möchte ich mich herzlich bei der Lia Rumantscha bedanken.
Zu den Sprachbezeichnungen s. Krefeld (2003).
Zum Begriff der ‚historischen Präsenz‘ einer Sprache gegenüber ihrer ‚aktuellen Präsenz‘ vgl. Tacke (2015, 208-216).
Für eine Begriffsgeschichte und die Übertragung des Konzeptes auf sprachliche Zusammenhänge s. Tacke (2015, Kap. 4).
Zu Veranschaulichung, s. hier zwei Fotos von 2011: im Wald (en il guaud), in der Alpkäserei (chascharia).

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